Kitabı oku: «Auszeit», sayfa 3

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Als dann einige Jahre später Richard auf die Welt kam, war man mit ihm natürlich übervorsichtig, Eltern und Großeltern waren ständig um ihn bemüht, und seine Mutter muss einen arg schweren Stand gehabt haben, denn besonders die Großeltern machten sie mehr oder weniger offen für das Schicksal der älteren Tochter verantwortlich, obwohl sie nach heutigem medizinischem Wissensstand ganz sicher nichts dafür gekonnt hatte. Die Großmutter ging sogar so weit, Richard zeitweise zu sich zu nehmen, aus Sorge, ihm könne das gleiche Unglück widerfahren wie seiner Schwester, wenn er bei seinen Eltern bliebe.

Das Sagen in der Familie hatte Richards Großmutter, sie kam aus einer rheinischen Unternehmerdynastie und hatte seinen Großvater kurz vor dem Krieg geheiratet. Der wiederum kam ursprünglich aus einer Arztfamilie, zwei seiner Brüder waren sogar Universitätsprofessoren, sein Opa jedoch konnte kein Blut sehen und verlegte sich deshalb auf das Kaufmännische, zumal er ein phänomenales Zahlengedächtnis hatte. Das hat Richard sicherlich von ihm geerbt, wie er überhaupt sehr viel von seinem Großvater hat und ihn auch als sein großes Vorbild ansieht, mehr als seinen Vater.

Nach dem Krieg leitete der Großvater bis zu seiner Pensionierung Ende der sechziger Jahre eine große Maschinenfabrik in der Nähe von Köln, man lebte auf recht großem Fuß, das Wirtschaftswunder hatte ein Übriges dazu getan, so dass es den Häusslers finanziell recht gut ging. Für Dorotheas Heimunterbringung kam nach Großvaters Tod die Großmutter auf, das war aber auch alles, was in der Familie für dieses bedauernswerte Geschöpf getan wurde. In der ganzen Zeit ist Dorothea vielleicht zehn Mal von ihren Eltern besucht worden, Richard, der sie ja kaum kannte, hat sie vielleicht fünfmal gesehen und ich war ganze zwei Mal mit in dem Heim, in dem sie untergebracht war und fand es zugegebenermaßen jedes Mal schrecklich.

Vor ein paar Jahren ist sie dann umgezogen und lebt jetzt in einer kleineren Einrichtung der Lebenshilfe für betreutes Wohnen.

Ich lernte Großmutter Häussler natürlich auch noch kennen, sie lebte ganz in der Nähe von Richard und seinen Eltern. Leider war Richards Vater nicht in die väterlichen Fußstapfen getreten, um es mal ganz krass zu formulieren, aus ihm ist nicht wirklich etwas geworden. Der Kontakt zu den Eltern ist im Lauf der Jahre immer spärlicher geworden, Vater und Sohn waren zu verschieden, als dass sie sich viel zu sagen gehabt hätten.

Für Richards Ausbildung und sein Studium kam, wann immer es nötig war, die Großmutter auf. Während des Grundwehrdienstes und der Banklehre verdiente er ja nicht viel, und als Student sah es auch nicht besser aus. Zumal er sich voll aufs Lernen konzentrierte und nicht, wie viele seiner Kommilitonen, nebenbei jobbte, um die Kasse aufzubessern.

Dass Richard der Großmutter nicht allzu sehr auf der Tasche liegen musste und ihr auch später nie sonderlich viel Dankbarkeit zollen musste, lag an der weisen Voraussicht seines Großvaters. Dieser hatte nämlich alle Geldgeschenke zu Geburtstagen, Weihnachten, Kommunion und ähnlichen Gelegenheiten immer schön auf die Bank gebracht und dort gewinnbringend angelegt. Dadurch hatte Richard zu seinem 18. Geburtstag ein recht nettes Sümmchen zur Verfügung, davon konnten wir uns das erste Auto und eine kleine Wohnung leisten, und es blieb auch noch ein bisschen was zum Leben übrig.

Sie war dünkelhaft und hartherzig, diese Matriarchin, das muss man so sagen und das unterschreibe ich auch heute noch, nach so vielen Jahren. Den geringen Betrag, den sie monatlich zu unserem Lebensunterhalt beisteuerte, mussten wir uns redlich verdienen. Sie ließ uns antreten, wann immer es sie danach verlangte, wir kutschierten sie zu allen möglichen Gelegenheiten durch die Gegend, standen für sie stramm, wenn für die illustre Damenrunde Kuchen gekauft werden musste - natürlich ausschließlich Erdbeertorte vom angesagtesten Konditor der Stadt - wir hüteten ihre Wohnung und gossen die Blumen, wenn sie im Urlaub war, nur um dann zuschauen zu dürfen, wie sie das Silber nachzählte, um sicherzugehen, dass wir uns nicht daran bereichert hatten, und vieles mehr.

Unzählige Male nervte sie uns mit der späteren Verteilung ihrer Habseligkeiten auf die nähere und weitere Verwandtschaft, wer gerade hoch in ihrer Gunst stand, wurde entsprechend bedacht. In einer kurzen und einmaligen Phase der „innigen Vertrautheit“ zwischen uns bekam ich die Aufgabe, ihr Hab und Gut zu katalogisieren. Viele Nachmittage brachte ich damit zu, jedes einzelne Porzellanstück, Vasen, Silber, aber auch die zum Teil defekten Unterhosen ihres Verblichenen akribisch aufzulisten, hierzu sollten die durch das gerade frisch bestandene Abitur unter Beweis gestellten intellektuellen Fähigkeiten der künftigen Schwiegerenkelin ja wohl ausreichen. Was später aus dieser Liste geworden ist, weiß ich nicht, da Richard und ich zum Zeitpunkt ihres Todes nicht mehr zu ihren Günstlingen zählten, gingen diese und andere materielle Segnungen an uns vorüber.

Der Bruch kam an einem Silvesternachmittag, sie hatte die Feiertage in ihrem Stammdomizil im Schwarzwald verbracht und wollte eigentlich erst Anfang Januar zurückkommen. Aus irgendwelchen Gründen hatte sie sich aber mit der Hoteliersfamilie derart überworfen, dass man ihr die umgehende Abreise nahelegte, und so stand sie völlig außerplanmäßig am späten Silvesternachmittag bei uns auf der Matte. Zu ihrem Sohn und der Schwiegertochter wollte sie nicht gehen, auf die war sie zu der Zeit auch gerade mal wieder böse, und in ihre leere Wohnung, dazu noch ohne Lebensmittel, wollte sie auch nicht. Es war dann Richards und meine Sache, so lange bei ihren diversen Verwandten und Freundinnen herumzutelefonieren, bis wir ein Ehepaar fanden, das sich bereiterklärte, die alte Dame bis zum Neujahrstag bei sich aufzunehmen.

Wir holten sie also am Spätnachmittag vom Bahnhof ab und fuhren sie samt ihren Koffern zu Onkel Adi, Tante Else und Cockerspaniel Bruno, Gott hab alle drei selig mittlerweile. Wie sich herausstellte, wollte sie dort aber auch nicht lange bleiben, sie gab uns explizite Anweisungen: „Und morgen früh um acht Uhr holt ihr mich dann wieder ab und bringt mich in meine Wohnung.“ Punktum. Ohne Wenn und Aber, und schon gar nicht verbunden mit einem „Bitte“. Und da explodierte Richard. Normalerweise ist er ja eher ruhig, es braucht schon einige Zeit, um ihn so richtig in Rage zu bringen, wobei es zwei Varianten seiner Unmutsäußerungen gibt, vor denen man sich hüten sollte: zum einen, wenn er richtig laut wird und schreit, und zum anderen, wenn er ganz ruhig wird, aber nach außen hin völlig beherrscht auftritt, obwohl es in seinem Innern brodelt. An jenem Nachmittag trat Variante zwei in Kraft: Er war schneeweiß im Gesicht, hielt den Wagen an und sagte sehr leise, aber mit umso mehr Betonung: „Das reicht! Es ist Silvesterabend, Andrea und ich sind eingeladen und werden erst frühmorgens nach Hause kommen. Wie kommst du dazu, von uns zu verlangen, dass wir um acht Uhr früh auf der Matte stehen, um dich zu kutschieren, du kannst dir genauso gut ein Taxi nehmen. Wir können dich von mir aus morgen Mittag oder Nachmittag, wenn wir ausgeschlafen sind, abholen, aber ganz sicher nicht morgen früh!“

Es half nichts, sie bestand auf acht Uhr morgens. Und da legte Richard ihr nach wie vor in diesem gefährlich ruhigen Ton nahe, doch bitte künftig ihr Leben allein zu leben und uns in Ruhe zu lassen. „Wenn es dir schlecht geht und du bist wirklich in Not, kannst du uns gerne anrufen, aber ansonsten verschwinde bitte aus unserem Leben.“

Für Außenstehende mag sich diese Situation gar nicht so schlimm anhören, aber sie war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Wir waren jung, gesund, hatten das ganze Leben mit all seinen Möglichkeiten noch vor uns, wir waren beide nicht wirklich materialistisch eingestellt, so verlockend konnte die Aussicht auf ein späteres Erbe gar nicht sein, als dass wir uns weiterhin so sehr gängeln und schikanieren lassen wollten.

Es kam, wie wir uns gedacht hatten: Von Stund an blieben die monatlichen Zuwendungen aus, es gab in den Jahren bis zu ihrem Tod vielleicht noch zwei oder drei belanglose Telefonate, das letzte Mal, als Richard sein Examen bestanden hatte und sofort im Anschluss eine Stelle in einer alteingesessenen und renommierten Kölner Unternehmensberatung bekam.

Als sie starb, war Richard nicht wirklich betroffen. Er nahm es hin, wie es war, sie hatte ihren Platz in seinem Leben regelrecht verwirkt. Ich hatte mir so manchmal Sorgen gemacht, dass er es bedauern würde, sich vor ihrem Tod nicht mit ihr versöhnt zu haben, aber diese Bedenken waren grundlos. Wer einmal weg ist, der ist weg aus dem Leben des Richard Häussler.

Oh je, welch blöde und beängstigende Assoziation ist mir denn da wieder gelungen? Denselben kalten und ruhigen Ton, in dem er seiner Großmutter die Verwandtschaft aufgekündigt hatte, hat er gestern Abend auch mir gegenüber angeschlagen. Als er mir die Liebe aufkündigte.

Samstag...

Ich schrecke hoch. Da ist ein Geräusch an der Tür! Davon bin ich wach geworden, aber auch weil Fräulein Meier ihre Pflicht als Wachhund trotz ihrer zunehmenden Altersschwerhörigkeit immer noch sehr ernst nimmt und mir gerade voll ins Ohr bellt. Seit sie nicht mehr in unserem Bett schläft, bekomme ich nicht mehr so viel mit von ihren morgendlichen Warnmeldungen. Diesmal hat sie den Zeitungsboten gehört, der unsere Lokalzeitung und die „Welt“ vor die Tür gelegt hat.

Eigentlich haben wir vor ein paar Jahren den Briefschlitz an der Haustür zugemacht und einen unübersehbaren äußerst dekorativen Briefkasten in den Vorgarten gestellt, genau damit Fräulein Meier uns nicht jeden Morgen um halb fünf weckt, um kundzutun, dass sich wieder jemand in die Nähe des Eingangs gewagt hat. Es ist zwar schon seit Jahren immer der gleiche Zeitungsausträger, nur am Wochenende, also heute, und zu Urlaubszeiten kommt eine Aushilfe, aber für Fräulein Meier ist es jeden Morgen ein neuer Feind, den es lautstark anzukündigen gilt.

Das mit dem Briefkasten funktioniert normalerweise ganz gut. Jetzt, wo sie mit zunehmendem Alter nicht mehr so gut hört, bekommt sie es meistens gar nicht mit, wenn die Zeitungen in den Kasten geworfen werden. Was für uns etwa zweieinhalb Stunden weiteren ungestörten Schlaf bedeutet. Denn Herr Schröder ist bis jetzt noch ziemlich gleichgültig gegenüber Besuch jeglicher Art. Mit Ausnahme des Briefträgers. Im Gegensatz zu dem Klischee vom verhassten und gejagten Briefträger lieben unsere beiden unseren Herrn Hansen, dies aber nicht, weil er zugegebenermaßen ein netter Kerl ist, sondern vielmehr, weil er immer Leckerchen in der Brusttasche hat.

Herr Schröder kommt hereingetapst, noch ziemlich verschlafen. Er schaut irgendwie konsterniert drein, klar, er hatte ja nicht mitbekommen, dass ich die Schlafzimmertür aufgelassen habe heute Nacht und Fräulein Meier dann irgendwann umgezogen ist in das sonst so streng verbotene große Bett. Für sein morgendliches Quietschritual ist es noch zu früh, entscheidet er und hopst zu mir aufs Bett, kuschelt sich an meine Füße und schläft fast augenblicklich wieder ein, und träumt sich einem neuen Tag voller Abenteuer und Spielen entgegen. Glückliches Hundekind…

Fräulein Meier hat den Feind erfolgreich vertrieben und kommt, mit kurzem Umweg über den Wassernapf in der Küche auch wieder ins Bett, sie brummt zufrieden und rollt sich wieder auf Richards Kopfkissen zusammen.

Da liegen wir drei nun, und die Einzige, die ganz sicher nicht wieder einschlafen wird, bin ich. Wann habe ich das letzte Mal allein, ohne Richard, in unserem Bett geschlafen? Das muss schon einige Zeit her sein, denn in den letzten Jahren hatten wir fast keine Aufträge mehr angenommen, bei denen Richard oder die Mitarbeiter über Nacht wegbleiben mussten. Anfang der 90er, nach der Wende, war das anders, da operierten wir wirklich deutschlandweit. Einige unserer Kunden eröffneten Filialen in den neuen Bundesländern oder kooperierten mit ostdeutschen Unternehmen, oder wir wurden von anderen Kunden empfohlen, jedenfalls hatten wir sehr viel zu tun in dieser Zeit. Unsere Hauptaufgabe ist es, den Kunden Möglichkeiten aufzuzeigen, ihre Geschäftsabläufe zu optimieren, größtmögliche Effizienz mit größtmöglichem Ertrag zu kombinieren, neue Märkte zu öffnen, ihre Produkte bestmöglich zu platzieren und mit ihren Mitarbeitern optimal zu wirtschaften. Gerade im Osten lag damals für uns ein weites Betätigungsfeld, das wir auch kräftig abgegrast haben.

Dass so viel Arbeit da war, hieß nicht gleichzeitig, dass es eine leichte Zeit war. Im Gegenteil, wir waren jung und unerfahren und vor allem leichtgläubig. Richard hatte nach seinem Examen ein paar Jahre als Angestellter gearbeitet und dann, Ende der 80er die Chance ergriffen, sich selbständig zu machen. Seine alte Firma löste sich gewissermaßen auf, weil sich einer der Chefs aufs Altenteil zurückzog und nach Teneriffa auswanderte und der andere sich nur noch auf die Betreuung einiger weniger dafür äußerst lukrativer Kunden beschränken wollte. Richard sagte sich „Jetzt oder nie!“ und ergriff die Gelegenheit beim Schopfe. Ich hatte mein erstes Staatsexamen für Pädagogik und Spanisch auf Lehramt gerade bestanden und eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni ergattert und arbeitete auf die Promotion hin. Es war eine ruhige Zeit für mich, das Examen in der Tasche, die Doktorarbeit nahm es auch nicht übel, wenn man mal nicht so viel Dampf dabei machte, die Arbeit am Institut war spannend, noch spannender aber waren die endlosen Klönvormittage mit den Kolleginnen und Institutssekretärinnen.

Da blieb sicher noch ausreichend Zeit, um Richard mit seinem neuen kleinen Unternehmen zu helfen, dachte ich mir, und teilte meine Arbeitstage in die Vormittage am Institut und die Nachmittage zu Hause auf, wo wir uns ein provisorisches Büro eingerichtet hatten, aber für uns war klar, dass wir keine Anderthalbmann-Klitsche bleiben wollten, sondern schon, so wie Richard das von seinem vorherigen Arbeitgeber und auch seiner Praktikumsfirma her kannte, ein respektables Unternehmen mit mehreren Mitarbeitern, Sekretärinnen, Azubis beziehungsweise Azubinen wie es heute so schön heißt, aufbauen wollten.

Richard war talentiert, äußerst fleißig und ehrgeizig, und er hatte aufgrund der genialen Kombination seiner praktischen Ausbildung zum Banker einerseits und der theoretischen Untermauerung und Erweiterung seiner Kenntnisse im Studium andererseits die sehr gewinnbringende Fähigkeit, Schwachstellen in der Organisation eines Unternehmens schnell zu erkennen, den Finger präzise in die offene Wunde zu legen, aber auch genauso schnell und effizient für Abhilfe zu sorgen.

Außerdem hatte er eine sehr gewinnende Art und schon damals, als Endzwanziger, Anfangdreißiger, eine ganz besondere Ausstrahlung, er sah auf eine zugleich jungenhafte und seriöse Art gut aus und schaffte es, vor allem Vorzimmerdamen und weibliche Führungskräfte in kürzester Zeit von sich einzunehmen. Aufgrund seiner Fachkompetenz punktete er natürlich auch bei seinen männlichen Geschäftspartnern, und da wir keine überzogenen Stundensätze hatten, wurde er gern gebucht.

Ich dagegen war mit dem neuen Zweitjob buchstäblich ins kalte Wasser geworfen worden. Kaufmännisch völlig unbeleckt, und gerade mal in der Lage, Unterlagen alphabetisch korrekt abzuheften, sah ich mich von jetzt auf gleich mit Dingen konfrontiert, die den Prinzipien der wissenschaftlichen Arbeit völlig zuwiderliefen. Ich musste Preise und Rabatte aushandeln, Briefe, Angebote und ähnliches auf dem PC schreiben, mich mit Kundenwünschen und manchmal natürlich auch Beschwerden auseinandersetzen. Ich musste vor allem lernen, meinen Charme dazu zu ge- und oft auch zu missbrauchen, Kunden zu beruhigen, wenn mal wieder ein Termin länger als geplant gedauert hatte und die nachfolgenden Termine abgesagt werden mussten. Hinzu kam, dass Richard schon damals sehr starke Vorlieben hatte und seine Prioritäten oftmals anders setzte als vorher besprochen, wenn einer seiner Lieblingskunden oder –kundinnen anrief, wurden die mal salopp so eben dazwischengeschoben und es blieb dann an mir hängen, andere, nicht so gut gelittene Kunden auf später zu vertrösten. Daher kommen wohl auch meine Fähigkeit zu improvisieren und mein nahezu unerschöpflicher Vorrat an Ausreden und Geschichtchen, die mir wahrscheinlich auch in nächster Zeit des Öfteren zugutekommen werden. Diese Art der Verwendung hatte ich mir allerdings nicht vorgestellt.

Es kam, wie es kommen musste. Bei anderen Frauen ist es der Spagat zwischen Familie und Karriere, der jeden Tag bewältigt werden will, bei mir war es schon bald ein Spagat zwischen meinen beiden Berufen. Einerseits war da die Arbeit am Institut, die mir großen Spaß machte und die ja irgendwann in nicht zu ferner Zukunft auch zur Promotion und damit weiterführender akademischer Karriere führen sollte, andererseits war da unser gemeinsames Unternehmen, unser Kind gewissermaßen, das uns beide ernähren und finanziell absichern sollte. Denn um ehrlich zu sein, Blumentöpfe gewinnen konnte ich nicht gerade mit meinem Gehalt an der Uni, es war eigentlich nicht mehr als ein Zubrot, und so gern ich die Arbeit auch mochte, stellte ich doch fest, dass unsere kleine Firma von Woche zu Woche mehr von meiner Zeit in Anspruch nahm und dass ich mich immer öfter dabei ertappte, dass ich weniger als die vereinbarten 19 Stunden pro Woche in der Uni war.

Wo ich gerade war und arbeitete, der jeweils andere Job kam zu kurz und am Schluss stellte ich fest, dass ich in keiner der beiden Aufgaben wirklich zufriedenstellende Resultate brachte. Ich führte von meinem Arbeitsplatz in der Uni aus Telefonate für die Unternehmensberatung, manchmal fast den ganzen Vormittag über, ab und an ließ es sich auch nicht verhindern, dass die Kunden mich dort zurückriefen, denn Handys gab es ja damals noch nicht. Zum Glück war mein Chef sehr tolerant, aber ich sah selbst ein, dass es so nicht weitergehen konnte.

Ich machte mir die Entscheidung nicht leicht, bedeutete sie doch auch das Aufgeben meiner eigenen beruflichen Karriere, das, worauf ich so viele Jahre hingearbeitet hatte, die Stellung am Institut, die ich erreicht hatte, unter anderem hatte ich Kongresse organisiert und meinen Chef zu zahlreichen Vortragsreisen begleitet, auch selber Vorträge gehalten, all das galt es nun aufzugeben. Da ging schon ein Stück eigene Identität den Bach herunter, als ich etwa ein halbes Jahr, nachdem Richard sich selbständig gemacht hatte, meinen Job an der Uni kündigte. Zumal ich eben in dem, was ich bisher gemacht hatte, wirklich gut war, und nun wieder ganz von vorne anfangen musste. Ich hatte mir zwar einiges an organisatorischem Geschick angeeignet, aber es war doch etwas ganz anderes: Die Leute in der Welt der Hochschule „tickten“ schon anders als die Geschäftskunden von Richard, mit denen ich es nun zu tun bekam.

Aber ich biss mich durch, wenn es auch oft ein Kampf war. Richard waren die Aufgaben, die ich schließlich übernahm, immer leicht gefallen. Ihm half dabei sein außerordentliches Gespür für Zahlen, mit dem ich so gar nicht mithalten konnte, und auch im Umgang mit Kunden, Lieferanten und sonstigen Menschen, die einem im Geschäftsalltag so über den Weg laufen, stolperte ich beinahe in jede nur denkbare Falle. So musste ich zum Beispiel auf immer wieder schmerzhafte Weise lernen, dass man alles, was man im Geschäftsleben mündlich vereinbart, schriftlich bestätigen muss, um später einen Nachweis dafür zu haben. Ein einfaches „Das haben wir doch so besprochen“ reicht im Zweifelsfall nicht aus - da jeder nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist, wird jede Situation dementsprechend zurechtgedreht.

Andererseits reicht die schriftliche Bestätigung dann auch nicht in jedem Falle aus, sondern es muss oft auch nochmals mündlich nachgehakt werden. Das lernte ich sehr nachdrücklich, als ich die ersten Besuchstermine für Richard vereinbarte, meist zwei oder drei Wochen im Voraus, und sie in meinen Terminkalender eintrug. Damit war die Absprache für mich amtlich. Leider nicht immer für die Gegenseite, ich kann mich an einige Male erinnern, wo Richard nach stundenlanger Fahrt beim Kunden entweder ganz vor verschlossener Tür stand oder der Kunde zwar da war, aber keine Zeit für das Gespräch hatte, weil er den Termin selber vergessen hatte. Seitdem habe ich es mir zur festen Angewohnheit gemacht, einen Tag vorher anzurufen und Verabredungen zu bestätigen. Im Zweifelsfalle, wenn ich mir nicht sicher bin, dass die Botschaft angekommen ist, schicke ich eine Mail oder ein Fax hinterher. Wobei ich ehrlich sein muss, manchmal vergesse ich diesen Anruf auch und entweder hole ich es dann am frühen Morgen noch nach oder ich bete, dass der Kunde wie abgesprochen „funktioniert“ hat.

Denn auch das musste ich sehr schnell lernen: Auch wenn ich eigentlich alles richtig gemacht habe, bin ich dennoch schuld, wenn etwas nicht klappt. Egal, ob es sich um Absprachen mit Kunden oder Lieferanten handelte, oder um die Arbeitsweise unserer Mitarbeiter, ich war sehr schnell von der bloßen Bürokraft, als die ich angefangen hatte, zur Schnittstelle zwischen Richard und dem Rest der Welt geworden. Richard als Motor der Firma, der nicht nur die Ideen hat, sondern auch den Löwenanteil der Gewinne erwirtschaftet, schwebt gewissermaßen über den Banalitäten des Alltags, die haben zu laufen, es ist nicht seine Aufgabe, sich darum zu kümmern, dass die internen Abläufe funktionieren. So war es von Anbeginn unserer gemeinsamen Selbständigkeit und so ist es auch heute noch. Zumindest war es bis gestern Abend so…

Das ist auch alles gut und richtig so und in der Regel bin ich mit dieser Aufgabenverteilung auch sehr einverstanden. Ich bin stolz auf das, was wir aufgebaut haben und identifiziere mich mit unserem Unternehmen und dem Bild, das wir in der Öffentlichkeit präsentieren. Es gibt allerdings auch Momente, in denen ich mich frage, ob das wirklich alles gewesen ist für mich, ob ich so lange studiert und mich mit wissenschaftlichen Sachverhalten auseinandergesetzt habe, um jetzt als bessere Sekretärin und Sachbearbeiterin mein berufliches Dasein zu fristen.

„Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau, die ihm den Rücken freihält und so diese Erfolge erst ermöglicht.“ Diesen Spruch habe ich schon oft gehört und gelesen und es ist auch ganz viel Wahres dran. Dennoch gab es Zeiten, in denen es mir nicht reichte, mich nur über meinen erfolgsgewohnten Ehemann zu definieren und ich beneidete glühend meine Freundinnen und Bekannten, die als Anwältinnen, Ärztinnen, Personal Trainer oder was auch immer ihr Geld durch ihre eigene unmittelbare Arbeit verdienen. Selbst meine Freundin Alex, die mir die Fingernägel immer so schön „French“ designt, kann am Ende eines Arbeitstages sagen, dass sie so und so viele Kundinnen hatte und dadurch den Betrag X in der Kasse ganz allein erwirtschaftet hat.

Oft frage ich mich, warum ich damals nach dem Abi nicht Jura studiert habe. Für Medizin hätte einerseits der Numerus Clausus nicht gereicht und andererseits war mir da auch viel zu viel Naturwissenschaft drin. Vom Jurastudium hat mich die Angst vor Unmengen von unsagbar trockenem Lehrstoff abgehalten, außerdem hatte ich immer das Bild der amerikanischen Fernsehanwälte vor Augen, die rhetorisch unschlagbar waren und mit ihren Plädoyers jeden noch so schwierigen Fall gewannen. Und das, so glaubte ich, würde ich nie können. Heute habe ich durch meinen Job schon einige Anwälte bei der Arbeit beobachtet, es gibt im Geschäftsleben ja immer wieder mal Situationen, in denen man sich um irgendetwas streitet, sei es unvollständige Lieferungen, nicht erfüllte Verträge oder was auch immer. Auch das ist Teil meines Aufgabengebietes, kommt es wirklich zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung, alle damit verbundenen Arbeiten zu erledigen. Dabei ist es mir schon häufig so gegangen, dass die Anwälte eigentlich nur das in Anwaltsdeutsch übertrugen, was ich bereits vorformuliert hatte, und auch in der mündlichen Verhandlung, wenn ich mehr oder weniger ohnmächtig als Partei dabei saß, habe ich oft gedacht, dass ich das mindestens ebenso gut selber gemacht hätte.

Aber hinterher ist man immer schlauer…

Ich hatte nicht allzu lange überlegt nach dem Abitur. Meine Lieblingsfächer in der Schule waren Fremdsprachen, Deutsch und Pädagogik. Zudem war ich immer schon von Natur aus faul. Was lag also näher als ein Lehramtsstudium mit der Aussicht auf ganz viel Ferienzeit, immer nachmittags frei, und wenn man sich und seinen Lehrstoff einigermaßen organisiert hat, arbeitet man sich als Lehrer ganz sicher nicht tot. Schon gar nicht in der Sekundarstufe II, also in der gymnasialen Oberstufe, da hat man es mit halbwegs zivilisierten Schülern zu tun und muss keine Angst haben, von den Kindern nur sehr eingeschränkt wahrgenommen zu werden und sich tagtäglich zum Affen zu machen oder womöglich sogar Opfer von gewalttätigen Übergriffen zu werden. Beispiele von psychisch völlig zerstörten Lehrern, Mobbingopfern oder Lehrern mit Burn-Out-Syndrom, deren einzige Rettung die Frühpensionierung ist, gibt es ja leider in der heutigen Zeit zuhauf.

Nein, meine Vorstellung von Berufstätigkeit war die, einen netten, dennoch intellektuell anspruchsvollen Halbtagsjob zu erledigen, der mir ausreichend Zeit für alle möglichen Freizeitaktivitäten lassen würde. Zumal ja damals bei uns auch die Kinderfrage noch nicht abschließend geklärt war. Heute sehe ich das anders. Ich arbeite gern viel, wenn mir die Arbeit Erfüllung verschafft, wenn ich sehe, dass ich durch meine Arbeit etwas bewirken kann, dann schaue ich ganz bestimmt nicht auf die Uhr und ersehne den Feierabend.

In den ersten Jahren unserer Selbständigkeit war das auch so. Richard und ich waren fast rund um die Uhr für die Firma tätig, Richard war entweder bei den Kunden vor Ort oder arbeitete im Büro an der Umsetzung seiner Ideen und Projekte für die einzelnen Kunden. Mein Bereich war der gesamte Bürokram, jeglicher Schriftverkehr, die Buchhaltung, alles, was die innerbetriebliche Organisation betraf. Denn wir vergrößerten uns rasch, hatten Mitte der 90er Jahre mehrere ausgebildete Unternehmensberater, dazu einige Softwareentwickler und drei Auszubildende, eine zur Bürokauffrau und zwei zu Datenverarbeitungskaufleuten.

Das hatte ich übrigens geschafft: Ohne jegliche kaufmännische Ausbildung hatte ich von der Industrie- und Handelskammer die Genehmigung erhalten, Lehrlinge auszubilden. Dazu brauchte ich die Ausbilder-Eignungs-Prüfung, die mir aber keine größeren Probleme bereitete, da ich meinen Mitstreiter/innen ja einiges an didaktischen Vorkenntnissen voraushatte. Den Bereich „Recht“ fand ich übrigens auch hier wieder entsetzlich trocken und theoretisch und war froh, als ich ihn hinter mir hatte und auch hier mit einer akzeptablen Zwei bestanden hatte. Die praktische Prüfung, eine kurze Lehrprobe, musste ich allerdings zweimal abhalten. Beim ersten Mal waren die Prüfer der Meinung, meine Darbietung sei zu kurz und knapp gewesen, ich als fertige Lehrerin bekam allen Ernstes für meine Lehrprobe eine glatte Fünf und wollte mir am liebsten die Kugel geben. Seltsamerweise habe ich mein Werk dann nur geringfügig überarbeitet, in einem Nachprüfungstermin erneut vorgestellt und dafür satte 96 von 100 möglichen Punkten erhalten. Von diesem Vorfall sprach die Leverkusener IHK noch viele Jahre lang.

Die Arbeit mit den Lehrlingen machte mir sehr viel Spaß. Vielleicht wäre ich doch eine gute Lehrerin geworden, wobei es mich ja, schon durch die Arbeit am Institut, mehr zur Erwachsenenbildung hingezogen hatte. Ich war jedenfalls stolz wie Oskar, als ich alle drei ordentlich durch die Abschlussprüfung gebracht hatte, zumal die eine, meine Azubine zur Bürokauffrau, mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatte wie ich, alles, was mit Buchführung und kaufmännischem Rechnen zu tun hatte, wollte absolut nicht in ihren Schädel. Ich weiß noch, wie sie immer mit ihren Aufgaben zu mir kam, sehe dieses furchtbare Blatt mit den T-Konten im Fach Buchführung noch vor mir, und irgendwo muss ich wohl eine stark ausgeprägte schauspielerische Ader haben, jedenfalls habe ich einen sehr wissenden Eindruck gemacht, sie merkte niemals, dass ich noch um Welten weniger Ahnung von Buchführung hatte als sie, dass für mich selbst die Grundbegriffe absolut böhmische Dörfer waren.

Dafür war ich umso besser, wenn es um die Kommunikation mit der Berufsschule ging, ich kann mich an regelrechte Krisensitzungen mit Michaelas Klassenlehrerin erinnern, weil ihre Fähigkeiten eindeutig auf anderen Gebieten lagen als auf Mathe und Buchführung. Sie war beispielsweise unschlagbar im Umgang mit Kunden, wusste ihre weiblichen Reize, sowohl in natura als auch am Telefon, weitaus besser einzusetzen als ich, die ich damals eher die Spröde und Unnahbare gab, wobei das zu dieser Zeit auch mehr mein Naturell war. Ich war halt so, heute ist das anders, heute bin ich selbstsicherer und spiele gern mal mit meinem Gegenüber. Damals habe ich Michaela oft bewundert, wie sie mit unseren Kunden umging, ungeachtet deren jeweiliger Stellung im Unternehmen, sie flirtete mit dem Lehrling genauso wie mit dem Geschäftsführer. Demzufolge nahm Richard sie auch ab und an mit, wenn es um Termine mit nicht hochoffiziellem Charakter ging, sondern es sich einfach gut machte, wenn ein hübsches Mädchen, natürlich üppig ausgestattet mit langen blonden Haaren, dabei war.

Mit der Reife war es allerdings dann doch nicht so weit her, denn sie setzte ihren Charme nicht wertneutral ein, sondern nur bei den Leuten, die sie mochte. Wie in jedem Unternehmen, so gab es natürlich auch bei uns Kunden, vornehmlich Kundinnen, die nicht so ganz ihre Wellenlänge waren, die wir alle nicht besonders mochten, aber halt neutral behandelten. Bei ihr aber war der Unterschied eklatant: Sie konnte in dem einen Augenblick mit einem ihrer Lieblingskunden am Telefon säuseln, was das Zeug hielt, und im nächsten Moment, wenn unser aller Alptraumkundin Frau Brettschneider anrief, eine so muffelige und unfreundliche Art an den Tag legen, dass besagte Dame sich prompt bei Richard und mir beschwerte. Daraufhin gab es zwar eine Rüge an sie, aber ob die dauerhaft Wirkung zeigte, kann ich heute nicht mehr sagen.

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Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
474 s. 8 illüstrasyon
ISBN:
9783944224084
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Metin
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