Kitabı oku: «Die Herrin und ihr Knecht», sayfa 20
Der Russe kratzte wieder an der Glocke herum. Nur schwer rang er sich das Folgende von der Seele:
»Im Krieg kommt so etwas schnell,« versetzte er. »Man erzählt sich jetzt hier allerlei. Und dicker Doktor hinterbrachte mir heute, daß wieder vorwärts geht.«
»Dann werden Sie vielleicht alle bald Ihr Quartier verlassen müssen?« atmete Johanna hörbar.
Der Russe stöhnte. »Ich nicht – andere – ich nicht.«
»Weiß der Fürst schon von dieser Möglichkeit?«
Es mußte etwas im Klang ihrer Stimme liegen, was Leo Konstantinowitsch veranlaßte, inne zu halten. Lauernd schob er seinen Kopf hinter der Lampenglocke hervor, und seine blauen Knabenaugen flackerten unruhig über die hohe Gestalt hinweg.
»Was weiß ich von den ordres, die Fürst empfängt?« knurrte er übel gelaunt. »Hat nicht die Gnade, sie mir mitzuteilen. Zufällig wurde mir nur durch unseren Wachtmeister bekannt, daß er im Moment bei den anderen Kameraden in Schenke sitzt. Eine große Herablassung, zu der sich Seine Durchlaucht sonst nicht hergibt. Muß etwas ganz Besonderes in Luft liegen.«
»Das ist nicht meine Sache,« schloß die Hausherrin gleichgültig. »Wohl zu ruhen.«
Und sie ging mit einem kurzen Neigen heraus.
Je weiter die Nacht vorrückte, desto öfter fand sich Johanna in ihrem unruhigen Schlummer gestört. Bald rasselte es über die Landstraße, als ob schwere eisenklirrende Gespanne unter Flüchen vorwärts getrieben würden, bald drang das eigentümliche Knirschen zu ihr herauf, das entsteht, wenn unzählige nägelbeschlagene Stiefel die Chaussee treten. Gleich darauf versank wieder alles in Stille, bis das Fauchen von Automobilen und das Getrappel größerer Reiterscharen sie von neuem aus den Gründen der Vergessenheit aufjagten. Die Einsame schlug die Augen auf und lauschte. In dem kleinen niedrigen Zimmer hing noch tiefe Finsternis, und gerade jetzt, wo die Hausherrin das wilde Getriebe dort unten deutlicher zu unterscheiden suchte, da war alles wieder in seine frühere Lautlosigkeit zurückgesunken. Nichts verkündete sich der Liegenden, als das hohle Aufspritzen einzelner Tropfen, die mit der Regelmäßigkeit des Pendelschlags aus der Dachrinne herunterrollten.
Aber nein – auf dem schmalen Gang des Stockwerks bewegte sich ein Türklopfer.
Johanna wußte nicht, von welcher Gewalt sie emporgerissen wurde. Furcht, scheue Ahnung eines überwältigenden Unheils und das Nachwirken all der kranken Grübeleien, die seit ihrem Zusammenbruch ihr nüchternes Urteil zerrüttet hatten, dieses seltsame Gemisch erhielt eine nicht mehr zu bannende Gewalt über sie.
Ein Sprung – und sie hatte lautlos ihre Tür um eine Linie geöffnet.
Sie hatte geöffnet und sah draußen in dem ungewissen Dämmer, der durch das kaum fußhohe Fensterchen am Ende des Ganges fiel, – sie sah, zusammengeduckt und atemlos, wie das Bild dort oben an ihrer Wand das Gemach ihrer Schwester Marianne verließ. Es schlich an ihr vorüber, die Treppe knarrte, und dann tickte wieder der Pendelschlag aus der Dachrinne.
Eins – zwei – drei.
Die große Blonde aber, die gewalttätige Walküre, sie stand in ihrem weißen Hemd und regte sich nicht. Weder schrie sie auf, noch führte sie mit der geballten Faust einen Schlag gegen den Kupferstich, so daß das deckende Glas in tausend Scherben zersprang. Langsam, zitternd vielmehr, führte sie die Finger an den Mund und tat dasjenige, was sie ihr ganzes Leben hindurch aus dem Zwang der Verhältnisse heraus geübt hatte – sie rechnete. Das Exempel war wieder an seinem Ende angelangt. Zuerst den Leichtsinn des Vaters gebüßt durch ungezählte Jahre, jetzt, nachdem das Haus mühsam aufgebaut war, da brach die Welt zusammen, und die Schande kroch heimlich in ihre Nähe.
Was nun? Mußte jetzt wieder ein unerbittlicher Strich gezogen werden? Wie fing man das nur an, wenn man so allein war?
Über ihrem Haupte rollten die Tropfen, und der Pendelschlag tickte weiter.
Am nächsten Morgen hatte Fürst Fergussow das Haus ohne Abschied verlassen. Man brachte Johanna ein Schreiben von ihm. In dem Kuvert lag ein Schutzbrief des Obersten sowie ein paar Tausendrubelnoten zum Ausgleich des der Gutsbesitzerin erwachsenen Schadens. Johanna nahm beides, ihre Brust schien einen Moment still zu stehen, dann senkte sie das Haupt, strich sich die Haare aus der Stirn und schloß die Sendung umsichtig in ihre Kommode.
IV
Tiefe Finsternis ruhte über der weiten, russischen Erde, als der Leiterwagen mit den deutschen Geiseln in der Gouvernementsstadt anlangte. Ein heftiger Wind sauste über den zahnlückigen Marktplatz und flackerte ängstlich um die Flammen der wenigen Gaslaternen, die sich aus dem vermorschten Holzbelag der Bürgersteige erhoben. Und doch schlief die dunkle Stadt nicht, nein, im Gegensatz zu dem preußischen Gemeinwesen, das sie vor kurzem verlassen, merkten die Fortgeschleppten voller Befremden, wie hier die Nacht widerhallte von verstecktem Leben, von Daseinsfreude und Genuß, als ob diese Regierungsstätte des Zaren sich schon nicht mehr um den nahen Völkerstreit zu kümmern hätte. Durch die erleuchteten Fensterscheiben der elenden kleinen Gasthäuser und Kaffees sahen die Vorüberfahrenden, wie sich an jenen Orten zweifelhafter Geselligkeit eine dichte Menge drängte. Zahlreiche Offiziere aller Waffengattungen zechten hier, die Mützen schief auf den Köpfen, neben eleganten Frauen, man hörte Wiener Walzer aufklingen und dazwischen das Tremolieren vortragender Chantantkünstlerinnen. Gelächter und Bravorufe belohnten die Darbietungen der kurzgeschürzten Damen.
Gefesselt hüllte sich Isa fester in ihren grauen Regenmantel, und sie versuchte in dem flüchtigen Lichtschimmer, der ab und zu über die Straße huschte, in den Zügen des neben ihr sitzenden, gänzlich in sich versunkenen Konsuls Bark zu lesen, welchen Eindruck das unerwartete Treiben auf ihren Gefährten hervorbrächte. Als sich jedoch, soviel sie erkennen konnte, der Ausdruck verbissener Entschlossenheit auf dem Antlitz des Kaufmannes nicht veränderte, da spähte sie wieder neugierig umher, denn in ihrem jungen, unerfahrenen Gemüt überwog bei jener traurigen Fahrt noch das Interesse an dem Ungewohnten und Abenteuerlichen. Und der Konsul ließ sie gewähren, denn er ahnte, wie bald sie den grimmigen Ernst ihrer Lage begreifen würde.
Jetzt verlangsamte sich der Trab der Pferde. Sie fuhren an den dunklen Massen der russischen Militärkirche vorbei, und in dem trüben Flackern von ein paar Gaslichtern sahen die Deutschen, wie der Metallüberzug der byzantinischen Kuppeln einen glitzernden Widerschein warf.
»Man halte,« rief der baltische Unterleutnant, der das Kommando über die Begleitmannschaft führte, und erhob sich.
Ganz dicht aus einer der Seitenstraßen vernahm man das Geräusch einer sich nahenden Volksmenge. Feierlich, dumpf, inbrünstig und wehklagend erschallte nach dem Takt der Schritte vielhundertstimmiger Gesang, auch die Soldaten des Transportes entblößten demütig ihre Häupter, und ehe Geiseln und Gefangene noch recht die Erklärung ihres jungen Adligen begriffen hatten, daß jenes packende geheimnisvolle Lied die russische Nationalhymne wäre, da schwenkte der Zug schon auf den Kirchplatz ein. Voran ein Fackelträger, dicht hinter ihm, zwischen zwei bekränzten Stangen hängend und unheimlich von der rauchenden Flamme überflutet, das Bild des gekrönten Zaren, und in seiner Gefolgschaft die unübersehbare, singende Menge. Fabrikarbeiter, alle Häupter entblößt, alle Hände gefaltet, und alle, alle von dem einen starren Gedanken beseelt, Sieg, Sieg für die russischen Waffen zu erflehen.
So zogen sie dahin, dumpf, taktmäßig, eine inbrünstige Beterschar, und ihr Weg führte sie an den erleuchteten Fenstern vorüber, hinter denen die Champagnerkelche klirrten und das Gekreisch der sich wiegenden Soubretten das Locken der Geigen überschrillte.
Mitleidig schlug die Nacht ihren Mantel um den grauenhaften Widerstreit, in dem die russische Seele sich selbst anfiel und zerfleischte.
Auch Unterleutnant Karström hatte die Mütze vom Haupt gezogen, jetzt schickte er noch einen trüben Blick hinter dem entschwindenden Fackellicht her, um dann erwachend seinem Kutscher den Befehl zu erteilen, auf die entgegengesetzte Seite des Platzes hinüberzulenken.
Aus der Dunkelheit tauchten die Umrisse eines stattlicheren Gebäudes auf. Es war das Hôtel de Moscou, der vornehmste Gasthof der Stadt.
»Für die Herren Senatoren ist hier bereits Quartier bestellt,« erklärte der junge Offizier, als erster von dem Leiterwagen herunterspringend. »Es steht den Herren selbstverständlich frei, hier zu soupieren. Allerdings muß ich verlangen, daß keiner der Herrschaften ohne Aufsicht das Hotel verläßt. Und Sie?« setzte der uniformierte Knabe zögernd hinzu, als nun in der dunklen Schar der Magistratsmitglieder Konsul Bark sowie das schlanke Mädchen vor ihm standen, und es war, als ob er sich der ungewissen Frage ihrer Augen nicht gewachsen fühlte, »Sie? Um offen zu sein,« flüsterte er beiseite, »ich empfing den Auftrag, Sie beide heute noch der Polizeimeisterei einzuliefern.«
»Der Polizeimeisterei?« wiederholte Rudolf Bark finster, und Isa erschrak, weil der Großkaufmann sich die Lippe nagte, wie wenn er sich kein weiteres Wort entschlüpfen lassen wollte.
»Ist denn die Polizeimeisterei ein solch schlimmer Ort?« forschte sie erblassend.
Die beiden Männer warfen sich einen bedeutsamen Blick zu, dann aber schüttelte sich der schmächtige Offizier, und während er die deutschen Bürger, die sich schon unter dem Hauseingang drängten, durch eine Handbewegung zum Warten aufforderte, da schien der vornehme junge Mensch seinen Entschluß gefaßt zu haben:
»Ich glaube es verantworten zu können,« rang es sich willenskräftig von seinen zuckenden Lippen, »wenn Sie und die Dame« – hier verbeugte er sich leicht – »die heutige Nacht gleichfalls im Hotel Moscau verbringen. Ich hoffe, Sie werden mir Ihre Bewachung weder schwer machen,« lächelte er, »noch verübeln! Morgen freilich –« er zuckte die Achseln –
»Oh, ich verstehe,« rief Konsul Bark, ganz glücklich, wenigstens noch für ein paar Stunden der drohenden Einkerkerung entgangen zu sein, von deren Schrecken er sowohl durch Lektüre, als durch allerlei mündliche Schilderungen genügend unterrichtet war. Und schon, während er mit den anderen das kleine Vestibül betrat, da wälzte sein lebhafter und unternehmender Geist bereits allerlei Pläne, wie er sich und das hübsche, ahnungslose Mädel allen weiteren Anfechtungen durch ein unbeobachtetes Entweichen entziehen könnte. Denn eine Flucht mußte er bewerkstelligen, ganz gleich, ob er dem jungen Balten für die bewiesene Rücksicht verpflichtet war oder nicht; diesen Versuch schuldete er nicht nur der eigenen Freude am Dasein, sondern auch hundertfach seiner lieben, frischen Begleiterin, deren unaufdringliche Heiterkeit ihm zu einem gar nicht mehr entbehrlichen Trost geworden. Einen bewundernden Blick warf er auf den Rotkopf, der sich hier in dem unordentlichen Vorraum und umgeben von den sorgenbeschwerten älteren Herren doppelt anziehend unter seinem anspruchslosen Lackhut und in seiner schlanken Gertenhaftigkeit ausnahm.
Dann griff der Kaufmann instinktiv an seine Brust. Gottlob, die Brieftasche mit ihren knisternden Geldscheinen befand sich noch am rechten Ort. Und Rudolf Bark wußte, welch ein mächtiger Verbündeter diese bunten Blätter im Reiche des weißen Zaren zu sein pflegten.
Sie traten in die Gaststube.
In dem mit Stuck und Portieren überladenen Raum befanden sich ein paar lange, weißgedeckte Tafeln, und an ihnen hatten sich eine Anzahl höherer Offiziere, sowie die Spitzen der Behörden mit ihren Damen gelagert. Eine Reihe von Zeitungen wanderten von Hand zu Hand, man las sich einzelne besonders wichtige Nachrichten vor, man stieß auf die Gesundheit des Großfürsten an, man lachte und strahlte, denn aus all jenen Neuigkeiten verkündete sich immer wieder die eine felsenfeste Gewißheit – die Feinde Mütterchen Rußlands und seiner Verbündeten, sie lagen am Boden, sie zappelten und verröchelten unter dem Schwert ihrer Bedränger, man schlug sie einfach »mit Mützen tot«. Dieses Scherzwort hatte besonders ein untersetzter, stiernackiger Generalleutnant geprägt, der am Kopfende der größten Tafel präsidierte und dessen von vielen Ringen geschmückte, fleischige Rechte unaufhörlich verschiedenartig gefärbte Liköre zu dem von Hitzblattern entstellten Antlitz hob. Seine verkniffenen Augen schwammen förmlich in Gutmütigkeit und Wohlbehagen, als er die Reihe der ihn feiernden Damen musternd, in prasselndem Kehlbratenton herunterrief:
»Sie können es mir glauben, meine Damen, mit den Mützen. Beachten Sie bitte den tieferen Sinn in diesem Wort. Ich bin stolz darauf, in einem Rapport an Se. Kaiserliche Hoheit, den Großfürsten, es zuerst angewendet zu haben.«
Als der Name des kaiserlichen Verwandten fiel, trat eine feierliche Pause ein. Die Offiziere streckten ihre Gläser starr vor sich hin, und die Damen warfen Kußhände. Geschmeichelt verneigte sich die dicke Exzellenz nach allen Seiten. Dann beugte er seinen kahlen Schädel, auf dem sich der Glanz der elektrischen Lichter widerspiegelte, tief zu seiner besonders eleganten Nachbarin hinüber, und seine verkniffenen Augen wiesen deutlich auf die eintretende Schar der Geiseln, die sich wortlos und gedrückt an einem kleinen runden Tisch unter der Fensternische niederließ.
»Ah, Sie, Herr Unterleutnant,« winkte der Fette den jungen Balten darauf gnädig zu sich heran, nachdem seine unförmliche Rechte nachlässig für den strammen Gruß des Untergebenen gedankt hatte. Und in einem Rest von Rücksicht und Lebensart dämpfte die Exzellenz ihre knirschende Bratenstimme zu einem merkwürdigen Gezische, als sie sich jetzt, für alle vernehmbar, nach dem Transport des Offiziers erkundigte.
»Ah so – Geiseln!? Bürgermeister und Magistratspersonen? Hm, unbedeutende Physiognomien. Nicht wahr? Finden Sie nicht gleichfalls, Gnädige? Die Deutschen sind sämtlich Maschinen. Keine Individualitäten. Wir dagegen sind Künstler, eigenwillige Künstler.« Und die zwinkernden Äuglein auf Isas anmutige Erscheinung richtend, schien die Exzellenz nunmehr Bericht über die auffallende Anwesenheit der jungen Nemza einzufordern.
Neugierig steckte die ganze Tischgesellschaft die Köpfe zusammen, Ausrufe des Erstaunens, aber auch des Mißvergnügens, ja der Drohung flogen hin und her, als der Kreis der Tafelnden den näheren Zusammenhang erfuhr.
»Wie? Ist es möglich? – Sassin? – Ein Attentat auf Leo Konstantinowitsch? – Gibt es noch ein gutmütigeres Kind auf der Erde? – Ein Mensch, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte? Hat er nicht sein Geld in Scheffeln zum Fenster hinausgeworfen? – Hier wird man hoffentlich die ganze Strenge walten lassen!«
»Es ist bedauerlich,« schnaufte der General und wischte sich die wulstigen Lippen, »daß das nächste Kriegsgericht erst in Mariampol tagt. Nicht wahr, meine Herren, in Mariampol? Wir haben es seiner großen Überlastung wegen und – ganz gewiß – auch, um seine Unparteilichkeit sicher zu stellen, zurückverlegen müssen. Aber,« fügte er pompös hinzu und lehnte sich hintenüber, »vielleicht kann hier auch ein kürzerer Modus Platz greifen.«
»Habt Ihr es gehört? Dies ist eine vortreffliche Ansicht,« raunte es bei den Offizieren, aber es trat sofort eine aufmerksame Stille ein, als sich jetzt eine frische, besonders wohllautende Frauenstimme ganz dicht neben dem General in die Unterhaltung mischte: »Wollen Sie uns Ihre Idee nicht erläutern, Exzellenz?«
»Erläutern? Warum, meine Teuerste?« sträubte sich der Dicke und bekam einen noch röteren Kopf. Jedoch nachdem er mit seiner fleischigen Hand ein Paar Zahnstocher geknickt hatte, rückte er ganz nahe an seine blühende Nachbarin heran, um ihr salbungsvoll und verliebt ins Ohr zu flüstern: »Wer kann solchen Taubenaugen widerstehen? Aber meine Meinung ist, wir haben Krieg, meine Liebste, Krieg, verstehen Sie? Da läßt sich ein solches Verfahren auch sehr vereinfachen. – Aber nun lassen wir uns von etwas Hübscherem sprechen! Sie fühlen sich gewiß vereinsamt, Maria Geschowa? Ist es so?«
Maria Geschowa?
Noch ehe der Name der Tatarin gefallen war, ja, im gleichen Moment, da der Konsul den warmen sinnlichen Klang der wohllautenden Stimme aus dem Gewirr der anderen sich ablösen hörte, da hatte der Herr des »Goldenen Becher« seinen Stuhl ein wenig beiseite geschoben, um zu versuchen, ob er die Aufmerksamkeit der jungen Frau auf sich zu lenken vermöchte, die auch heute wieder so fremd und vorteilhaft von den übrigen Provinzdamen abstach. Flüsterte ihm doch eine innere Stimme zu, dieses dunkle, samtwangige Weib, das sich schon einmal so viel Mühe gegeben hatte, ihm zu gefallen, es sei das einzige Wesen in der fremden Stadt, das weder Vergnügen noch Genugtuung bei seinem Untergang empfinden könnte.
Und bei Gott, sie sah ihm jetzt gerade ins Gesicht! Aber welche Enttäuschung! Maria Geschowa verzog keine Miene, fremd und leer betrachtete sie ihn, wie ein Ausstellungsobjekt, wie einen Verbrecher, bei dem man unter Schauder und Nervenkitzel berechnet, welche Striemen der Strick um seinen Hals hinterlassen würde, und jetzt hob die schmale Hand sogar eine Lorgnette vor die Augen, um sie gleich darauf wieder gleichgültig zusammenzufalten.
Damit schien ihr Interesse völlig erloschen zu sein, sie streifte noch einmal abschätzend das rote Geflimmer um Isas Haupt und wandte sich dann mit ihren schwellenden Bewegungen zu dem alten General zurück, der sich soeben ein ganz besonderes Glanzstück seiner Rednergabe leistete. Die Rechte flach von sich gestreckt, so daß er das Funkeln der vielen Ringe bewundernd einsaugen konnte, ließ er seine fette Stimme braten und prasseln, als ob hier irgendwo eine Pfanne ans Feuer gerückt wäre.
»Herr Unterleutnant – wie war der Name? – Karström, oh, ich weiß recht gut – Sie sind noch ein junger Mann, aber ich billige Ihr Verhalten. Im Ernst, ich schätze Ihre Noblesse. Ihre Rücksicht gegen die beiden – hm, gegen die beiden – Verdächtigen kann mich nur befriedigen. Sie ist echt russisch. Warum sollen wir nicht immer und immer wieder ein Beispiel geben von dem edlen Herzen, das in unserem riesigen Körper schlägt? Ich bin zufrieden mit Ihnen. Sie sind ein hoffnungsvoller Offizier. Setzen Sie sich, Karström, und beaufsichtigen Sie die Nemzows.«
Mehr hörte der Konsul nicht. Er saß neben Isa, hatte den Kopf in die Hand gestützt und – schämte sich. Und während seine Nachbarin den inzwischen aufgetragenen Speisen mit dem ganzen Appetit der Jugend zusprach, während sie ihm wider alles Herkommen hausmütterlich den Wein einschenkte, während sie ihre hellen Augen spähend herumschweifen ließ, ob sie für ihren Freund nicht etwas recht Schmackhaftes erobern könnte, da zehrte Rudolf Bark an der Demütigung, die ihm eben zuteil geworden, und schalt sich selbst einen Phantasten, weil er von einem gefallsüchtigen, herzlosen Weibe Förderung und Hilfe erwartet hatte. Wie tief mußte sich bereits der Völkerhaß in die verborgenste Wurzel der Nationen herabgefressen haben, wenn sogar schon die Frauen des Nachbarreiches von der blinden Wut, von heimlicher Schadenfreude an fremden Schmerzen ergriffen waren. Und diese Maria Geschowa, diese Weltdame, diese Meisterin der Unterhaltungskunst, hatte sie nicht noch vor kurzem mit ihrem Verständnis für deutsche Kunst und westliche Art geprahlt? Der Konsul verzog ein wenig geringschätzig den Mund, und das, was er soeben über die Treue und Redlichkeit slawischer Frauen dachte, das klang nicht gerade in einen Lobgesang aus. Dabei wurden seine Augen wieder hart und berechnend. Nun gut, die Frau des Obersten Geschow war ausgeschaltet, aber wen, wen konnte er an ihrer Statt für sich und seine Pläne gewinnen? Denn das stand fest, nur die heutige Nacht, so lange er noch in dem Hotel weilte, durfte zu dem so ängstlich überdachten Entweichen benutzt werden. Sobald er erst der russischen Beamtenschaft verfallen war, dann umwanden ihn tausend Fesseln, sichtbare und unsichtbare, die Gefängnisse des Landes öffneten sich nicht wieder. Er griff nach seiner Brusttasche. Ob er mit dem Wirt des Hotels beim Schlafengehen eine vorsichtige Unterhaltung begann? Oder mit dem Portier des Hauses? Freilich, diese Dworniks waren sämtlich bezahlte Späher der Polizeimeisterei. Und doch – der höher Bietende behielt hier häufig recht. Wofür sich also entscheiden? Denn die Zeit drängte, der Zeiger der breiten Standuhr in der Ecke stand hart vor der elften Stunde der Nacht.
Rudolf Bark versank niemals so völlig in Gedanken und Überlegung, daß seine Augen von seiner Umgebung abgelenkt werden konnten. So hielt er auch jetzt plötzlich inne, und eine geheime Unruhe veranlaßte ihn, seine ganze Aufmerksamkeit auf eine Erscheinung zu richten, die soeben unter die Portiere des Eingangs trat. Fast im Fluge bemerkte der Konsul, wie der späte Gast noch unter den Falten des Vorhangs mit dem betreßten Portier ein paar rasche Worte wechselte, um sich sodann nach Art eines Platzsuchenden umzuschauen. Es war ein ganz unauffälliger Herr, sehr schlank, sehr glattgescheitelt, in einem grauen Jakettanzug, in dessen Seitentaschen ein Paar braune Glacélederhände Eingang suchten, und das schmale pockennarbige Gesicht würde keinen anderen Grund zum Mißtrauen geboten haben, wenn der glattrasierte Mund nicht so höflich-verlegen gelächelt und wenn in den verdeckten Augen nicht im Gegensatz hierzu eine solche Gewohnheit des Zählens und Feststellens gelauert hätte.
Sollte das vielleicht –? Der Konsul ließ das Messer sinken und verfolgte den Fremden Schritt für Schritt. Aalglatt, unhörbar wand sich der schmale Herr mit den braunen Handschuhen weiter in den Saal hinein. Seine Aufmerksamkeit schien einzig den noch leergebliebenen Stühlen an den anderen Tischen zu gelten, bis er plötzlich mit einer überraschenden Wendung vor der Tafel der Deutschen haltmachte, der er bis jetzt nicht die geringste Beachtung geschenkt.
Hier verbeugte er sich übermäßig tief und hauchte in einem Flüsterton, der sich kaum über einen Meter weit Gehör verschaffen konnte, jedoch voller Rücksicht und Ergebenheit:
»Ich habe die Ehre, Herrn Konsul Bark zu sehen?«
»Allerdings,« erwiderte der Kaufmann erblassend.
»Und dies ist, wie ich vermute, die Dame Ihrer Begleitung?«
»Ja,« stotterte Isa, die entsetzt auf das pockennarbige Antlitz starrte.
»Die Herrschaften brauchen sich durchaus nicht zu beunruhigen,« fuhr der verlegene Herr fort und winkte beschwichtigend mit der braunen Lederhand, als müßte er von vornherein die Bedeutungslosigkeit seiner Person sowie seines Auftrags in das gehörige Licht setzen. »Es liegt wahrhaftig nicht der mindeste Grund zu einer Befürchtung vor. Ich versichere es bei meiner Ehre. Es handelt sich lediglich um eine reine Formsache.«
Jetzt erstarb an dem Tische der Verschleppten auch das leiseste Geräusch, all diese deutschen Männer vergaßen im Moment ihr eigenes Mißgeschick, und ein heißes Mitgefühl wallte jedem auf, da sie ahnten, wie bald eine Lücke in ihren kleinen Kreis gerissen sein würde. Nur der knabenhafte Offizier verlor nicht eine Sekunde sein inneres Gleichgewicht. Unwillig verzog er die Stirn, und auf den abgezehrten Wangen glühten zwei helle Punkte auf.
»Was haben Sie mit den Herrschaften zu schaffen?« fragte er streng. »Sie sehen ja, daß sie sich unter militärischer Aufsicht befinden. Wer sind Sie überhaupt?«
Der Herr im grauen Jackett verbeugte sich wieder. Sei es nun, daß die drohende Sprache des jungen Balten so stark auf ihn wirkte, oder ob ihn wirklich die Erkenntnis von der Mißachtung niederschlug, die allgemein seinem Stande entgegengebracht wurde, jedenfalls klappte er zusammen, bis die grauen Arme steif herabhingen und den Deutschen für einen Augenblick nur sein schnurgerader Scheitel sichtbar blieb.
»Herr Unterleutnant,« hauchte er tonlos, »mein Name ist zu unwichtig und unbedeutend, als daß ich es wagen dürfte, Ihr Gedächtnis damit zu beschweren. Und was meine Stellung betrifft,« – er tauchte vorsichtig in die Höhe und zuckte schmerzlich mit den Mundwinkeln, – »ich hatte auch einmal meine Studienzeit, aber jetzt bin ich seit sechzehn Jahren der Sekretär Sr. Hochgeboren des Herrn Polizeimeister-Stellvertreters Tolmin.«
In dem ganzen Saal war es totenstill geworden. An der Tafel der Offiziere hatten sich alle Häupter der Gruppe der Fremden zugekehrt, und selbst der fette General streckte die Beine von sich und ließ die Unterlippe herabhängen, als sei die Unterhaltung dort drüben eine gut genährte Auster, die er auf einen Zug in sich hineinschlürfen müsse.
»Sehen Sie, Maria Geschowa,« knasterte er behaglich, »zweifeln Sie noch länger an der Zuverlässigkeit unserer Polizei?«
Inzwischen hatte sich auch die schlanke Jünglingsgestalt des Unterleutnants Karström von ihrem Sitz erhoben. Niemals während der ganzen Zeit hatte er so krank und hinfällig ausgesehen, wie jetzt, und doch klang seine Stimme fest und sicher, als er nun voller Verachtung hervorstieß:
»Dann schleichen Sie gefälligst nicht wie die Katze um den Brei! Was haben Sie an den Konsul Bark und seine Begleiterin für einen Auftrag?«
»Oh, eine Kleinigkeit,« lächelte der verlegene Herr mit den braunen Handschuhen und bemühte sich, durch das Entblößen seiner weißen Zähne alle Anwesenden von seiner vollkommenen Harmlosigkeit zu überzeugen. »Es ist absolut nichts. Der Dwornik des Hotels de Moscou erstattete nur seiner Pflicht gemäß Anzeige über die zuletzt eingetroffenen Fremden an den Pristav des hiesigen Reviers, Se. Hochwohlgeboren der Pristav telephonierte es ordnungsgemäß an den Herrn Polizeimeister-Stellvertreter weiter, und Se. Hochwohlgeboren wünscht nun –«
»Zum Teufel, was wünscht er?« schrie der Balte sich vergessend und stieß mit der Scheide seines Säbels ungeduldig auf den Estrich.
»Er ist noch sehr jung,« begleitete der fette General bedenklich diesen Vorgang.
Der graue Herr aber bebte vor dem Zornesausbruch des Offiziers zurück, zeigte krampfhaft seine weißen Zähne und streichelte mit der braunen Glacérechten unaufhörlich in der Luft herum, als gelte es, einen bissigen Hund zu besänftigen:
»Oh, Ew. Hochwohlgeboren,« flötete er gleich einem erschreckten Vogel, »Sie verkennen meine gute Absicht, der Herr Polizeimeister-Stellvertreter wünscht nur die Personalien der Herrschaften festzustellen. In der wohlwollendsten Meinung natürlich. Zwar wird jedes Kind begreifen, daß die Herrschaften gewissermaßen das Eigentum einer hochmögenden Militärbehörde sind, – wer dürfte sich dagegen auflehnen? – aber der Herr Polizeimeister-Stellvertreter sind leider in der peinlichen Lage, auf eine persönliche Kontrolle nicht verzichten zu können.«
Hilflos wandte sich der Unterleutnant an seine Schutzbefohlenen, die sich langsam und wie von einem drückenden Traum umfangen, erhoben hatten, dann verfing sich sein Auskunft heischender Blick zwischen den Hitzblattern der stiernackigen Exzellenz, als räume er dem Vorgesetzten völlig diese schwere Entscheidung ein.
»Ja,« schmorte der Fette und scharrte mit den Stulpstiefeln, »Kompetenzstreitigkeiten – aber Militär und Zivil müssen sich gegenseitig ergänzen, wir sind alle Räder eines Uhrwerks, nicht wahr, teuerste Frau? Man wird sich später nach dem Verbleib der Herrschaften erkundigen.«
Einige Minuten nachher bewegte sich eine kleine Schar über den dunklen Kirchplatz. Voran ein Gendarm der Geheimpolizei, dicht hinter ihm der Konsul, umschlottert von einem dicken braunen Flausch, den ihm beim Abschied einer der Senatoren fast mit Gewalt umgehängt, und zum Schluß der graue Herr mit den braunen Glacéhandschuhen, der trotz aller Weigerungen darauf bestanden hatte, der jungen Dame den Arm zu reichen.
»Euer Hochwohlgeboren,« flüsterte er Isa zu, der vor dem heranstreichenden kalten Wind, sowie vor innerer Unruhe und Angst jedes Wort hinter den zitternden Lippen erstarb, »ich bin sehr unglücklich darüber, weil Euer Hochwohlgeboren so beben – ich fühle es ganz deutlich – jedoch es ist völlig grundlos! Sie werden sich selbst davon überzeugen. Bitte um Entschuldigung, das Pflaster ist hier miserabel, für zarte Füße eine verwünschte Plage. Ich versichere Sie, im vorigen Sommer sollten hier schon Holzplatten gelegt werden, aber was werden Sie denken, es wird immer wieder verschoben. Die Geldfrage läßt sich nicht regeln! Und dort in der schmalen Seitengasse befindet sich bereits die Polizeidirektion! Wie Sie sehen, alle Fenster erleuchtet, wir arbeiten hier die ganze Nacht durch.«
Vor einem zweistöckigen, grünlich angelaufenen Gebäude hemmte der Gendarm seine Schritte, stieg drei brüchige Stufen in die Höhe und riß an einem Klingelzug. Ein rostiges Klirren erhob sich drinnen, das scheinbar von einer nackten Mauer zurückgeworfen wurde. Aber sonst ereignete sich nichts. Auch die Tür blieb ruhig in ihren Angeln.
»Der verwünschte Hund schläft wieder,« knurrte der Gendarm ingrimmig, dann schlug er mit der Faust mächtig gegen das Holz, bis im Innern des Gebäudes ein langgezogener Schnarchton abriß und ein Schlüsselbund zu rasseln anfing.
»Beim Leib Christi,« schimpfte hinter dem Eingang eine heisere Stimme, »vierzehn Stunden Dienst und nichts zu essen. Man wird doch wohl den passenden Schlüssel suchen dürfen. Der Krebs kommt auch an sein Ziel, und Ungeduld gehört nicht in die Backstube.«
Bei den letzten Worten bewegte sich schwerfällig die Tür, und ein von einer flackernden Gasflamme erleuchteter roter Ziegelgang lag vor den zögernd eintretenden Deutschen.
»Ist der Herr Polizeimeister noch im Hause?« fragte der Herr im grauen Rock in die Ecke hinein, denn hinter dem zurückgeschlagenen Torflügel war im Moment kein menschliches Wesen zu entdecken.
»Er ist schlafen gegangen,« antwortete die unsichtbare mürrische Person.
»Sehr schön! Und der Herr Polizeimeister-Stellvertreter?«
»Zimmer Nr. 2. Se. Hochwohlgeboren ließ sich soeben Essen holen. Ein Hahn mit weißer Sauce. Es dampfte noch. Einen Teller voll sauren Salats und eine Flasche roten Wein. Einen Hungrigen und einen Toten sollte man auch zusammen in einen Sarg legen.«
»Es ist gut, Vater Wassili, ich danke dir,« entgegnete der höfliche Herr und entblößte wohlwollend seine Zähne. Und eine seiner aalgeschmeidigen Verbeugungen ausführend, wies er auf eine enge, eiserne Treppe, die sich im Zickzack nach oben zog: »Wollen Sie diesen Weg benutzen. Die Treppe gebührt unseren besseren Gästen, die anderen, die mit den nägelbeschlagenen Stiefeln werden über den Hof geführt. Und warum? Nun, nichts zerreißt, wie Sie wissen, die Nerven mehr, als das Kratzen des Sandes auf den Stufen.«