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Kitabı oku: «Die Herrin und ihr Knecht», sayfa 24

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Aus dem unentwirrbaren Knäuel der Bagagewagen schlich sich Marianne zur Seite. Hindurch durch Geschützbespannungen, durch schreiende und brüllende Haufen, die sich aus versprengten Trümmern wieder in ordnungsmäßige Kompagnien und Regimenter zu schichten suchten. Zwischen den wilden Schreien der Verwundeten wand sie sich dahin, die unbekümmert und in Hast mitten auf die Pflastersteine des Marktes ausgeladen wurden. Vorbei an scheuenden Pferden und hilflos am Boden kauernden Trupps, die sich niedergeworfen hatten und den Gehorsam zu verweigern schienen. Durch die Zertrümmerung und das Auseinanderbrechen einer zurückflutenden Armee, die noch einmal dazu zusammengerafft werden sollte, eine letzte Stellung zu verteidigen. Durch das Grauenvolle der in allen Rädern zerschmetterten Maschine, die nur noch sinnlos kreischte, rasselte und surrte. Und wie schwarz und ameisenhaft es sich um die Davonwankende herumdrängte, welche lasterhaften Flüche, welche rohen Beschimpfungen in einer fremden Sprache gegen sie brandeten, das Mädchen in den zerfetzten und blutbesudelten Kleidern besaß nicht mehr das geringste Verständnis für ihre Umgebung. Schlürfend tastete sie sich vorwärts, mit der Rechten kraftlos an den Mauern der dunklen Seitenstraße entlang gleitend. Was sie dort suchte, wußte sie nicht mehr. Sie wollte nur gehen und gehen und wandern, nachdem sie vorher schmachvolle Stunden, jeder Bewegung beraubt, auf dem faulenden Stroh des Planwagens verbracht. Das war gar kein Mensch mehr, sondern ein Wesen, das sich gedankenlos fortbewegte und nur noch eine stumpfe Freude darüber empfand, weil ihre verschnürten und gefesselten Glieder sich trotzalledem dehnten und regten. Zu anderen Zeiten hätte ein Vorübergehender stehen bleiben können, um der Bettlerin ein Almosen in die Hand zu drücken. So rasch, so von Grund aus, so irrsinnig hatte der Krieg, der der Umsturz alles Bestehenden ist, ein blitzendes Leben ausgelöscht und in den Kot geschleudert. Und gleich ihr Tausende, Abertausende, die noch atmeten und gar nicht begriffen, daß sie schon begraben waren.

Aber jetzt in der pechfinsteren und menschenverlassenen Gasse, da schlugen Stimmen an das Ohr der Gleichgültigen, von denen getroffen sie ihr müdes Weitertasten unterbrach, um in fernem Besinnen durch Dunst und Nacht zu horchen.

»Sehen Sie sich noch einmal nach ihm um, lieber Bienchen,« klang es wohllautend und doch zugleich von einer anheimelnden Güte durchdrungen, »ich werde hier auf Sie warten. Aber dann – dann muß es sein. Länger dürfen wir es nicht mehr aufschieben, sonst könnten unsere ganzen Sorgen und Bemühungen vergeblich gewesen sein. Und das wollen Sie doch nicht?«

»Nu nein, ich will es nicht,« ertönte bekümmert und kleinmütig eine kratzbürstige Reibeisenstimme dagegen. »Wie darf ich Sie allein lassen bei dem Schauderhaften? Ich leb' sowieso nicht mehr. Wahrhaftig, ich stell' mir immer vor, daß ich mich nur noch auf Kredit, auf Borg hier unten befind'. Nun also, ich werd' durch den Keller gehen und mich nach ihm umsehen. Sie werden sich ganz ruhig verhalten und hier warten. Aber bei meinem Leben, 's ist schrecklich solch ein Geschäft.«

Während der letzten Worte wurde an einer unsichtbaren Tür geschlossen, und dann verloren sich hinunterschlürfende Tritte in einem Erdgeschoß.

Gleich darauf war alles still wie zuvor. Doch nein, hinter dem Häuservorsprung, den man kaum noch unterscheiden konnte, stahl sich eine Melodie hervor. Der Zurückgebliebene vertrieb sich die Zeit durch ein klangreiches Summen, und die feinen Schwingungen wie das zarte Taktgefühl bekundeten deutlich den geübten Musiker.

Um Gottes willen, das konnte doch nicht –?

Und so abgerissen die Noten sich auch dem verschleppten Mädchen einprägten, sie erweckten ihr doch das Bewußtsein, daß sie nicht immer als eine Entwürdigte und Verstoßene durch die Gassen geirrt sei. Langsam wachte sie auf, und eine matte Gier nach Ruhe und Schlaf und Vergessenheit überfiel sie. Mit einem unsicheren Schritt trat sie näher, streckte den Arm aus und fuhr zurück, als sie in der Dunkelheit ihre Finger auf dem Stoff einer groben Arbeitsjacke spürte.

»Ich weiß nicht, – Fritz – Fritz Harder, bist du es?« wollte es sich ihr in einer heiseren, ihr selbst schreckhaften Sprache entringen, da wurde mit einem festen Griff nach ihrem Arm gefaßt und dadurch jede weitere Anrede im Keim erstickt.

»Keinen Namen,« forderte eine Stimme, die allen Widerspruch ausschloß und die dennoch das vor Erschöpfung strauchelnde Weib mit ihrer bekannten ehrlichen Wärme ins Leben zurückrief. »Aber du, Marianne, – Sie – wie kommen Sie hierher?«

Der Angeredeten gebrach es an Atem, sie schwankte und lehnte sich fest gegen den angebotenen Arm.

»Sie haben mich verschleppt,« stöhnte sie, und zum erstenmal in ihrem anspruchsvollen und verwöhnten Dasein stürzten der Zerschmetterten Tränen der Verzweiflung über die Wangen.

»Ist Ihnen etwas geschehen?« forschte durch die Dunkelheit hindurch dieselbe gütige Stimme.

Keine Antwort.

»Ist Ihnen etwas geschehen?«

Da schüttelte die Schluchzende langsam das Haupt. Ein erster Anfang regte sich in ihr, ein Haschen, ein Besinnen, wie man aus den zerbrochenen Scherben vielleicht doch wieder die alte leuchtende Pracht aufrichten könne. Man brauchte ja nur die Kraft zu besitzen, das taumelnde Erlebnis fest in sich zu verschließen, ihm keine Ausgänge zu gewähren und dem Tag und der Nacht mit unverändert stolzen Augen ins Antlitz zu schauen. Und war es nicht ein beredter Zufall, daß sich ihr sofort eine dienende Hand entgegenstreckte, die gewiß keinen höheren Ehrgeiz kannte als sie zu stützen? Noch blitzten solche Erwägungen unbestimmt und verwirrend durch das zerhämmerte Hirn, und doch sprach sie schon etwas gefaßter:

»Ich muß mich setzen können, Fritz. Du mußt mich in dein Zimmer führen und – und bei mir bleiben.«

Auf der anderen Seite blieb es eine Weile still. Deutlich merkte Marianne, wie neben ihr in der Finsternis ein heftiges Ringen um Ruhe und Gelassenheit anhob. Dann aber entgegnete ihr unsichtbarer Gefährte mit derselben Entschiedenheit, durch die das Mädchen schon zu Anfang in Erstaunen gesetzt war:

»Marianne, ich kann Sie nicht begleiten. Das Haus ist von russischen Offizieren belegt, und nur den Keller haben sie dem Uhrmacher Adameit, meinem ehemaligen Hauswirt, übrig gelassen. Dort unten liegt er nun gelähmt, vom Schlage getroffen, zwischen Leben und Sterben. Sie tun gewiß ein gutes Werk, wenn Sie zu dem Hilflosen hinabsteigen. Auch wird in dem dumpfen Raum kein Mensch eine Dame, wie Sie, vermuten.«

»Eine Dame?«

Die Zurückgewiesene erschrak, als sie die jetzt so wenig zutreffende Bezeichnung auffing. Auch schwindelte ihr vor der Erkenntnis, wie ihr in ihrem Unglück selbst der letzte so sicher errechnete Beistand entglitt. Und dann – ein feuchter Keller sollte das Prunkgemach bilden, das ihr Schutz bot? Und ein gelähmter Handwerker ihr zur Gesellschaft dienen? Oh, es schwirrte durch die zerrissenen Sinne. Jedes Gefühl für Würde und Stolz entwich der Gedemütigten, und ohne zu ahnen, welche Wirkung sie hervorbrachte, verlegte sie sich aufs Schmeicheln.

»Fritz, so kannst du mich nicht behandeln – denk doch nur, du darfst mich nicht verlassen. Hast du mich wirklich ganz vergessen?«

Sanft versuchte sie seine Wange zu streicheln, allein mitten auf dem Wege wurde ihre feuchte kalte Hand von neuem festgehalten.

»Ja, Marianne,« beharrte der junge Offizier, der plötzlich so markig und schwungvoll sprach, wie sie es noch nie von ihm gehört, »es ist eine Aufgabe auf mich gelegt worden, vor deren Ernst und Wichtigkeit alles andere zurücktritt. Dem Himmel sei Dank, daß es einen solchen Ruf gibt. Tausende hören ihn jetzt und begreifen gar nicht mehr, daß sie noch vor kurzem eigene Wünsche hegten. So geht es auch mir. Ich grolle dir nicht und zürne dir nicht, ja ich danke dir dafür, weil du mich so frei und ungebunden für meine einzige Liebe und meine große Sehnsucht werden ließest.«

»Wer ist das?«, flüsterte Marianne verletzt und beleidigt.

Da lachte der Offizier im Arbeiterwams.

»Das ist der Boden, auf dem du stehst, die Sprache, die du redest und das Volk, das dich geboren. Du wirst erst wahrhaft leben, wenn du dich zu dem allen zählen kannst. Und du stirbst, sobald dies Höchste an dir vorübergeht.« Er brach ab, trat hinter den Mauervorsprung zurück und sagte ganz ruhig und überlegt: »Hier kommt Herr Leiser Bienchen herauf, er wird die Kellertür für dich offen lassen. Leb wohl, Marianne, an mich ergeht der Ruf. Wir ziehen geradeswegs in Glück und Verklärung hinein, nicht wahr, Herr Bienchen?«

Schaudernd sitzt die in den Keller Hinabgeirrte, ihrer selbst ungewiß, wie ein fremdes seelenloses Wesen, neben der hölzernen Pritsche, auf die man den alten Handwerker gelagert hat. Voll stummen Grauens trinkt sie die ihr unverständlichen Reden ein, die der von einer irren Spannung gefolterte Greis von Zeit zu Zeit ausstößt. Bald ringt er die Hände, bald hebt er lauschend das Ohr, als müsse und könne er sich nicht von dieser Erde trennen, bevor er den ersehnten Laut von oben erhascht.

»Dreißig Jahre daran gearbeitet,« hört sie es aus dem zahnlosen Munde hervorzischen, »und nun nicht wissen – nun nicht wissen, ob es von Unheil oder von Segen sein wird. Und in fremden Händen, die nichts davon verstehen, die nicht fühlen, wie man jede Schraube aus seiner Seele hervorgeholt hat. Und die den Zweck nicht ahnen, den letzten Zweck. Hören Sie nicht etwas, Kind? Hören Sie noch immer nichts?«

Aber dann geschieht etwas.

Der Nachthimmel stürzt ein, die Häuser beginnen zu beben und zu tanzen, ein Donnerschlag wühlt und kracht und rollt, jedem Lebenden ein erschütterndes Wunder, die Zeit hält an, die Luft preßt sich zusammen, eine zerschmetterte Menschheit stößt ihren letzten Schrei aus, – und dann schleicht Stille heran, gähnende Lautlosigkeit, die die Schläfen der zitternden Kreaturen in beide Hände nimmt und jedes Begreifen erdrückt.

Ein paar schreckensstarre Augen richten sich in dem Keller, der nur durch ein tröpfelndes Talglicht erhellt wird, auf den abgezehrten, zahnlosen Mann. Der zieht langsam die Lider über die glitzernden Sterne, lächelt und sinkt von seinem Tagewerk zurück.

Seine Uhr hat ihre große Stunde geschlagen.

VI

Silberne Lichter sprangen über die feuchten Schollen des schlafenden Landes. Kein Geräusch störte die weiche, dunkle Versunkenheit, und nur die bleichen Schilfwände zu beiden Seiten des Flusses neigten sich manchmal wispernd gegeneinander, wenn der lange, geisterhaft gleitende Kahn ein paar stärkere Wellen gegen das Binsengestrüpp drängte.

Ruhig, gleichmäßig schritt der russische Schiffer die beiden Laufbretter seines Fahrzeugs ab. Die mächtige Stange, deren Widerhaken im Bett des Stromes festhaftete, hatte er gegen die Schulter gestemmt, und nun bewegte er sein Schiff mit unverminderter Kraft durch die Windungen der leuchtenden Fahrstraße. Einförmig klappten seine Tritte auf dem trockenen Holz, und nur ein regsames Plätschern antwortete jeder vermehrten Anstrengung. Ein kleiner weißer Spitz begleitete auf dem gegenüberliegenden Brett treulich den Weg seines Herrn. Dieweil wurde am Achterende des Kahnes von einem kurz geschürzten und dick in bunte Tücher vermummten Weiblein das ungefüge Steuer hin- und hergeschoben. Dies war die Frau des Schiffers. Aber aus den Lappen, hinter denen sich ihr Gesicht verkrochen hatte, konnte man bei dem unsicheren Mondenlicht nur eine breite Knollennase entdecken, und man hörte nichts von ihr als kurze abgerissene Gesangsstrophen und dazwischen ein unaufhörliches kicherndes Geplapper. Nur schade, daß der Schifferknecht, der auf ihre Weisung mit ihr zusammen das schwere Holz drehte, sicher nicht das Geringste von dieser sprudelnden Unterhaltung verstand. Auch schien der Mann in der zerdrückten blauen Flauschjacke sein Gewerbe durchaus nicht mit Meisterschaft auszuüben. Denn die Frau in den vielen Tüchern lachte jedesmal belustigt, so oft sich ihr Genosse mit aller Kraft gegen das knarrende Holz stemmte. Es blieb auch seltsam, daß sich ihr dabei niemals ein Tadel entrang, ja, sie fand es offenbar ganz in der Ordnung, sobald der schlanke Gehilfe sich abwandte, um angestrengt auf die hinter dem Ufer sich hinziehende Landstraße zu spähen.

Wahrlich, dort drüben auf dem grauen dampfenden Wege gab es seit ein paar Stunden aufregende und schreckhafte Dinge zu sehen. Zuerst war von dort nur der Hufschlag vereinzelter Reiter aufgeklungen. Gleich schwarzen Schattenbildern sausten sie dahin, weiße Staubwolken sprühten um sie her. Ein höllisches Bild. Dann rollte und rasselte es, Geschützzüge flogen unter den finster starrenden Chausseepappeln, aufgewühlte Menschenhaufen brodelten hinterher, und schließlich wurde ein einziger schwarzer Wurm daraus, der knurrend und klirrend seines Weges kroch.

Aber der Kahn glitt weiter.

Nur das Weib lehnte sich über den Querbaum und wies mit der Hand auf die sich krümmende Schlange. Auch jetzt noch stieß sie ihr kurzes, fettes Lachen aus. In ihrem harmlosen, in tiefer Unbildung versunkenen Gemüt regte sich nicht die leiseste Ahnung, wie durch den schwarzen Wurm dort drüben Glück, Ruhe und Wohlstand auf Jahre hinaus niedergewälzt wurden.

Und doch – unangefochten schwamm der Kahn zwischen den hohen Binsen stromabwärts.

In der engen Kajüte, die durch einen roten Fetzen in Schlaf- und Küchenraum geteilt war, stand inzwischen ein junges Mädchen vor dem windschiefen eisernen Herd. Über ihrem Haupt schaukelte sich an einem Draht ein winziges rauchendes Öllämpchen, und bei seinem dunstigen Schein beschäftigte sich das junge Geschöpf eifrig damit, aus einem Topf voll stark duftenden Tees die goldgelbe Flüssigkeit in eine bunt bemalte Tasse zu gießen. Dann zog sie sich aufatmend eine weiße, mit blauen und roten Sternen bestickte Flanelljacke zurecht, strich glättend über ihren kurzen roten Wollrock und klapperte endlich auf schweren Holzschuhen die steile Treppe in die Höhe. Sorgsam hielt sie dabei die Hand über die Tasse, damit die kühle Nachtluft nichts von der Wärme des Getränkes raube.

»Hier,« sagte sie über ihr eigenes Werk befriedigt, indem sie an den Schifferknecht in der blauen Jacke herantrat, »hier bringe ich Ihnen etwas Feines, lieber Freund. Denken Sie, ich habe sogar Rum gefunden. Natürlich so gut wie im »Goldenen Becher« wird er nicht schmecken. Aber nun trinken Sie. Nicht wahr, bei dieser scharfen Luft werden Sie meine Kochkunst nicht verachten?«

Durch die helle Stimme wurde der Konsul unvermutet seinen Beobachtungen entrissen. Überrascht wandte er sich herum und, wie stets, so glitt auch jetzt wieder ein erstauntes Lächeln um seine Lippen, als er die weiße Flanelljacke und das kurze rote Röckchen gewahrte. Wie eigenartig blieb das doch, drüben hinter den weißen Staubwolken, in denen das Mondlicht dampfte, da wallte Weltgeschehen vorüber, das sicherlich auch sein Schicksal einschloß. Und doch war es möglich, daß die schweren Sorgen des Flüchtenden hier durch ein anmutiges Bild auf Augenblicke zerstreut werden konnten. Die weiße Flanelljacke, der bunte Rock, das schwarze Tuch über den roten Haaren und die derben Holzpantoffeln auf den kleinen Füßen, sie redeten keck und lebensvoll mitten in das Stöhnen einer verzweifelten Völkerklage hinein.

Rudolf Bark schüttelte sich, aber bevor er die Tasse aus den Händen der Kleinen empfing, da drängte er erst das Geschirr fast gewaltsam an Isas eigenen Mund.

»Nur ein paar Schlucke, mein Kind,« meinte er gutmütig, »so ist das zwischen uns ausgemacht, und Sie müssen mich auch nicht so sehr verwöhnen.«

»Ja, aber Herr Konsul –«

»Schon gut. Nun kommen Sie, Isa, wir wollen uns auf das Brett hinter der Kajüte niederlassen, denn hier hinten weht es doch zu scharf für Sie. Auch sehe ich, Sie haben sich den koketten Halsausschnitt von Madame Krupenski wieder nicht zugesteckt.«

Da senkte Isa verlegen das Haupt. Sie wußte auch nicht wie es kam, aber jeder Tadel aus dem Munde des erfahrenen Mannes erschreckte sie und entwirkte daneben stets die heftige Begierde, seinen Wünschen, noch ehe sie ausgesprochen, zuvorzukommen. Hastig faltete sie an der gerügten Stelle herum.

Dann saßen sie beide auf dem Brett hinter der Kajüte, tranken aus derselben Tasse und sahen schweigend mit an, wie die Morgendämmerung die rauchenden Wiesen mit rosigen Fingern zu streicheln begann. Ein blutroter Bach floß am äußersten Rande des Erreichbaren. Nach einer Weile sprach Isa nachdenklich:

»Ob man unsere alten Kleider schon aufgefischt hat, Herr Konsul?«

Der Kaufmann nickte. »Das ist sehr wahrscheinlich, mein Kind. Herr Krupenski hat sie so sachgemäß versenkt, daß sie sicherlich schon lange an dem Wehr angeschwemmt sind. Ich hoffe, unser fetter Freund, der Herr Polizeimeister-Stellvertreter Tolmin wird längst mit Befriedigung unser trauriges Ende festgestellt haben.«

»Wie seltsam,« flüsterte Isa gepackt, und ein bezwingender Gedanke ergriff unwiderstehlich von ihr Besitz, »da haben wir eigentlich alles Alte von uns abgestreift und fahren hier wie zwei ganz neue Menschen durch die Welt. Wissen Sie auch, daß ich das wunderhübsch finde?« fuhr sie sinnend fort.

»Warum?« fragte der Konsul und verfolgte den rosigen Dämmer, der sich auf dem feinen Gesicht seiner Gefährtin zu verbreiten begann.

»Warum?« wiederholte die Kleine ernsthaft und schauerte im Frühfrost zusammen, »das kann ich Ihnen nicht sagen. Nein, das kann ich wirklich nicht, es ist ein sehr dummer Einfall.«

Noch hatte sich Rudolf Bark nicht von dem Glanz trennen mögen, von dem die unter dem schwarzen Tuch sich hervorstehlenden Haare des Mädchens allmählich durchleuchtet wurden, da war es, als ob in der Ferne Erde und Strom einen Sprung machten. Ein dumpfes Krachen erschütterte die Luft, der Nachhall eines ungeheuerlichen Donnerschlages fuhr über den bleiernen Morgenhimmel.

Betroffen schnellte Isa von ihrem Sitz.

»Herr Konsul,« vermochte sie nur hervorzustoßen, »bedeutet das ein Unglück für uns?«

In ihrem schmalen Gesicht arbeitete es. Trostsuchend lugte sie zu ihrem Freunde empor. In diesem Augenblick empfand sie nur das eine, wie die lange Fahrt auf dem schmutzigen Kohlenkahn von allen Schimmern der Poesie umflossen sei, und das jenes namenlose, aller Regel eines strengen Bürgertums entbehrende Dahingleiten einen Höhepunkt ihres Daseins bildete. Sie zitterte vor Hoffnung und vor Spannung.

»Bedeutet das für uns ein Unglück?« drängte sie noch einmal und ergriff schutzbedürftig die Hand des Kaufmannes.

Beschwichtigend zog Rudolf Bark das aufgeregte Mädchen wieder an seinen Platz hinter der Kajüte zurück. Und als er fühlte, wie die Verängstigte sich an ihn schmiegte, da streicheln er ermunternd über ihre Wangen.

»Isachen, es will mir scheinen, es kommt im Moment gar nicht so sehr auf uns beide an.«

Allein die Kleine schüttelte unter Tränen lachend das Haupt.

»Doch, Herr Konsul,« entgegnete sie kleinlaut, – »Sie müssen entschuldigen, ich bin natürlich lange nicht so klug wie Sie, – aber das Leben kann doch auch etwas sehr Seltenes und Kostbares sein. Es wäre zu schade, wenn dies alles untergehen sollte.«

»Oh, der Kahn ist fest,« entgegnete der ältere Mann verständnislos.

Und dann saßen die beiden wieder und sahen zu, wie der blasse Morgen über die Felder eilte. Die grauen Dunstwolken zerfaserten sich, über den Chausseepappeln begannen schwarze Scharen von Krähen zu kreisen, und unter ihnen wurde die Landstraße einsamer und stiller. Hinter den wallenden Staubmassen war die brandende Flucht erstorben. Langsam und allmählich schwirrte von dort ein schüchterner Vogelgesang auf, und auch die Heimchen der Wiese besannen sich auf ihr Morgenlied.

Stunde auf Stunde verging. Es wurde immer heller.

Der Kahn wurde verankert, denn der russische Schiffer weigerte sich, mitten durch den leuchtenden Sonnenschein und zumal wo die Grenze so nahe rückte, noch weiter zu fahren. Auch machte der Herr des Kahnes sehr deutliche Anspielungen, es wäre an der Zeit, daß seine Gäste nunmehr das Gefährt verließen. Noch verhandelte Rudolf Bark mit dem Eigentümer, da brach der Kaufmann mitten in der Rede das Gespräch ab, um ohne ein Wort der Erklärung in das Boot hinabzuspringen, das neben dem Steuer einhertrieb. Verstummt, in grenzenloser Überraschung starrte Isa dem Davonrudernden über die hohe Bordschwelle nach.

Doch nein, jetzt erkannte sie, was ihren Freund zu so rascher Tat veranlaßt hatte. Drüben an dem immer flacher werdenden Ufer des Stromes duckte sich zwischen den Binsen ein dürrer Mensch bis tief auf den Spiegel des Wassers herab. Der Fremde schien sich zu waschen. Aber als das Mädchen das Bild schärfer musterte, da wurde es ihr klar, daß sich der zusammengekauerte Geselle eine frische Stirnwunde spüle. Unaufhörlich rieselten die roten Tropfen in den Strom. Jetzt hatte ihn Rudolf Bark erreicht. Ein paar laute Ausrufe fuhren hin und her, das Boot knirschte in den Sand, und noch immer konnte die Zurückgebliebene nicht fassen, warum der Konsul jenen so wüst zerschlagenen Verwundeten schließlich mit rücksichtsloser Gewalt in den Kahn zerrte. Dann wieder einige Ruderschläge, und über die von dem schweigsamen Herrn Krupenski über die Schiffswand geworfene Strickleiter kroch scheu und zitternd eine groteske Gestalt auf das Deck. Nun schlotterte sie vor ihnen, ohne Rock noch Weste, nur von einem zerzausten Halstuch umflattert und wischte sich beschämt über das von tausend Runzeln zerrissene Gesicht. Ein unförmiger Mund bewegte sich, als hätte man einen Fisch soeben aufs Trockene gezogen.

»Herr Bienchen,« rief Isa verständnislos, denn sie hatte endlich den verkrümmten kleinen Juden, der ihr so manche Uhr gerichtet, in diesem blutenden und vor Erschöpfung röchelnden Menschenkind entdeckt.

»Jetzt sagen Sie, wie kommen Sie hierher?« rüttelte ihn auch der Konsul.

Allein Leiser Bienchen, der Gehilfe des alten Erfinders Adameit, der letzte Gefährte von Fritz Harder, schüttelte völlig betäubt sein nasses Haupt.

»Ich weiß nicht, Herr Konsul, ich weiß wirklich nicht,« gurgelte er tonlos, während er sich unaufhörlich in einem ölgetränkten Taschentuch die Hände wischte.

»Man hat Sie geschlagen?«

»Ja, ich glaube, – ich glaube, man wird mich geschlagen haben.«

»Wer?«

»Ja, wer?« stöhnte der Uhrmacher, sank auf einem Kohlenhaufen zusammen und starrte gleichgültig zurück auf die Landstraße, die er soeben verlassen.

Es war nichts weiteres aus dem in seine Erinnerungen Zurückkriechenden herauszubringen. Und erst, als man den wimmernden Gesellen, der dabei wie ein schweres Bündel zwischen den Armen seiner vornehmen Kundschaft hing, in die Kajüte heruntergeführt hatte, erst nachdem er dort auf einem Kasten hockte und unter seltsamen Schmatzlauten ein paar Tassen des glühend heißen Tees in sich hinabgeschüttet hatte, da fingen seine schwarzen Augen sich an zu beleben, und er starrte seine Bekannten mit dem jammervollen Blick eines geschlagenen Hundes an. Dann wickelte er das zusammengerollte Öltuch auf, schneuzte sich und unternahm es, sich umständlich die dick herabrollenden Tränen zu trocknen. Der Konsul jedoch, der ungeduldig vor ihm stand, ließ dem Bekümmerten keine Zeit mehr, sondern rüttelte ihn abermals ins Leben zurück.

»Lieber Bienchen, wo kommen Sie her?«

Der kleine Jude fuhr zusammen.

»Ich, Herr Konsul? Nun, Sie werden es doch leider nicht glauben, ich komm' direkt aus der Luft.«

»Scherzen Sie nicht,« verwies ihn der Kaufmann nachdrücklich.

Jetzt seufzte der Uhrmacher schwer in sich hinein. Und erst Isas teilnahmvolles Gesicht schien seine Neigung zu einer größeren Mitteilsamkeit zu vermehren.

»Sehe ich aus, wie wenn ich scherze?« klagte er dumpf vor sich hin und rieb sich wieder die wunde Stirn. »Ich sag' Ihnen, ich komm' aus der Luft oder auch unter einem Heuwagen hervor, ganz wie Sie wollen. Aber ich will Ihnen der Reihe nach erzählen,« erholte er sich endlich etwas mehr gefaßt. »Sie müssen nur entschuldigen, wenn ich nicht alles aus meinem zerhämmerten Kopf richtig und sauber hervorziehen kann.« Er lehnte sich zurück an die Schiffswand und holte tief Atem. »Sehen Sie, da hatten wir die Maschine von dem alten Adameit – vielleicht hat ihn Gott schon zu sich genommen – unter das Dach der Sebalduskirche eingeschmuggelt.«

»Welch eine Maschine? Besinnen Sie sich, Herr Bienchen,« forderte Rudolf Bark von neuem.

»Nun die Uhr. Es war ein grausiges Ding, ich hab' sie nie ansehen mögen. Aber mein Meister hat damit ein Lebelang verbracht. In der Kirche sah es die ganze Zeit über fürchterlich aus. Diese Hunde, diese Wilden zeigten nicht den geringsten Respekt. Weder vor dem herrlichen Bau noch vor dem wundervollen Glockenspiel, noch vor der gewaltigen Orgel. Ich sag' Ihnen, sie lachten auch über die vielen Bildwerke und hieben ihnen Nasen und Ohren ab. Wenn mich auch die Heiligen in den bunten Röcken nichts angehen, die schöne Frau mit dem Fuß auf der Schlange und der weiße Mann mit dem goldenen Schlüssel, Sie können mir glauben, es gab mir jedesmal einen Stich, so oft ich die heillose Schändung mit ansah. Denn es waren doch kunstvolle Hände, die so prächtige Sachen vor mehr als fünfhundert Jahren geschnitzt hatten. Aber das war noch nicht alles. Die Breitmützen hatten einen vollständigen Stall aus den steinernen Gängen gemacht. Die Kirchenbänke konnte man jeden Abend in die Wachtfeuer wandern sehen, und statt ihrer lagen nun hunderte von schmutzigen Kerls auf Strohbündeln in den Gängen und fraßen und schnarchten. In den letzten Tagen wurden es so viele, daß man sagen konnte, es war kein Winkel mehr von dem Ungeziefer frei. Nun kam die Nachricht, daß die Fremden da hinten an den Seen ihren Lohn erhalten hätten. Und wir hörten auch, sie wollten sich in unserer Stadt, in unserer schönen, sauberen Stadt zur letzten Wehr setzen. Da sagte der Herr Leutnant Harder, nun wäre es Zeit. Er hatte es so einzurichten gewußt, daß wir eine Anstellung in dem Dom gefunden hatten. Werden Sie es für möglich halten, wir fegten nämlich den Schmutz und den Mist alle Abend aus der Kirche heraus. Für ein paar Pfennige natürlich. Und gewöhnlich erhielten wir noch einige Lanzenstöße als Trinkgeld dazu. Nun, es war kein Herrenleben. Aber gestern abend, da sagte der Herr Leutnant, jetzt dürfe man keine Minute mehr verlieren. Es sollte nämlich der Horde ein Schreck eingejagt werden, damit sie sich in der Stadt nicht länger für sicher hielte. Herr Konsul und Fräulein Grothe, was soll ich Ihnen lange erzählen? Der junge hübsche Mensch, der so verändert in dem Arbeitsanzug aussah, er stieg auf den Orgelsitz hinauf, und ich mußte die elektrischen Blasebälge andrehen. Auf diese Weise, nämlich durch sein Spiel, da wollte er die Halunken von mir und meinem Geschäft ablenken. Ehe wir uns trennten, reichte er mir noch die Hand und sagte mit einem Gesicht ganz voller Sonnenschein – in meinem Leben werd' ich's nicht vergessen – »Herr Bienchen, Sie sind jetzt auch ein Soldat. Denken Sie daran, was Ihnen das Vaterland alles geschenkt hat und zahlen Sie es pünktlich zurück.« Dann stieg ich auf den kleinen Hinterturm hinauf, wo wir den Knopf angebracht hatten. Ich versichere Sie, alles wie im Traum, Herr Konsul. Mit einemmal fing die Orgel an zu spielen. So was Schönes, Herrliches und Erhabenes hab' ich noch nie vernommen. Es hörte sich an, als wenn der Herr unser Gott leibhaftig in die Kirche getreten wär' und sänge nun selbst mit seiner ewigen Donnerstimme. Wie schön sind doch diese deutschen Lieder, es liegt alles darin, was wir an dem Land und seinen Menschen lieb haben. Ich hatte mich auf einen Fensterbogen gesetzt, Fräulein Grothe, und konnte das Ohr von der Musik nicht abwenden. Auch die Russen waren aufgestanden, hielten ihren Atem an und starrten herauf. Keiner rührte sich. Sie fühlten wohl, wie der Herr schon seine eiserne Hand auf sie gelegt hatte. Ich hätte noch bis zum nächsten Morgen so sitzen mögen, aber plötzlich da hob der Herr Leutnant, den ich nur vom Rücken aus sehen konnte, die Finger seiner Rechten hoch in die Höhe. Und diese Finger, sie drohten mir und griffen mir geradewegs ins Herz. Was dann geschah, Herr Konsul, das ist mir alles nur so bewußt, als hätt' ich es aus einem dunklen Grab heraus belauscht. Das Dach der schönen Kirche flog in die Höhe, so daß alle Sterne des Nachthimmels für eine Sekunde zu uns herunterblitzten. Und dann – es war grauenvoll das Gewinsel und Gewimmer. Die große Orgel stürzte zusammen, die ungeheuren Zinkpfeifen spießten sich gegeneinander, und dann brach das ganze Werk in die Tiefe. Mit mir aber, Herr Konsul, geschah ein Wunder. Ja, ja, als sollte mir gezeigt werden, wie ich armer kleiner Jud' eigentlich gar nicht in die Kirche gehörte. Ich sauste nämlich in großem Bogen aus dem Fenster herunter und mitten in einen Heuwagen hinein. Gleich darauf jagte das Gespann wie wahnsinnig aus der Stadt heraus. Und erst dicht hier an der Grenze, da haben mich die Unmenschen heruntergeprügelt. Ein Rad ist noch dazu über meinen Fuß gefahren, und ich meine, mein Gang wird dadurch nicht schöner geworden sein. Aber Herr Konsul und Fräulein Grothe« – und der Uhrmacher hob die Hände in die Höhe und begann bitterlich zu weinen, – »was will das alles heißen? Unser Land hat sich erhoben, unser herrliches Land, und hat die Heuschrecken von sich abgeschüttelt. Der Herr, der in der Kirche so schön sang, er hat unsere Feinde geschlagen. Hören Sie, Herr Konsul, dort draußen blasen schon die preußischen Trompeten? Das Herz geht einem auf, wenn man es hört! Der Herr singt weiter!«

In der dunklen Schlafkammer von Maritzken herrschte noch immer bleierne Stille. So schwer drückte die Lautlosigkeit herab, daß die an ihren Stuhl gebannte Gutsherrin das flüchtige Ticken der Uhr wie das unerträgliche Stampfen einer Maschine empfand. Ängstlich streiften ihre Blicke über die Fensterscheiben, die unter dem Leuchten des heraufsteigenden Mondes einen stählernen Glanz annahmen. Manchmal war es auch, als ob ein flackernder Feuerschein vorüberhusche. Dann vermeinte die Einsame eilende Hufschläge aufzufangen. Doch wenn sie, zum Sprung bereit, eifriger hinhorchte, so schlug nichts an ihr Ohr als das Sausen des Nachtwindes. Und immer wieder sank sie zurück und kämpfte gegen den Sturm und den wilden Tanz ihrer Nerven. Aber noch mehr gegen das widerstandslose Herabsinken in völlige Erschöpfung. Zuweilen riß die Nacht vor ihr auseinander. Dann glaubte sie etwas zu sehen, dann murmelte sie etwas, dann betete sie wirr und verständnislos darum, daß das, was sie mit vorbereitet, in nichts zerschellen möge. Um gleich darauf alle Fibern anzustrengen, ob sie aus dem unteren Zimmer nicht etwa einen Laut des Entweichens auffinge.

Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
11 ağustos 2017
Hacim:
460 s. 1 illüstrasyon
Telif hakkı:
Public Domain
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