Kitabı oku: «Phantombesuch», sayfa 2

Yazı tipi:

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Manuel saß am nächsten Morgen todmüde am Esstisch und versuchte sich auf seine Kinder zu konzentrieren. Lois und Selina texteten ihn zu, und zwar beide gleichzeitig. Keiner von beiden schien eine Antwort zu erwarten. Sie plapperten fröhlich vor sich hin. Also reichte es vollkommen aus zu lächeln, was für Manuel schon anstrengend genug war. Die meiste Zeit verbrachte er sowieso damit, seine Elena beim Werkeln in der Küche zu beobachten. Sie richtete die Vesper für die Kinder und sah wahnsinnig süß dabei aus. Ihre blonden Haare waren völlig verstrubbelt und es hingen ihr mehrere Strähnchen ins Gesicht, die sie immer wieder genervt wegblies. Trotz der kurzen Nacht – nein, nicht die Nacht war kurz, sondern die Schlafzeit der beiden war etwas dürftig ausgefallen, weil sie einfach kein Ende finden konnten – sah Elena zum Anbeißen aus. Immer wieder fielen sie wie vollkommen ausgehungert übereinander her, als ob Manuel für ein ganzes Jahr verreisen würde. Elena hatte ein sehr dünnes Nachthemdchen an und die Zeit schien nicht gereicht zu haben, um die kleinen goldenen Knöpfchen zu schließen. Ein Glück für Manuel, denn immer wieder bekam er einen tollen Einblick in ihr Dekolleté geboten und wenn sie sich umdrehte und etwas aus dem Kühlschrank herausholte, schmiegte sich der hauchdünne rosa Stoff eng um ihre Pobacken. Meine Güte und ich soll mich hier auf ein Gespräch mit meinen Kindern konzentrieren können, dachte er verzweifelt. Wie gerne würde er aufstehen, sie schnappen, in den ersten Stock hochtragen und für Stunden – vielleicht sogar für den Rest des Tages – mit ihr zusammen dort bleiben. Sie war so schön, so besonders.

Mit Schrecken dachte er nochmals über die Szene vom gestrigen Abend nach. Wie würde es um ihre Ehe stehen, wenn Elena sich tatsächlich so verhalten würde? Vorwurfsvoll, verständnislos, eigene Bedürfnisse anmeldend und Ansprüche an ihn stellend, die sein berufliches Treiben massiv beeinträchtigen würden. Gott sei Dank war es nur ein Schauspiel gewesen – ein Scherz. Somit konnte er heute wieder wie gewohnt glücklich, sorgenfrei und beschwingt – sich ganz auf sein Ziel konzentrierend – losziehen, um erneut einen großen beruflichen Schritt nach vorne zu machen. Das wäre doch ein tonnenschweres Päckchen, das er mitschleppen müsste, wenn er mit solchen Vorwürfen im Ohr und einer beleidigten Ehefrau im Herzen von dannen ziehen müsste. Elena ist einfach großartig und einzigartig – sie ist mein persönlicher Sechser im Lotto, stellte Manuel glücklich fest. Ihr gemeinsames Leben war manchmal wirklich allzu perfekt.

Was hatte Elena heute Nacht wieder einmal – wie schon so oft – in sein Ohr geflüstert? „Ich hab so Angst, dass etwas Schreckliches passiert. Es ist alles viel, viel zu schön, um wahr zu sein. So kann es doch nicht für immer bleiben!“

„Ich werde mir die größte Mühe geben, meine Süße, dass es für immer und ewig so bleibt“, hatte er voller Inbrunst geantwortet.

Der Abschied war wie immer, wenn er für längere Zeit verreiste. Sie drückten und küssten sich innig – immer und immer wieder. Er wendete sich ab zum Gehen, kam wieder einen Schritt zurück und alles ging von vorne los. Es war jedes Mal das gleiche Spielchen und die Kinder machten sich mit ihren vier und sechs Jahren schon lustig über dieses Ritual. Sie sahen sich lange und intensiv in die Augen und Elena wünschte ihm alles Glück der Welt. „Ich werde in Gedanken bei dir sein, mein Schatz, und bitte melde dich, sobald du eine Gelegenheit dazu hast. Ich bin so gespannt. Lass mich nicht zu lange schmoren.“

Jetzt musste er sich wirklich gewaltsam loseisen, denn sein Flugzeug würde nicht auf ihn warten. Er musste die Kinder unterwegs noch abladen und bis zum Flughafen hatte er bei guten Verkehrsverhältnissen mindestens eine halbe Stunde Autofahrt vor sich. Manuel strich Elena die lästigen Haarsträhnchen aus dem Gesicht, sah ihr nochmals tief in die Augen und bedeckte ihr ganzes Gesicht mit Küssen. Dann gönnte er sich noch einen verschmitzten Blick in ihr Nachthemd und wurde dafür ordentlich gekniffen. „Pass gut darauf auf!“

„Du bist ein alter Lustmolch!“

„Was ist ein Lustmolch?“, fragte Selina neugierig.

„Komm, ich erkläre es dir im Auto, Maus“, sagte Manuel und zog die Kleine mit einem Augenzwinkern zum Auto.

Unmöglicher Kerl, dachte Elena selig, als sie ihm nachsah, wie er fröhlich mit ihren Kindern Spaß machte und mit beiden an der Hand zur Garage rannte. Es ist alles so schön, so perfekt, so unnatürlich, überirdisch einmalig. Wie komme ich zu diesem unverschämten Glück? Alle meine Freundinnen schlagen sich mit Partnerschaftsproblemen und zum Teil großen Schwierigkeiten mit ihren Kindern herum. Bei mir läuft alles wie von selbst – so entspannt, so unkompliziert. Wenn es einmal ein Problem – besser gesagt ein Problemchen – gibt, wird es schnell, vernünftig und zur Zufriedenheit aller Beteiligten gelöst. Meine Kinder bocken äußerst selten. Die beiden sind meistens fröhlich, brav und wenn etwas geklärt werden muss, akzeptierten sie normalerweise ohne größere Diskussionen die vorgegebenen Regeln, dachte Elena dankbar.

Es war nicht so, dass die Kleinen keine eigene Meinung hatten oder äußern durften, aber sie ließen sich mit vernünftigen Argumenten eines Besseren belehren. Lois und Selina verhielten sich sehr höflich, rücksichtsvoll, hilfsbereit und mitfühlend gegenüber Dritten. Das Verhaltensmuster war exakt das, wie es Elena und Manuel ihnen vorlebten. Im Kindergarten wurden die beiden sehr oft gelobt und als leuchtende Vorbilder angepriesen.

„Das kann ja nicht immer so bleiben. Ich fürchte mich sehr – dieses makellose Glück ist mir unheimlich, Manuel“, hatte Elena erst neulich wieder geklagt.

„Wir können uns ja gerne Probleme anschaffen, wenn du unbedingt welche möchtest oder zu deiner Beruhigung brauchst“, hatte Manuel sie lachend geneckt. „Du hast ja auch sehr lange an einen Haken in unserer Beziehung geglaubt. Du hast immer darauf gewartet, dass ich endlich mein wahres, also mein böses Gesicht zeige. Und? Wartest du immer noch oder hast du es endlich aufgegeben?“

Er hatte ja recht. Eigentlich sollte sie jeden Tag, jede Stunde, jede Minute und Sekunde einfach nur genießen. Wenn ein Elend über sie hereinbrechen sollte, würde es ausreichen, sich erst dann verrückt zu machen. Es war schon ziemlich dumm, sich gute Zeiten mit ängstlichen Gedanken wie „Was ist, wenn …“ zu verderben. Manuel hatte recht – wie immer! Er war so klug – sie liebte ihn so sehr. Er war ihre Luft zum Atmen, er war ihre wärmende Sonne! Oh, das hört sich schon sehr kitschig an – fast schon poetisch, stellte Elena schmunzelnd fest. Übertreibe ich mit meinen Empfindungen? Idealisiere ich unsere Beziehung zu sehr? Nein, beschloss Elena mit voller Überzeugung, alles ist genau so, wie ich es gerade gedacht habe. Meine Liebe zu Manuel ist definitiv so groß und intensiv! Und deswegen schrieb sie diesen Satz auch genau so als Nachricht an Manuel – mit vielen Herzen und Kussmund. So, jetzt aber ans Werk, Frau Schrader! Der Haushalt erledigt sich nicht von allein und einkaufen sollte ich auch noch ganz dringend.

In Windeseile, fröhlich und mit lauter Musik, die durch das ganze Haus dröhnte, erledigte sie alles, was sie sich für diesen Morgen vorgenommen hatte. Dann machte sie sich schick und schließlich auf den Weg zum Einkaufen. In der Garage angekommen, stellte sie fest, dass sie ihren Einkaufszettel in der Küche vergessen hatte. „Ja, wer es nicht im Kopf hat, der muss es in den Beinen haben“, murmelte sie belustigt. Auf dem Weg in die Küche schaute sie nochmals auf ihr Handy, ob Manuel auf ihre Nachricht geantwortet hatte. Nein, hatte er nicht, stellte sie enttäuscht fest. Bestimmt saß er schon im Flugzeug neben einem ach so wichtigen Menschen, mit dem er sich ernsthaft und äußerst fachmännisch unterhalten musste. Als Elena wieder aus dem Haus kam, erschrak sie beim Anblick der zwei Polizisten, die auf sie zukamen. Sie sah sie fragend an und war sich sicher, dass sie sich im Haus geirrt hatten.

„Frau Schrader, Elena Schrader?“

„Ja, das bin ich“, sagte sie noch mit fester Stimme und dachte, dass die beiden wenigstens guten Tag sagen könnten. Aber vielleicht ist es ja kein guter Tag mehr, dachte sie plötzlich, von einer schrecklichen Ahnung erfasst.

Dann baten die beiden Herren darum, ins Haus eintreten zu dürfen. Elena führte sie ins Wohnzimmer, während sich eine starke Unruhe und Hitze in ihrem Bauch ausbreitete und ihr Kopf zu glühen anfing. Das alles geschah innerhalb weniger Sekunden. Sie spürte regelrecht, dass von den beiden Uniformierten etwas Schreckliches, etwas Vernichtendes kommen würde. Etwas, das sie vollkommen aus der Bahn werfen könnte. Sie sollen wieder gehen! Geht doch einfach wieder, wollte Elena am liebsten laut schreien. Ich will das nicht. Ich will nichts von euch hören – kein einziges Wort dürft ihr sagen, wehrte sie sich innerlich ganz verzweifelt. Aber sie sah, wie der Mund des kleinen, dicken Polizisten sich zu bewegen begann. Er sprach wohl schon – sie sollte ihm zuhören.

„… es war eine schlimme Massenkarambolage. Er war sofort tot.“

Das hörte Elena, als sie wieder in der Lage war, sich auf das Gesprochene zu konzentrieren. „Wer war sofort tot?“, hörte sie sich fragen.

„Ihr Mann, Frau Schrader. Sie sagten doch, Sie seien Elena Schrader.“

„Mein Mann sitzt im Flugzeug nach Berlin. Es kann sich hier nur um eine Verwechslung handeln.“

„Es ist auf dem Weg zum Flughafen zu einem schlimmen Unfall gekommen. Wir wissen noch nicht, warum es dazu kam. Es tut uns wahnsinnig leid, Ihnen so eine Nachricht überbringen zu müssen. Gibt es jemanden, den wir für Sie anrufen können? Sie sollten jetzt nicht alleine sein.“

„Meine Schwester, Julia“, hörte Elena sich antworten. Es war, als ob sie neben sich stehen und sich selbst beobachten würde. Es war alles so gespenstisch. Nein, sie träumte sicher nur und würde gleich aufwachen. Bestimmt! Manuel war ein sehr guter und sicherer Autofahrer.

„Könnten wir bitte die Nummer Ihrer Schwester haben? Dann rufen wir sie an.“

Wie ferngesteuert nahm sie das Handy aus ihrer Tasche und schaute nochmals nach, ob Manuel geantwortet hatte. Vielleicht hatte er es sogar gerade eben getan. Dann hätte sie einen handfesten Beweis, dass es sich hier nur um eine Verwechslung handeln konnte. Aber nein, da war keine Nachricht. Ihre Hände zitterten unkontrolliert. Ihre Beine fühlten sich an, als ob sich sämtliche Knochen langsam in weichen Schleim verwandeln würden. Dann wurde es schwarz um Elena.

3

Sie wachte auf dem Sofa liegend mit unbeschreiblichen Kopfschmerzen wieder auf. Oje, habe ich zu viel getrunken?, dachte sie amüsiert. Soll ja in den besten Familien vorkommen. Sie startete einen neuen Versuch, die Augendeckel nach oben zu hieven. Aua, verflixt, das schmerzt aber sehr. Das muss verdammt viel Alkohol gewesen sein. Wie peinlich! Ich lasse mich als Vorbild volllaufen! Das ist doch nicht mein Stil, stellte sie betrübt fest.

„Sie wird wach“, sagte eine Stimme. Eine vertraute Stimme. Das hörte sich sehr nach Julia an. Was um Himmels willen hatte Julia mit ihrem Zustand zu tun?

„Elena?“ Eine Hand legte sich auf ihre Stirn und Elena dachte, das müsse King Kongs Hand sein – wie schwer war die denn? Also, ich brauche jetzt klare Verhältnisse, beschloss Elena tapfer. Sie gab sich einen großen Ruck und schaffte es, unter massiver Anstrengung die Augen zu öffnen. Tatsächlich, da stand Julia. Aber warum hatte sie ein tränenüberströmtes Gesicht? Julia war normalerweise keine Heulsuse. Ganz im Gegenteil, sie war sehr hart im Nehmen. Wie oft hatte sie früher die Jungs damit beeindruckt. Julia war eine ganz Coole.

„Elena? Wie fühlst du dich?“

„Ich hoffe, die Sause war es wert, dass ich mich so fühle, wie ich mich fühle“, scherzte Elena.

„Sie ist von der Spritze noch ganz benebelt“, sagte eine fremde Stimme hinter ihr.

Elena versuchte den Kopf zu drehen, um nachzusehen, wer so einen Mist redete. Spritze? Was für eine Spritze denn? Sie schaute sich langsam um – fast im Zeitlupentempo drehte sie ihren Kopf in alle Richtungen. Dabei musste sie deutliche Einschränkungen in Kauf nehmen, denn ihr Vorhaben, sich Klarheit zu verschaffen, war sehr schmerzhaft. Ja, das war ihr Wohnzimmer und sie lag auf dem Sofa, auf dem sie gestern Abend mit Manuel … Manuel, da war doch etwas. Was war mit Manuel? Sie strengte sich sehr an, um einen klaren Gedanken fassen zu können, aber es wollte ihr nicht gelingen. Wo waren die Kinder? Was war hier los?

„Spritze?“, fragte sie leise. Mehr schaffte sie nicht zu sagen.

„Elena, es ist etwas Schreckliches passiert. Du bist zusammengebrochen, weil – weil Manuel verunglückt ist. Er ist tödlich verunglückt, Elena.“

Mühsam versuchte sie, das Gesagte in ihrem Kopf ankommen zu lassen und einzusortieren. Es fühlte sich an, als ob ihr Kopf in Watte gepackt wäre. Sie hatte es gehört, sie hatte es verstanden – aber die Worte lösten nichts in ihr aus. Sie konnte deren Inhalt nicht realisieren. Tot, Manuel war tot. Das hatte Julia gerade eben gesagt. Sie schloss die Augen wieder, weil sie nicht mehr imstande war, diese noch länger geöffnet zu halten.

„Lassen wir sie noch ein bisschen schlafen. Gönnen wir ihr noch eine kleine Pause“, sagte die fremde Stimme.

Elena strengte sich sehr an, nicht wieder einzuschlafen. Manuel tot, Manuel tot, hämmerte es in ihrem Kopf. Schließlich gab sie dem Drang nach und schlief mit dem Gedanken ein, dass Manuel, wenn sie aufwachte, bestimmt wieder bei ihr sein würde.

Elena erwachte erneut, aber Manuel war dennoch nicht bei ihr. Ihre Schwester war aber immer noch da. Sie hielt ihre Hand und war wohl vor Erschöpfung eingeschlafen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Elena wirklich munter war und einigermaßen klar denken konnte. Aber was ihr dabei einfiel, war eine Katastrophe und durfte nicht wahr sein. Mehr und mehr drang die Wahrheit in ihr Bewusstsein. Sie wollte Julia nicht wecken, sie wollte nicht reden müssen – es war totenstill im Zimmer. Bei dem Wort „totenstill“ konnte Elena sich nicht mehr beherrschen und es brachen alle Dämme auf einmal. Elena schluchzte, zitterte und ließ den Tränen freien Lauf. Erschrocken fuhr Julia aus ihrer Schlafposition hoch, sammelte sich aber sofort und nahm Elena fest in den Arm. Sie sagte nichts. Sie wusste genau, dass es keine Worte gab, die Elena den Schmerz hätten nehmen oder auch nur lindern können.

„Die Kinder sind bei Irina und Max“, flüsterte Julia. Dann drückte sie Elena nur noch wortlos an sich und spürte selbst einen unbeschreiblichen Schmerz in der Brust.

„Es war zu perfekt, einfach zu perfekt“, presste Elena unter großer Mühe hervor. Das war der einzige Satz, den sie an diesem Abend sprach.

Keine der beiden hätte am nächsten Tag sagen können, wie sie die Nacht überlebt hatten. Irgendwann war sie zu Ende. Es herrschte die ganze Zeit absolute Stille. Außer ihren Atemgeräuschen und immer neuen Wein- und Schluchzattacken war nichts zu hören. So war es gut, stellte Elena am nächsten Morgen fest, als immer mehr Menschen sich in ihrem Haus versammelten. Alle wollten ihr beistehen. Alle hatten Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Ihre Eltern, ihre Freundinnen, Manuels Freunde, Kollegen aus der Klinik, ja sogar Nachbarn wollten helfen. Die Nachricht von Manuels Tod hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Alle waren fassungslos, hilflos und tief betroffen. Die einen gingen gleich wieder, andere blieben länger und es kamen immer neue Menschen dazu. Elena fühlte sich, als ob sie in einem Käfig oder Schaufenster sitzen würde und eine besondere Attraktion sei. Verstohlen richteten sich die Blicke auf sie, bis sie es nicht mehr aushielt. Sie stand einfach auf und ging aus dem Haus. Julia rannte ihr hinterher. „Wohin gehst du, Elena?“

„Ich will zu meinen Kindern. Ich fahr zu Irina und Max.“

„Ich fahre dich.“

„Ja, das wäre gut.“

Irina öffnete die Tür – auch sie hatte ganz verweinte Augen. Ihr schlichtes „Es tut mir leid“ und „Ich bin jederzeit für dich da“ taten Elena gut. Keine große Reden und leeren Versprechungen, dass es schon wieder gut werden und der Schmerz sicher bald nachlassen würde. Nur einfache, ehrlich gemeinte Worte und eine herzliche Umarmung. Das reichte völlig aus.

„Lois und Selina sind oben bei Leon im Zimmer. Ich habe ihnen noch nichts gesagt, aber wenn du mich dabeihaben möchtest, stehe ich dir gerne zur Seite.“

„Kann ich sie im Wohnzimmer sprechen und ihr beide haltet euch bitte in der Küche bereit für den Fall, dass ich es nicht packe?“

„Ja, so machen wir es. Ich hole die beiden.“

Elena war nicht in der Lage, richtig zu denken. Zu fühlen, erlaubte sie sich nicht, denn sie wollte – musste für ihre beiden Kinder stark sein. Ihr war nur zu klar, dass sie das nicht mehr sein konnte, wenn sie es nicht schaffte, ihre Gefühle zu unterdrücken. Sie registrierte aber trotzdem, wie gut ihr Julias und Irinas Art, mit dieser Situation umzugehen, tat. Schlicht und einfach, keine großen Worte, kein „Oh, du Arme“ oder „Die armen Kinder“. Sie schauten ihr beide in die Augen, wenn sie mit ihr redeten, ansonsten waren sie einfach nur da – still, aber da.

Selina und Lois stürmten freudig auf sie zu und drückten sie. „Warum hast du uns von der Überraschung nichts erzählt? Es war so toll und hat echt Spaß gemacht. Wir haben so viel gespielt – Samira hat immer so tolle Ideen. Ich möchte auch eine große Schwester, Mami“, schnatterte Selina.

„Selina, Lois, ich muss euch etwas sagen.“

Erst jetzt schauten die beiden ihre Mama richtig an und man konnte an ihren erschrockenen Gesichtszügen erkennen, dass sie bemerkt hatten, dass mit ihrer Mami etwas nicht stimmte. Jetzt hatte Elena die volle Aufmerksamkeit ihrer Kinder.

„Es ist etwas sehr Schlimmes passiert. Ich werde euch sehr, sehr wehtun mit dem, was ich euch jetzt sagen muss.“

Beide sahen sie mit großen, ängstlichen Augen an. Keiner der beiden sagte einen Ton und keiner bewegte sich – keinen einzigen Millimeter.

„Euer Papa ist …“

Selinas Augen füllten sich bereits mit Tränen. Sie war schon immer ein sehr sensibles Kind gewesen, aber dass sie mit ihren sechs Jahren so schnell eine Tragödie erspürte, war bemerkenswert. Sie fixierte ihre Mama mit einem verzweifelten, aber auch wissenden Blick. Selina nickte Elena leicht zu, als ob sie ihr Mut zum Reden machen wollte.

„Papa ist verunglückt. Er hat nicht … Er ist …“

„… verletzt“, sagte Lois. „Ist er von einem Krankenwagen abgeholt worden? So richtig mit Blaulicht? Besuchen wir ihn gleich?“

Zusammenreißen, reiß dich zusammen, Elena! „Nein, Lois, Papa durfte nicht in einem Krankenwagen mitfahren. Papa ist nicht im Krankenhaus. Papa ist im Himmel. Die Engelchen haben ihn zu sich geholt, mein Schatz.“

Selina fing an zu weinen. Lois sah Elena noch immer mit großen, unverständigen Augen an. „Du meinst, er ist da oben im Himmel?“

„Ja, mein Schatz. Er schaut bestimmt gerade auf uns herunter.“

„Das will ich aber nicht!“, schrie Selina plötzlich mit einer ganz hysterischen, fremden Stimme. Sie fing an zu zittern und ließ sich einfach auf den Boden fallen. Sie wälzte sich hin und her und gab animalische Töne von sich, die Lois so sehr erschreckten, dass er sich ganz eng an seine Mama klammerte. Gott sei Dank kamen Julia und Irina in diesem Moment ins Zimmer und übernahmen die Führung. Elena war am Ende ihrer Kräfte und brauchte selbst Hilfe. Zusammenreißen ging nicht mehr. Sie knickte ebenfalls ein, klammerte sich an Selina und die beiden ließen ihren Gefühlen freien Lauf. Lois war geschockt – er war wie paralysiert und konnte das alles nicht begreifen. Papa war plötzlich im Himmel, seine Mami und seine Schwester hockten weinend auf dem Boden und beide schrien furchtbar laut. Mama versuchte nach ihm zu greifen, um ihn an sich heranzuziehen. Das erschreckte Lois aber so sehr, dass er einen Schritt nach hinten machte und stürzte. Jetzt fing auch er an zu weinen und Irina beschloss spontan, das Wohnzimmer mit dem Kleinen zu verlassen.

Julia kniete sich auf den Boden und nahm ihre Schwester und ihre Nichte fest in den Arm. Sie schaukelte sie sanft hin und her, überließ sie aber ansonsten, ohne ein Wort zu sagen, ihren Gedanken und ihrem Schmerz. Irgendwann fragte Julia fast flüsternd: „Sollen wir langsam nach Hause fahren oder möchtet ihr lieber hier schlafen? Irina hat es angeboten.“

Ohne lange zu überlegen, sagte Elena: „Ich möchte gerne nach Hause, aber die Menschen sollen bitte alle weg sein. Kannst du dafür sorgen?“

Julia nickte. „Sie sind schon alle weg.“

„Wirklich alle?“

„Ja, Elena. Ich dachte mir schon, dass du nach Hause und dort alleine mit deinen Kindern sein möchtest.“

„Julia, es wäre wirklich lieb, wenn du bleiben könntest. Ich weiß, es ist viel verlangt. Du hast selbst eine Familie zu versorgen …“

„Mama kümmert sich um alles. Ich bleibe!“, unterbrach Julia ihre Schwester.

„Danke!“ Elena versuchte aufzustehen, aber sie schaffte es nicht allein. Ihre Knie zitterten so sehr, dass sie sofort wieder einknickte.

Selina hatte alles wie aus weiter Ferne gehört und bewegte sich keinen Millimeter, doch als ihre Mama zusammensackte, kam Leben in ihren Körper. Sie hatte sich sehr erschrocken. „Mama, was ist los? Ist dir schlecht?“

„Nein, mein Schatz, es geht schon wieder.“

Elena erhob sich mit Julias und Irinas Hilfe, die inzwischen ebenfalls im Wohnzimmer stand, und ließ sich zum Auto führen. Julia und Irina nahmen jeweils ein Kind an die Hand. Max, Leon und Samira standen völlig hilflos an der Haustür, getrauten sich aber nicht, irgendwas zu sagen. Max dachte, dass er noch nie so ein trauriges Bild gesehen hatte, und er ärgerte sich sehr über seine Unfähigkeit, etwas Vernünftiges oder Hilfreiches zu sagen.

Irina drückte die drei, sah Elena tief in die Augen und sagte: „Tag und Nacht – du weißt es!“

Zu Hause angekommen, schloss Julia die Haustür auf und wartete darauf, dass die drei ins Haus gingen. Aber sie standen da, als ob vor ihnen eine unsichtbare Wand wäre, durch die sie nicht gehen konnten. „Zurück zu Irina? Oder zu uns nach Hause? Auch Papa und Mama haben angeboten, euch aufzunehmen.“

„Nein, gib uns nur noch einen kleinen Moment.“

Irgendwann setzten sie sich dann, ganz eng aneinandergedrückt, in Bewegung. Bei diesem Anblick schnürte es Julia den Hals zu. Einen guten Schritt im Haus und sie stockten wieder. Wahrscheinlich war es Elenas Rhythmus, aber die Kinder passten sich ihren Bewegungen an. Elena drückt die beiden so eng an sich, dass es sie sicher schmerzen muss, dachte Julia. Sie sah an Elenas völlig verkrampften Händen die weißen Knöchel hervortreten. Ihre Schwester sah sich um, als ob sie dieses Haus das erste Mal in ihrem Leben betreten würde. Ganz langsam schaffte es Julia, die drei ins Wohnzimmer zu schieben. Sie sorgte dafür, dass sie sich auf die Couch setzten. Dann ging sie in die Küche, um Tee zu kochen und etwas zum Essen herzurichten.

„Papa ist immer viel zu schnell gefahren, Mami. Warum hat er nicht auf dich gehört?“ Selina sah ihre Mama mit großen Augen an.

Elena suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. „Selina, es steht noch gar nicht fest, ob dein Papi zu schnell gefahren ist. Das wird die Polizei noch herausfinden.“

Es herrschte wieder Stille.

„Jetzt ist er bei meiner Einschulung nicht dabei“, sagte die Kleine weinend.

Julia drückte ihre Nichte ganz fest an sich. „Nein, Selinchen, und wir alle sind sehr traurig deswegen. Aber alle anderen Familienmitglieder werden bei dir sein.“

Elena konnte sich nicht mehr zurückhalten. Ihr heftiger Ausbruch erschreckte die Kinder wieder so sehr, dass Julia mit ihnen nach oben ging. Der Gedanke, Elena alleine zu lassen, gefiel ihr nicht. Aber wahrscheinlich war der Anblick ihrer verzweifelten Mami für die Kinder momentan sogar schlimmer als der Gedanke an den Verlust ihres Papas. Die Nachricht von Manuels Tod konnten sie sicher noch nicht realisieren.

Julia setzte sich im Spielzimmer auf die Matratze und forderte die beiden auf, sich hinzulegen und die Köpfe auf ihren Schoß zu betten. Beide taten wortlos, was Julia gesagt hatte. Dann streichelte Julia ihre Köpfchen ganz sanft, bis ihre Atemzüge ruhiger und gleichmäßiger wurden. Lois und Selina schliefen recht schnell ein und Julia konnte wieder nach ihrer Schwester schauen.

Sie fand Elena immer noch auf der Couch sitzend, aber ihr Körper war ganz verdreht. Sie drückte das Gesicht in das Rückenteil des Sofas – es sah sehr seltsam aus. „Elena?“

„Es riecht so gut, so vertraut. Vorgestern Abend hat Manuel genau hier gesessen.“

„Magst du reden?“

„Was gibt es denn zu reden, Julia? Manuel ist für immer weg – egal was und wie viel ich rede. Er kommt nie wieder! Kannst du dir das vorstellen? Gestern Morgen saß er noch am Frühstückstisch – putzmunter. Und jetzt ist er nicht mehr da.“ Die Tränen kullerten Elena wie eine nicht enden wollende Perlenkette über die Wangen. „Julia, ich wusste, dass etwas passieren würde. Ich wusste es ganz genau. Ich habe es gespürt – schon sehr lange und ich hatte Angst davor. So glücklich, wie wir miteinander waren, so eine beängstigende Übereinstimmung in nahezu allen Lebenslagen und Fragen, so viel Harmonie – das hätte ja unmöglich für immer so bleiben können! Das war mir immer klar. Aber so ein Ende …“ Elena drückte ihr Gesicht wieder in die Sofakissen. „Wie, wie soll ich nur ohne Manuel weiterleben? Julia, ich kann das nicht! Es wird nicht gehen!“

„Du musst. Du hast zwei wunderbare Kinder, für die du verantwortlich bist – sie sind auch Manuels Kinder. Du bist es ihm schuldig. Sie sind aus eurer wunderbaren, einmaligen Liebe entstanden. Sie sind das, was dich für immer mit Manuel verbinden wird. Selina und Lois sind der lebendige Beweis eurer fantastischen Beziehung.“

„Ich werde funktionieren, aber leben werde ich nicht mehr.“

„Die Zeit.“

„Nein, Julia, bitte sag das nicht – auch vergangene Zeit wird nichts daran ändern. Ich will es auch nicht. Ich werde mit diesem Schmerz bis ans Ende meiner Tage leben müssen.“

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22 aralık 2023
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