Kitabı oku: «Auszeit»

Yazı tipi:

Gaby Trippen

AUSZEIT

ROMAN


Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Impressum:

© 2010 Verlag Kern

© Inhaltliche Rechte bei Gaby Trippen (Autor)

Herstellung: Verlag Kern, Bayreuth

Umschlagdesign und Satz: www.winkler-layout.de 1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2012 ISBN 9783944224084

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Widmung

Freitag...

Samstag...

Sonntag...

Montag...

Danksagung...

WEITERE ROMANE UND ERZÄHLUNGEN wie sie spannender nicht sein könnten.

Für Markus

Handlung und Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit wirklichen Begebenheiten und lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind daher rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Freitag...

„Das war‘s!“ Eine Sekunde später fällt die Eingangstür hinter ihm ins Schloss, mit genau dem Geräusch, das sie immer macht, wenn man sie nicht ganz sanft zuzieht. Tausendmal habe ich dieses Geräusch schon gehört, in vielen alltäglichen Situationen: Ich trage einen Karton oder sonst irgendetwas Sperriges oder Herr Schröder zerrt so heftig an der Leine, dass ich nicht mehr dazu komme, die Tür leise zu schließen, damit nur ja nichts das kostbare weiße Holz beschädigt. Richard passiert das eigentlich nie, weil alle seine Bewegungen so kontrolliert und korrekt sind. Wenn er allein in diesem Haus leben würde, bräuchte man es nur alle hundert Jahre einmal zu renovieren, er macht einfach nichts kaputt…

Heute ist es anders. Heute ist die Tür schon fast mit lautem Knall zugefallen. Heute ist alles anders, denn mit diesen Worten hat mein Mann einen Schlussstrich unter 25 Jahre Ehe und 33 Jahre Gemeinsamkeit gezogen…

Ich höre, wie er zur Garage geht, höre, wie sich das automatische Tor öffnet, und wie unmittelbar darauf der Motor angelassen wird. Kurze Zeit später vernehme ich das Klirren von Metall… Ich vermute, er hat seinen Hausschlüssel und die Fernbedienung für die Garage, die in seinem Wagen liegt, in den Briefkasten geworfen. Dann gibt er Gas und fährt unsere kleine Stichstraße hinunter Richtung Hauptstraße.

Und ich stehe im Flur, wie angewachsen an der Stelle, an der ich schon die letzten grauenhaften 20 Minuten gestanden habe, als er in den Keller gegangen ist, einen Koffer vom Schrank genommen und einige Kleidungsstücke hineingelegt hat. Genau habe ich nicht gesehen, was es war, vielleicht ja nur ein paar Freizeitklamotten fürs Wochenende, und das Nötigste zum Waschen? Es ist Freitagabend, und er muss erst am Montag wieder ins Büro und zu einem Kunden - wer weiß, vielleicht ist dieser Alptraum ja am Montag schon wieder vorbei?

Ich stehe immer noch da und starre auf die geschlossene Haustür. Unfähig, mich zu bewegen und überhaupt zu realisieren, was da eben passiert ist. Mein Kopf ist wie in Watte gepackt, völlig leer, das Einzige, was ich spüre, ist mein Herzschlag. Wie lange ich so dastehe, ich weiß es nicht.

Das Erste, was ich wieder bewusst wahrnehme, ist die Fanfare der Tagesschau. Die Nachrichten fangen an, es ist 20 Uhr am Freitagabend, danach kommt „Ein Fall für Zwei“, und sicher kriegt Matula wieder eins auf die Mütze. Es wäre keine richtige Folge, wenn er nicht wenigstens einmal von einem Verdächtigen zusammengeschlagen würde. Richard und ich warten immer schon darauf…

Hinter mir fiept es, zweistimmig. Unsere beiden Hunde, meistens „Mäuse“ genannt, stehen da, schauen mich an, Fräulein Meier tritt von einem Vorderbein aufs andere, wie immer, wenn sie ungeduldig ist und Hunger hat. Herrn Schröder reicht das nicht, er springt an mir hoch, was er eigentlich nicht soll. Normalerweise schimpfe ich auch deshalb mit ihm, aber heute registriere ich es gar nicht.

Was ist bloß passiert? Vor einer halben Stunde noch stand ich in der Küche und bereitete das Abendessen vor, damit wir wie immer freitags pünktlich zur Tagesschau essen können, die Mäuse bekamen wie immer ihr Futter vorher, sie das vegetarische Seniorenfutter, er seine Welpenkost. Richard saß in seinem Büro, checkte ein letztes Mal vor dem Feierabend seine E-Mails, kurz vorher hatten wir noch mit den beiden eine Runde übers Feld gedreht. Es wird Herbst, unverkennbar, die Abende sind kühl, die Bäume haben sich verfärbt, die Ernte ist eingefahren. Ich hatte das erste Mal seit dem Frühjahr meine dicke Strickjacke an, mit gemischten Gefühlen, einerseits Bedauern darüber, dass der Sommer sich wohl endgültig verabschiedet hat und ich bald wieder eingepackt und dick wie ein Marshmallowmann morgens in aller Früh auf dem Feld stehen würde, andererseits auch Vorfreude auf lange Spaziergänge durchs Herbstlaub, kuschelige Abende vor dem Kamin, die Vorweihnachtszeit mit Glühwein auf den unzähligen Weihnachtsmärkten, die wir auch in dieser Adventszeit wieder besuchen würden, denn Richard ist hoffnungsloser Fan von Weihnachtsmärkten. Mir reicht eigentlich einer, vorzugsweise der in Monschau, er hat nur von Freitag bis Sonntag in der Adventszeit geöffnet und man sollte tunlichst vor elf Uhr dagewesen sein, denn danach fallen die Touristenbusse ein und es ist vorbei mit der Beschaulichkeit.

Diese abendlichen Runden nutzen wir immer, um uns vom Tag zu erzählen, nicht den „offiziellen“ Bürokram, dafür gibt es die mittägliche Telefonkonferenz und die Protokollmail über die tägliche Mitarbeiterbesprechung, nein, abends kann jeder rauslassen, was ihm tagsüber passiert ist, wer angerufen hat, wer was über wen Neues zu berichten weiß, jeder erzählt aus seinem ganz persönlichen Mikrokosmos, lässt den anderen teilhaben an seiner Welt. An weiten Teilen dieser Welt zumindest…

Heute war Richard still, das war mir schon aufgefallen, aber dafür hatte ich umso mehr zu erzählen. Hauptsächlich vom morgendlichen Treffen der Hundemafia. Wir sind sechs Frauen, wenn alle da sind, jeden Morgen zwischen acht und neun Uhr, mit zurzeit acht Hunden, Birgit hat auch zwei, wie wir, einen Senior und einen Welpen, damit die Leere nicht so groß ist, wenn der Senior geht. Die Tochter von Regina hat einen neuen Freund, den ich weiß nicht wievielten in den letzten zwei Jahren, ein Wunder, wie Manuela das immer schafft, bei ihrer chronischen Magersucht und den damit verbundenen psychischen Problemen. Und so schicke Typen schleppt sie immer an, angeblich schickt sie die aber immer nach ein paar Wochen wieder in die Wüste, weil sie ihr „intellektuell“ nicht gewachsen sind, wir anderen vermuten aber vielmehr, dass die Jungs von selbst Reißaus nehmen. Und Branka wäre beinahe wieder auf Suleika losgegangen, dabei hatte Rolf doch steif und fest behauptet, er hätte sie jetzt im Griff. Rolf gehört nicht zum offiziellen Kreis der Hundemafia, schon deshalb, weil er ein Mann ist. Gitta, seine Frau, könnten wir aufnehmen, sie hat sich aber bislang noch nicht wirklich darum bemüht, die beiden gehen auch abwechselnd und teilweise zu anderen Zeiten als wir. Die anderen haben schon mal behauptet, Rolf baggere mich an, flirte mit mir, obwohl ich doch morgens völlig ungestylt und je nach Wetter auch ziemlich dreckig daherkomme. Es soll Leute geben, die mich nicht erkennen, wenn sie mich nur morgens im Feld sehen und mich dann mal tagsüber im Business-Outfit treffen. Ich bin natürlich geschmeichelt, gehe auf seinen Ton auch manchmal ein, aber er ist nicht mehr als ein netter Kerl für mich, der absolut nicht in mein Beuteschema passt. Das sieht Richard leider nicht so.

Aber um Rolf ging es gar nicht heute. Eigentlich ging es um gar nichts Bestimmtes, außer um Manuelas neueste Eroberung und die Tatsache, dass wir ab nächsten Monat mit Herrn Schröder nicht mehr in die Welpenspielstunde kommen können, weil er dann ein Jahr alt ist, und somit sonntags mal wieder Zeit für ein ausgedehntes Frühstück haben könnten. Ja, und dann trafen wir den netten alten Herrn von der Ecke mit seiner uralten Dackeldame, die sich vor lauter Rheuma und Arthrose kaum noch bewegen kann, und sind mit ihm zusammen noch ein Stück gegangen.

Eigentlich hätten bei mir schon die Alarmsirenen schrillen sollen, so still wie Richard war. Gab nur knappe Antworten und Kommentare, sprach auch nur das Nötigste mit dem älteren Herrn und schimpfte auch nur in Maßen mit Herrn Schröder, als der den Rest von dem toten Kaninchen aus dem Feld schleppte. Normalerweise ist er sehr gesprächig auf unseren Spaziergängen, manchmal mehr, als mir lieb ist, wenn ich einfach nur die Stille und die Natur genießen und den Hunden zuschauen möchte. Irgendwie habe ich das aber wohl ignoriert, war zu eingebunden in meine eigene Welt, blieb auf meiner Insel, statt auf seine rüberzuspringen, so haben wir das kürzlich in der Weiterbildung zum psychologischen Berater gelernt.

Zuhause schloss er die Tür auf und ging gleich durch in sein Arbeitszimmer. Ich reinigte acht Hundepfoten und fing an, den Salat fürs Abendessen vorzubereiten. Das ist das letzte Normale, an das ich mich erinnere. Was danach kam, das blendet mein Verstand zurzeit noch aus.

Aber immerhin bin ich jetzt wieder in der Lage, mich zu bewegen. Eskortiert von den Hunden schaffe ich es irgendwie, steifbeinig und wie in Trance, in die Küche zu gehen. Ich fülle die beiden Näpfe mit dem jeweiligen Futter, Fräulein Meier bekommt noch ihre Tabletten gegen Osteoporose dazu, sie ist irgendwo zwischen dreizehn und vierzehn Jahre alt, genau wissen wir es nicht, weil sie aus dem Tierheim kommt. Wir haben sie seit über zehn Jahren, unsere meistens absolut liebe und verträgliche Deutsch-Kurzhaar-Jagdhündin. Ihren Namen hatte sie schon, als wir sie bekamen, ob ihre Vorbesitzer sie so genannt haben oder erst die Leute im Tierheim, wissen wir nicht. Aber da sie nun einmal darauf hörte und wir ihn auch ganz witzig fanden, haben wir ihn beibehalten und Herrn Schröder dann analog einen ähnlichen Namen verpasst.

Dem geht das alles mal wieder viel zu langsam. Er fiept und hopst um mich herum, als ich die Tabletten aus der Verpackung drücke und möglichst unauffällig unters Futter mische, damit die Dame sie auch wirklich frisst und nicht aussortiert, nach dem Motto, „Du, Frauchen, das gehört da nicht rein, hab ich liegengelassen, war doch in Ordnung so?“

Wenn ihr Napf fertig ist, kommt seiner an die Reihe. Dann werden beide auf den Boden gestellt, jeder in eine Ecke, ihrer zuerst, dann seiner. So ist die festgelegte Reihenfolge, so muss es sein, dann gibt es in der Regel auch keine Kampfhandlungen.

Im Großen und Ganzen verstehen sich die beiden nämlich sehr gut, Fräulein Meier hat den kleinen Dalmatinerrüden zwar nicht unbedingt als Sohn angenommen, als wir ihn mit neun Wochen bekamen, sieht ihn aber doch mittlerweile als liebenswerten und nur manchmal etwas nervigen Familienzuwachs an. Ärger gibt es nur, wenn es ums Essen geht, da müssen wir nach wie vor aufpassen. Deshalb muss die Rangordnung auch ganz strikt eingehalten werden: Erst bekommt sie ihr Futter, danach er. Stehen die beiden Näpfe zu dicht beieinander, fühlt sie sich bedroht und knurrt, und ich würde auch nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass sie nicht zuschnappen würde. Seit ein paar Tagen hat sie aber eine neue Angewohnheit: Wenn sie ihre Portion etwa zur Hälfte aufgefressen hat, geht sie mit gefletschten Zähnen auf ihn und seinen Napf los, er nimmt daraufhin sicherheitshalber Reißaus und überlässt ihr den Rest seiner Mahlzeit. Das geht natürlich gar nicht, und so steht zurzeit immer eine „Autoritätsperson“ zwischen den beiden Näpfen und überwacht das Essensritual. Wenn beide fertig sind, ist der Friede sofort wiederhergestellt und wird meistens durch eine intensive Schmuseeinheit besiegelt. Wenn es doch bei uns Menschen auch so einfach wäre…

Nebenan im Wohnzimmer hat der Freitagskrimi mittlerweile angefangen, ich muss wohl völlig unbewusst auf das Zweite Programm geschaltet haben. Normalerweise säßen wir jetzt vor dem Fernseher, jeder sein Tablett auf dem Schoß beziehungsweis neben sich auf dem Beistelltisch, ich koche meist so, dass wir gemütlich vor dem Bildschirm essen können, das Esszimmer wird bei uns nur selten, meist wenn Besuch da ist, benutzt. So hätte es auch heute Abend sein sollen, noch vor einer Stunde deutete für mich nichts darauf hin, dass nur wenig später diese normale Welt so vollständig aus den Fugen geraten sein würde. Jetzt stehe ich allein hier und starre auf den Fernseher, sehe die Gestalten, ohne dass wirklich etwas davon in mein Bewusstsein dringt. Ähnlich wie in dem edel eingerichteten Anwaltsbüro auf dem Bildschirm, mit dem vielen Glas, den vielen Fenstern, sieht es auch in unserem Büro in der Innenstadt aus. Nicht ganz so vornehm, aber doch sehr repräsentativ, weil wir auch oft Kunden dort empfangen, in unserer Unternehmensberatung, die sich aus einem Anderthalb-Mann-Unternehmen zu einer renommierten Firma entwickelt hat, in den letzten zwanzig Jahren. Ob er wohl dorthin gefahren ist? Auf dem Sofa in seinem Büro könnte er zur Not schlafen, für ein Nickerchen zwischendurch hat er es schon öfter genutzt. Und vielleicht auch für andere Dinge „zwischendurch“.

Soll ich dort anrufen? Die Zentralnummer zu wählen, macht wenig Sinn, dort höre ich nur meine eigene Ansage auf dem Anrufbeantworter. Die eigene Stimme am Telefon zu hören, klingt immer komisch, finde ich. Ich weiß noch, als ich den Text aufgesprochen habe, beim Üben, als das Gerät noch ausgeschaltet war, ging es wunderbar, aber in dem Moment als die Aufnahme lief, fand ich das alles nur noch lustig und hatte einen Lachanfall nach dem anderen. Erst mithilfe intensivster Gedanken an das Finanzamt - das half bisher bei mir immer - gelang es uns, eine halbwegs seriös und professionell klingende Ansage hinzubekommen: „Guten Tag, lieber Anrufer! Sie sind mit der Unternehmensberatung Häussler in Leverkusen verbunden. Unser Büro ist montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr besetzt, das heißt aber nicht, dass wir nicht auch später noch für Sie da sind. Bitte hinterlassen Sie uns nach dem Piepton eine Nachricht mit Ihrer Telefonnummer, und wir melden uns umgehend bei Ihnen. Vielen Dank!“

Richards persönliche Durchwahl kennen nur die besten Kunden, die, für die er wirklich „rund um die Uhr“ zur Verfügung steht, für die wir schon so viele Urlaube verschoben oder ganz abgesagt haben. Dann natürlich die Mitarbeiter und ja, wer noch? So genau weiß ich das gar nicht und vielleicht möchte ich es auch lieber gar nicht wissen.

Wie lange ist er jetzt eigentlich schon weg? Eine halbe Stunde vielleicht, vierzig Minuten. Wenn, dann sollte er inzwischen im Büro angekommen sein. Soll ich? Dort oder auf seinem Handy? Aber nein, es würde nicht zu ihm passen, dass er rangeht, schließlich sieht er unsere Privatnummer auf dem Display, und er ist nicht der Typ für Diskussionen am Telefon. Ich könnte auf meinem Handy die Funktion zur Rufnummernunterdrückung suchen, aber irgendwie ist mir das zu albern. Ich probiere es. Das Ergebnis ist wie erwartet: Seine Durchwahl im Büro ist auf sein Handy weitergeleitet und da läuft die Mailboxansage. Ohne die Möglichkeit, eine Nachricht aufzusprechen. Seltsam, wann hat er das denn geändert? Wie oft hab ich ihm dort schon etwas hinterlassen, wenn ich ihn nicht gleich erreicht habe. Lange Zeit habe ich mir nichts dabei gedacht, wenn er nicht an sein Handy ging. Ein anderer zeitgleicher Anruf, ein Funkloch, Gespräch mit einem Kunden oder Mitarbeiter, was auch immer. Bei mir ist es ja auch so. Mein Vater zum Beispiel hat die wundersame Angewohnheit, immer kurz vor Richard anzurufen, so dass ich den zweiten Anruf nicht schnell genug entgegennehmen kann. Und wie oft ist es wirklich vertrackt: Stundenlang ruft überhaupt niemand an und dann gleich mehrere Leute gleichzeitig. Als wenn sie sich abgesprochen hätten.

Nun stehe ich da, immer noch mitten im Wohnzimmer, und starre abwechselnd auf das Telefon und den Fernseher. Lessing und Matula haben den Fall gelöst und gehen zusammen etwas trinken, und irgendwie habe ich die Prügelszene von Matula diesmal überhaupt nicht mitbekommen. Stattgefunden haben muss sie, denn er hat ein Pflaster auf der Stirn.

Ich setze mich hin und stehe sofort wieder auf. Mein Magen knurrt, mir fällt ein, dass meine normale Abendessenszeit lange vorbei ist. Bei dem Gedanken an konkrete Nahrung ist das Knurren schlagartig vorbei und ich habe einen riesigen Kloß im Hals. In der Küche liegt noch der geputzte und halb vorbereitete Salat auf der Arbeitsplatte, die Tomaten hatte ich schon aus dem Kühlschrank genommen und die Pfanne für das Fleisch auf den Herd gestellt, Öl hineingegeben. Jetzt fällt es mir wieder ein, ich wollte den Herd gerade einschalten – wir haben uns im vergangenen Jahr einen Induktionsherd geleistet, als die Welt noch in Ordnung war, der alte hatte schon fast 20 Jahre auf dem Buckel, er tat es zwar noch, aber Richard meinte, ein neuer müsse her. Und im Nachhinein hat sich dieser Herd, der sich nur dann erhitzt, wenn ein Topf mit etwas Essbarem draufsteht, als segensreich erwiesen, denn sonst hätte Herr Schröder, der mir beim Kochen „hilft“, seit er groß genug ist, um die Herdplatte zu erreichen, schon längst gegrillte Vorderfüße - als Richard in der Küchentür stand, mit diesem Gesichtsausdruck, den ich so fürchte und sagte: „Andrea, kommst du bitte mal mit!“, mehr Befehl als Bitte…

Rund 40 Minuten später bin ich, Andrea Häussler, 50 Jahre, 4 Monate und ein paar Tage alt, sozusagen „frisch getrennt“.

Was mache ich denn mit dem Salat? Und dem Fleisch? Appetit habe ich kein bisschen darauf, wenn überhaupt auf irgendetwas, dann vielleicht Zwieback, oder Hühnersuppe, so wie meine Mutter sie mir früher gemacht hat, wenn ich krank war. Andererseits, ich kann doch jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und mich mit irgendetwas Essbarem vor den Fernseher hocken und „Soko Leipzig“ anschauen, das eben angefangen hat. Obwohl ich ja Marco Girnth normalerweise schon sehr gern sehe…

Wenn ich jetzt den Salat wegwerfe und Richard kommt womöglich morgen Abend schon wieder, das wäre doch pure Verschwendung. Könnte ich doch das für heute vorgesehen Abendessen morgen machen, das Fleisch ist noch in der Verpackung und der Salat sieht auch noch ganz knackig aus. Und wenn ich ein bisschen mehr von dem Balsamico-Dressing nehme, das er so gern mag, dann fällt es vielleicht gar nicht auf, dass der Salat schon einen Tag alt ist…

Richard ist weg, Andrea, er ist nicht nur mal eben ins Dorf gefahren, Eis holen, oder noch mal kurz ins Büro, weil er wichtige Unterlagen vergessen hat, die er heute Abend noch durcharbeiten will. ER IST WEG! Er will dich nicht mehr! Er hat gesagt, er könne so nicht weiterleben, ob er ohne dich leben könne, wisse er noch nicht, aber er wisse definitiv, dass er nicht mehr mit dir leben könne. Nicht nach allem, was vorgefallen sei.

Da ist diese Stimme in mir, die sich nur dann meldet, wenn etwas schiefläuft oder ich mal wieder den von mir selbst oder anderen an mich gestellten Ansprüchen nicht genüge: „Würdest du dich bitte KON-ZEN-TRIE-REN!“, sagt sie beispielsweise, wenn ich morgens mal wieder ungeschickt mit meinen Kontaktlinsen herumfuhrwerke, obwohl ich nun schon seit mehr als dreißig Jahre jeden Morgen die Dinger einsetze, manchmal klappt es einfach nicht sofort. Oder „Der Müll MUSS in die Garage! JETZT!!!“, wenn ich eigentlich tausend wichtigere Dinge zu tun habe. Und jetzt gerade in diesem Moment versucht sie, mir unmissverständlich klarzumachen, dass ich diesmal wirklich richtig tief in der Tinte sitze.

Ich weiß nicht, wie andere Frauen mit so einer Situation umgehen. Weinen sie, schreien sie, zertrümmern sie Porzellan oder zerschneiden sie Fotos, trinken sie so viel Wein, bis sie in ein gnädiges Vergessen schenkendes Delirium fallen, aus dem das Aufwachen am nächsten Morgen umso schmerzhafter ist? Ich bin offensichtlich anders, ich habe nicht das Bedürfnis zu weinen oder mich sonst irgendwie „gehenzulassen“. Es ist, als ob mein Verstand ein großes Rolltor heruntergelassen hätte und damit diese ungeheuerliche Tatsache, dass mein Mann mich soeben verlassen hat, einfach außen vorlässt. Auf der anderen Seite des Tors ist zurzeit nur Platz für praktische Gedanken, eben was ich mit dem Salat mache, ob ich jetzt besser die Mäuse noch mal in den Garten lassen sollte, weil in ein paar Minuten die elektrischen und zeitschaltuhrgesteuerten Jalousien an den Terrassentüren heruntergehen, und ob ich die Haustür schon abgeschlossen habe. Das Andere wird später kommen, dessen bin ich mir gewiss. Aber eins nach dem anderen, wie sagte schon Scarlett O´Hara, nachdem Rhett Butler sie verlassen hat? „Verschieben wir‘s doch auf morgen“. Bin ich vielleicht so eine Art reinkarnierte Scarlett? Ach nein, das war ja nur eine Kunstfigur, erfunden und zu Unsterblichkeit gebracht von Margaret Mitchell. Dennoch, gewisse Ähnlichkeiten im Verhalten sind eindeutig vorhanden. Ich sollte das später vielleicht einmal analysieren.

Irgendwie stehe ich immer noch in der Küche herum, nehme mal diesen, mal jenen Gegenstand in die Hand, schaue ihn unschlüssig an, stelle ihn wieder weg, ohne wirklich zu wissen, was ich damit anfangen soll: kompletter geistiger Ausnahmezustand, anders kann man das wohl nicht beschreiben.

Ob ich noch mal auf seinem Handy anrufe? Oder im Büro? Ob ich mich wohl noch mal zum Affen mache? Vielleicht lass ich ihn wirklich mal eine Zeitlang in Ruhe, so bis morgen, vielleicht hat er es sich ja dann schon anders überlegt.

Möglicherweise ist er auch zu Guido gefahren. Ja sicher, dass ich darauf noch nicht gekommen bin. Meines Wissens nach ist Guido aktuell gerade mal wieder Single, die letzte 25-jährige 150-Kilo-Dame hat ihn vor kurzem ad acta gelegt und in seiner Wohnung findet sich sicher ein Schlafplätzchen für seinen ältesten Freund. Eigentlich mag ich Guido, oder „Drei-Buchstaben-Guido“, wie ich ihn seit einigen Jahren insgeheim nenne, nicht besonders. Er ist ein absoluter EDV-Freak geworden, nachdem er nach seiner Elektrikerlehre eine Fortbildung zum Programmierer gemacht hat, und sein Vokabular besteht zumindest für meine Ohren hauptsächlich aus diesen kryptischen Dreibuchstabenwörtern, die entweder Firmennamen sind oder die Abkürzung für irgendwelche datentechnischen Verfahren darstellen. IBM, UCS, ACT, VPN, CAT5 und unzählige andere. Manchmal meine ich, er kann keinen vernünftigen Satz äußern, ohne dass irgend so eine Bezeichnung darin vorkommt.

Ich kenne Guido genauso lange, wie ich Richard kenne, genauer gesagt, ich lernte beide am gleichen Abend vor mehr als dreißig Jahren kennen. Wie es damals so Usus war, gab es in unserer Stadt ein Jungensgymnasium und ein Mädchengymnasium. In den Zeiten vor der Erfindung der Koedukation hatte man nicht geglaubt, dass man beide Geschlechter auch in einer zu höheren akademischen Weihen befähigenden Lehranstalt zusammen unterrichten kann, ohne dass deren Gemüter dadurch dauerhaften und irreparablen Schaden nehmen. Ich also besuchte brav das Städtische Mädchengymnasium und hatte, da ich auch auf der Grundschule in einer reinen Mädchenklasse war, noch so gut wie keine Erfahrungen im Umgang mit Jungen.

In unserer Schule war es Brauch, dass ab der 9. oder 10. Klasse so genannte Klassenfeten veranstaltet wurden. Die 9. Klasse unserer Schule beispielsweise lud die 10. Klasse des benachbarten Jungensgymnasiums ein. Nicht nur wir, sondern auch Generationen von Schülerinnen vor uns hatten die Erfahrung gemacht, dass es mit Gleichaltrigen nicht funktioniert, die Jungen aus der 9. Klasse waren uns noch viel zu kindlich und unreif, als dass wir es für lohnenswert erachtet hätten, ihnen einen ganzen Abend kostbarer Freizeit zu opfern. Ort des Geschehens war immer eins der ansässigen Jugendheime, solche Einrichtungen, in denen nachmittags gebastelt und getöpfert wird, während abends sich dort die unterschiedlichsten Jugendgruppen trafen. Eine halbwegs vernünftige Musikanlage war vorhanden, Getränke gab es auch, und Zapfenstreich war definitiv um Viertel vor zehn, dann wurde das Heim abgeschlossen und das Aufsichtspersonal hatte seine verantwortungsvolle Aufgabe erfüllt. Das Ganze hatte natürlich den Charme einer Bahnhofshalle, aber den meisten von uns war das egal, zumal ja immer auch mit dem unangekündigten Besuch eines Lehrers gerechnet werden musste. Und irgendwie hatten wir früher mehr Respekt vor dem Lehrkörper. Heute gehen die Jugendlichen ganz anders mit ihren Lehrern um, das hätten wir damals ganz sicher nicht gewagt.

Für uns war schon die Vorbereitung dieser Klassenfeten ein Highlight. Da es sich ja um quasi von der Schule organisierte Veranstaltungen handelte, musste die Vorbereitung auch während des Unterrichts geschehen. Wir schafften es jedes Mal, diverse Schulstunden mit kolossal wichtigen Detailfragen zu verbringen, obwohl das Schema dieser Feten eigentlich immer gleich war. Alle zwei bis drei Monate beziehungsweise durchschnittlich zweimal pro Halbjahr war Fetenabend angesagt, meistens Dienstag, warum, weiß ich gar nicht mehr, vermutlich passte es nicht anders in den Veranstaltungsplan des Jugendheims. Mittwochs hätte uns besser gepasst, denn donnerstags war in der ersten Stunde Schulgottesdienst, und den hat so manche von uns meistens verschlafen.

Das Problem war, dass die ins Auge gefasste Jungensklasse nach einiger Zeit nicht mehr so richtige Lust hatte, sich mit uns abzugeben. War die Klasse bei den ersten paar Terminen noch fast vollzählig erschienen, so mussten wir doch im Lauf der Zeit ein gewisses Nachlassen des Interesses feststellen. Sie waren halt noch arg unreif, die Boys vom Albert-Schweitzer-Gymnasium.

Damit das Ganze nicht ins Wasser fiel, brachten wir - natürlich wir, von allein wären die Jungs doch nicht darauf gekommen - die Idee ins Spiel, dass die Jungen die Lücken in ihren eigenen Reihen durch Geschwister und Freunde von außerhalb der Schule auffüllen könnten. Voraussetzung war, dass die Ersatzspieler alters- und umfeldmäßig einigermaßen zu uns passten.

Und so tauchten an jenem denkwürdigen Dienstagabend im Januar dann neben den üblichen Verdächtigen und einigen nicht sonderlich erwähnenswerten Gestalten zwei Jungen auf, die sofort unser aller Interesse weckten: Richard und Guido. Sie waren um einiges älter als die anderen Jungen, genauer gesagt ist Richard zwei Jahre älter als ich, er und Guido standen damals kurz vor dem Abitur. Während es Guido dann mehr zum Handwerklichen zog und er eine Lehre als Elektriker begann, hatte sich mein Richard sofort zur Bundeswehr gemeldet und machte danach eine Banklehre, und im Anschluss daran ein BWL-Studium.

Eigentlich waren die beiden damit schon zu alt für das von unserer Lehrerin genehmigte Zusatzkontingent, irgendwie waren sie aber doch durchgerutscht und wurden von uns allen gespannt beäugt. Kein Wunder, Guido ist groß, über 1,90 Meter, schlank, und hatte damals wunderschönes schwarzes Haar, Richard ist mit seinen 1,86 Meter nur wenig kleiner, auch drahtig und dunkelblond. Das hat sich in den ganzen Jahren nicht wesentlich geändert, er hatte zeitweilig mal ein paar Kilo mehr auf den Rippen, und die Haare haben sich etwas gelichtet, aber im Großen und Ganzen sieht er immer noch so aus wie damals, das Gesicht reifer, mit ausgeprägteren Konturen natürlich, aber immer noch eine Erscheinung, nach der sich die Frauen umdrehen. Guido dagegen hat leider später als Mann nicht das gehalten, was er als Junge versprach. Er ist kräftig geworden, manche Leute würden ihn schon als leicht korpulent bezeichnen, und die schönen Haare haben sich gänzlich verabschiedet, sprich, er hat heute eine Glatze. Einige Frauen finden das ja sexy, mir gefällt es nicht, aber ich bin ja auch voreingenommen, was ihn betrifft.

Ich war als Teenie eher unauffällig, fand mich allerhöchstens durchschnittlich, in meinem Gesicht waren zwar alle notwendigen Dinge vorhanden, aber irgendwie passte das alles nicht zusammen. Andere fand ich immer viel viel hübscher, Mädchen mit langen lockigen dicken Haaren und einer kleinen Nase und natürlich schlanken Beinen, so hatte man auszusehen, dann kam der entsprechende Status in Klasse und Freundesclique von selbst. Ich dagegen hatte dünnes Haar von undefinierbarer Farbe, heute nennt man das „straßenköterblond“, aber damals hatte ich eigentlich gar keine Haarfarbe. Hinzu kam, dass ich unter Akne und fettigen Haaren litt und außerdem, das war das Übelste an meiner ganzen Erscheinung, bis zu meinem 15. Lebensjahr eine Brille tragen musste. Als ich Richard kennen lernte, hatte ich zum Glück seit ein paar Monaten Kontaktlinsen, und fühlte mich, wenn ich mal gerade meine Pickel im Zaum halten konnte, nicht mehr ganz so hässlich.

Trotzdem konnte ich mein Glück nicht fassen, als im Laufe des Abends doch tatsächlich immer wieder Richard auf mich zukam und mich aufforderte. Wir tanzten, unterhielten uns und er lud mich zu einer Cola ein - andere, gar alkoholische, Getränke waren selbstverständlich tabu an diesem Abend. Ich, die unscheinbare, stille Andrea, hatte das Interesse eines der tollsten Jungen der ganzen Veranstaltung geweckt, ich war absolut hin und weg und ich glaube, ich redete den ganzen Abend ziemlichen Blödsinn. Umso gesprächiger war Richard, er erzählte vom Abi, das in ein paar Monaten anstehen würde, davon, dass er zum Bund gehen würde, aber ihm davor ziemlich grauste, von seiner Familie und als es dann leider Viertel vor zehn war und das allgemeine Zeichen zum Aufbruch gegeben wurde, fragte er sogar nach meiner Telefonnummer! Wir könnten ja dieser Tage mal was zusammen trinken gehen, oder ins Kino, meinte er. Er gab mir auch seine Nummer, schrieb sie auf die Rückseite einer alten Kinokarte und ich war völlig aus dem Häuschen. Wir vereinbarten, dass er sich am darauffolgenden Samstag melden würde, ich sagte, aber nicht vor neun Uhr, denn bis dahin sei ich mit meinen Eltern unterwegs.

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Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
474 s. 8 illüstrasyon
ISBN:
9783944224084
Yayıncı:
Telif hakkı:
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Metin
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