Kitabı oku: «Die Herrin und ihr Knecht», sayfa 6
Nichts.
Es war wohl nur eine Vorspiegelung seiner nicht mehr nüchternen Sinne, daß es ihm wieder vorkam, als ob der grüne Schatten, dem er nachjagte, noch eben geschmeidig durch ein Ästegerank hindurchgeschlüpft sei.
Nein, nein, hier gab er sicherlich einem völlig unhaltbaren Verdacht nach, der ihm eigentlich nie und nimmer aufsteigen durfte. Lächerlich, wie konnte er nur wähnen, daß das Geschöpf, das er für immer an sich zu ketten trachtete, gerade in dem entscheidenden Augenblick ihres beiderseitigen Daseins ihm in einer unbegreiflichen Laune zu entweichen suchte. Ganz sicher, diese ewigen häßlichen Befürchtungen hatten sein harmloses Gemüt bereits aus der Bahn gerissen. Zu viel und zu eindringlich war von ihm über seine Zeit nachgegrübelt worden, von der er zweifellos mit Unrecht argwöhnte, daß sie den oberflächlichen und spielerischen Bedürfnissen ihrer Kinder zu gefällig entgegenkäme. Fort, fort damit, das wäre ja keine deutsche Frau, der man im Ernst etwas Derartiges zutrauen durfte.
Entschlossen, befreit erhob er sich und verlor sich erhitzt in das tiefe Gehölz, durch dessen niedriges, eng verschlungenes Dach die Sonnenstrahlen nur wie winzige goldene Käfer hindurchkrochen.
An der rissigen Tür des Kuhstalles lehnte die Hofbesitzerin, und während über ihr blasses Antlitz noch immer jener still zufriedene Schein glänzte, da pochte sie von neuem selbstvergessen gegen das trockene Holz. Diesmal aber klang es munter und beschwingt, und der kecke Trommelschlag ging allmählich in ein Marschtempo über, so daß jeder erkennen konnte, wie zuversichtlich und bestimmt die Gedanken der Gutsherrin über Vergangenes und Zukünftiges schweiften.
»So, nu laß aber mal das Trommeln,« forderte plötzlich eine energische Stimme neben ihr, und als sie, aus ihren Träumen gerissen, das blonde Haupt ein wenig wandte, da mußte sie zu ihrer eigenen Erheiterung wahrnehmen, wie der Riese von Sorquitten in seinem gelben Sportanzug ebenfalls den mächtigen Rücken gegen die Stalltür drängte; und nun stand er mit leicht überschlagenen Beinen da, ohne es jedoch natürlich für nötig zu halten, die gewaltigen Fäuste aus den Taschen zu ziehen. »Du stellst dir wohl vor,« fragte er ruhig weiter, »wie das hier sein wird, wenn das Gesindel von dort drüben auf seinen Kalbsfellen Generalmarsch schlägt? Die verfluchten Hunde!« Und während er angelegentlich auf seine gelben Schnürstiefel herunterstarrte, murmelte er in angenommener Gleichgültigkeit: »Sag mal, Johanna, jetzt könntest du doch endlich deine weisen Pläne gefaßt haben. Willst du nun meine alte Dame begleiten?«
Es klang durchaus nicht so, als ob der große Mensch in Herzensangst um ihr Schicksal bebte. Darin bestand ja ohnehin nicht seine Art, sobald es sich um andere handelte. Aber die große Blonde wurde doch von einer vorüberhuschenden Rührung erfaßt, als sie sich vorstellte, daß sich überhaupt ein Mensch um ihr Wohlergehen bekümmere.
»Fedor,« begann sie deshalb zutraulich, »entdecke mir mal ganz offen, lieber Junge, weshalb du dich so bemühst, mich von hier fortzulocken? Liegt dir wirklich bloß daran, eine passende Gesellschaft für deine Mutter zu finden? Oder wäre es dir im Ernst peinlich, wenn ich durch eine fremde Einquartierung Unannehmlichkeiten erführe?«
»Na, natürlich wäre es mir peinlich,« brummte Herr von Stötteritz, zog den einen Schuh noch etwas weiter in die Höhe und klopfte sich angelegentlich den Staub ab. Und indem er etwas möglichst Gleichgültiges zu erfassen strebte, stieß er noch hervor: »Vor allen Dingen möchte ich selbstverständlich den Lumpen den Spaß versalzen, einer mir nahestehenden Dame hier irgend etwas vorschreiben oder gar befehlen zu wollen.«
»So so, daran denkst du,« meinte Johanna schon um vieles mehr ernüchtert. »Wenn ich dir nun aber anvertraue, daß ich an dieses ganze Kriegsmärchen keineswegs glaube, was dann?«
Der Riese ließ sich gegen die Stalltür fallen, daß sich ein dumpfes Dröhnen erhob.
»Dann erkläre ich dir,« sprudelte er ihr ungehalten entgegen, »daß du eine halsstarrige Person bist, die für derartige Dinge nicht das richtige Verständnis besitzt.«
»Ach, sieh einmal, was du liebenswürdig sein kannst!«
»Aber ich will ja gar nicht liebenswürdig sein,« schrie jetzt der Riese außer sich, der völlig vergaß, daß ihn ursprünglich eine viel zartere Absicht hierher geleitet, »ich will ja bloß, daß hier alles nach Ordnung und Recht zugeht, damit du keinen Schaden leidest.«
»Dafür danke ich dir,« versetzte Johanna, indem sie wieder in ihre kühle und unnahbare Haltung zurückfiel, denn die derbe Weise des Rittmeisters empörte sie innerlich. »Aber da ich mir einmal angemaßt habe, meine Wirtschaft nach eigenem Gutdünken zu leiten, so mußt du es mir auch anheimstellen, ob ich es für richtig halte, mein Anwesen ohne Aufsicht zu lassen.«
»Donnerwetter ja,« fuhr jetzt der Riese auf und schlug mit geballter Faust gegen das Holztor, »mein Inspektor und ich können das doch auch besorgen?«
»Ja gewiß,« wollte die Angegriffene hier abermals einlenken, jedoch der völlige Mangel an Selbstbeherrschung, den der Gutsbesitzer so polternd bewies, er löschte ihr das Verständnis für die verborgene Gutmütigkeit, die seinen Absichten zugrunde lag, von neuem aus. »Ja gewiß, Fedor,« gab sie zu, »ich empfinde dein Anerbieten als sehr uneigennützig, aber meine Leute sind zu sehr an meine eigene Behandlung gewöhnt, als daß ich sie gerade in den Zeiten der Not einer schärferen Methode aussetzen möchte.«
»Aha!« Herr von Stötteritz stieß einen gellenden Pfiff aus. »Daher geht der Wind,« lachte er ingrimmig, »du hast unausgesetzt an mir etwas herumzutadeln. Die ganze Richtung paßt dir nicht, wie, Cousinchen? Das Junkertum, wie du es nennst, das Echt-Preußische? So sage es doch, nicht wahr, das kannst du nicht leiden?«
Über der Stirn des Mädchens zogen ein paar Falten auf. Sie sah wieder sehr herb und ablehnend aus, als sie jetzt kurz hervorbrachte:
»Ich weiß zwar nicht, was dir an meiner Ansicht liegt, aber wenn du darauf bestehst – nun ja, ich kann mir manches anziehender vorstellen, als die von dir bezeichnete Art.«
»So, das wollte ich nur wissen,« knurrte der Herr von Sorquitten, dem es trotz der aufsteigenden Enttäuschung so vorkam, als ob er eine widerwärtige Schulaufgabe endlich erledigt hätte. »Dann brauchen wir ja nicht mehr länger das abgeleierte Thema abzuhaspeln. Du glaubst uns nicht und hast wahrscheinlich Ratgeber, die die Lage viel gründlicher zu beurteilen vermögen, als solch beschränkte Stoppelhopser. Schön, Mariellchen, ich wünsche natürlich in unser aller Interesse, daß diese superklugen Leute recht behalten. Inzwischen wirst du mir wohl beistimmen, wenn ich für meine alte Dame anspannen lasse. Ich habe vor Tisch nämlich dort drüben in Sorquitten noch Verschiedenes anzuordnen. In meiner wenig anziehenden Art, natürlich. Na, mir bleibt wenigstens der Trost, Cousinchen, daß dir über den schnellen Abschied nicht das Herz brechen wird, was?« Damit richtete sich Herr von Stötteritz auf, schüttelte sich, als wenn er in der trockenen Luft von einem Platzregen durchnäßt wäre, und rief schallend über den Hof nach seinem Kutscher.
Mächtig ausholenden Schrittes suchte er den Hauseingang zu erreichen, um seine Mutter von der bevorstehenden Abfahrt zu unterrichten, jedoch mitten zwischen den Pfosten sah er sich noch einmal zurückgehalten. Dicht neben ihm stand Johanna, und sie griff jetzt rasch nach dem Arm des sie Überragenden, um ihn ein wenig hin und her zu zausen, als ob sie den Unwirschen zur Besinnung zu bringen wünsche.
»Fedor, du wirst doch wegen einer solch kleinen Meinungsverschiedenheit nicht böse sein?« mahnte sie eindringlich.
Der Riese sah sie ungewiß von der Seite an, knurrte etwas Unverständliches, aber ihr herzlicher Ton verfehlte nicht den beabsichtigten Eindruck.
»Fällt mir ja gar nicht ein,« rang er sich noch immer etwas unwillig ab, obwohl ihm dieses verdammte Schuljungengefühl unter ihren Augen nicht recht weichen wollte. »Wieso böse? Habe für solche Geschichten wie Familienfehde oder dergleichen absolut kein Verständnis. Im übrigen bist du ja auch eine ausgewachsene Person, und meine Mutter sagt immer ›aufgenötigte Suppe schmeckt schlecht‹. Also lassen wir's! – He,« rief er laut aus der Tür heraus, »Friedrich, fahr' mal hier vor, ganz dicht ran. Und du, Hans,« wandte er sich in seinem gewöhnlichen Befehlshaberton zu seiner Begleiterin, »laß mal auf der Stelle den Tritt hinsetzen. Meine alte Dame behauptet sonst wieder, sie wäre keine Seiltänzerin. Also allons, Kinder, ein bißchen Musik in die Knochen, und dalli, dalli.«
IV
Dicht an der Chaussee, die sich an Maritzken vorüberschlängelte, hart an der Grenze eines hochwogenden, schwer nickenden Weizenfeldes, da gab es einen lauschigen, einen heimlichen Platz. Ein alter, verkrüppelter Kirschbaum senkte hier sein Geäst so niedrig und struppig herab, daß unter seinem Dach kühler, wohltuender Schatten wohnte, selbst wenn um ihn herum das heiße Sonnenlicht in Wogen über die Landstraße fortspülte. Die astumzäunte Rundung war so recht ein Schlupfwinkel, um sich dort verkriechen und zwischen den herniederhängenden Zweigen hindurchblinzeln zu können, auf alles, was sich auf der Landstraße begab. Hier hatte der Rotkopf der Grothe-Marjellen, die kleine Isa, als sie noch kurze Kleider trug, oft wie ein Hund zusammengekauert gelegen, und es war ein herrliches Vergnügen gewesen, wenn sie den vorüberlaufenden Dorfjungen aus ihrem sicheren Versteck heraus kleine Kieselsteinchen gegen die Mützen werfen durfte. Hei, und wie gut sie treffen konnte! Ja, das verstand sie wundervoll. Und so oft eine der plumpen Kopfbedeckungen in den weißen Sand rollte und vom Wind noch überdies wie ein kurbelndes Rad hinweggefegt wurde, dann war unter den Kirschbaumzweigen in früheren Zeiten häufig ein verdecktes Lachen aufgequollen, ein unbestimmbares, schadenfrohes, kaum vernehmliches Jauchzen, das auf Mitleidsempfindungen der versteckten Übeltäterin keine allzu bestimmten Rückschlüsse freigab. Inzwischen war Fräulein Isa jedoch eine junge Dame geworden. Und wenn auch ihre Gewänder noch manchmal wild und zerknittert an der geschmeidigen, gertenhaften Gestalt herabflatterten, und obwohl es dem Rotkopf noch immer keine Sorgen bereitete, sich gelegentlich unter den alten Kirschbaum mit aufgestützten Ellenbogen auf das grüne Wiesengras zu betten, bis die Feuchtigkeit kalt an ihrer Brust zitterte, – seit ein paar Wochen war ihr leider selbst diese harmlose Erfrischung von der ältesten Schwester, die so gar kein Verständnis für derartige Freuden besaß, verkümmert worden. Eines Morgens lehnte nämlich eine grün angestrichene Bretterbank an dem alten Kirschenstamm, und seit dieser unwillkommenen Entdeckung saß Isa Grothe zur heißen Mittagszeit lässig vornübergebeugt auf dem neuen Sitz und ließ ihre braunen Goldaugen gierig auf einem gelben Büchlein in ihrem Schoße ruhen, das sie ihrer sorglosen Schwester Marianne heimlich entwendet. Himmel, da standen ganz absonderlich verirrte Dinge drin, die Fräulein Isa selbstverständlich längst ahnte und billigte, von denen sie jedoch nie geglaubt hätte, daß sie das Blut so angenehm aufpeitschen könnten. Selbst hier draußen auf dem langweiligen Lande.
Langsam röteten sich die Wangen in dem feinen Gesichtchen, und ab und zu riß das junge Geschöpf halb unbewußt heftig an den herniederhängenden Zweigen herum, als ob sie unwillig sei oder irgend etwas nicht mehr länger erwarten könne. Der Kirschbaum rauschte dann über ihr, und hereinfallende Sonnenstrahlen schossen wie weißglühende Pfeile über das gelbe Buch fort, bis Fräulein Isa gestört mit der Hand nach ihnen schlug.
Eben zupfte die wohlgepflegte weiße Hand in den Blättern herum, denn die Leserin konnte vor fieberhafter Neugier nicht erwarten, die nächsten Seiten umzuwenden, da knisterte etwas in den Zweigen, ein Schatten fiel dunkel und verdeckend auf das Buch, und die Emporzuckende erkannte mit einem leisen Ruf der Überraschung, wie eine Frauengestalt sich eilfertig von der Seite durch die herabhängenden Äste hindurchdrängte.
Im nächsten Moment hatte die Kleine zuvörderst das geraubte Buch unter die Bank geworfen.
»Marianne!«
»Jawohl, guten Tag, Isa.«
»Guten Tag. Wie kommst du hierher?«
»Ich?«
Die Brust der sonst so unempfindlichen Marianne atmete stark, es schien, als hätte sie einen heftigen Lauf hinter sich. Ja sogar der keck geschnittene enge Lodenrock zeigte Spuren von Gräsern und Kletten, die an ihm hängen geblieben waren. Dazu blitzten die schwarzen Augen, und aus den dunklen Haaren hingen ein paar Löckchen regellos in den Nacken hinab. Hastig stützte sich das schöne Mädchen mit der Rechten auf die Banklehne und beugte sich spähend vor, so daß ihre weiße Leinenbluse beinahe die Wange der Schwester streifte.
»Isa,« flüsterte sie hastig, »dort hinten kommt jemand, der mich sucht.«
Jetzt warf auch die Jüngere einen schnellen Blick auf den Feldweg, der hinter dem Kirschbaum quer auf die Landstraße zustrebte, und ganz fern, schon in den tanzenden Sonnennebeln, erkannte sie das gleißende Funkeln einer Uniform.
»Ich weiß, wer dich sucht,« sagte sie sehr bestimmt, und in den großen Goldaugen schwamm ein Ausdruck, als ob das junge Ding die sonderbare Lage durchaus begriffe.
»Jawohl, Fritz Harder,« fiel hier Marianne ungeduldig ein, »wenn er dich etwa anreden sollte, dann bitte erzähle nicht, daß du mich gesehen hättest. Kann ich mich darauf verlassen?«
Auf diese dringende Frage erteilte die Siebzehnjährige keine Antwort. Aber über ihre Wangen ging es wie ein Schauer von Röte und Blässe, und in den weit aufgetanenen Augen schimmerte etwas Ernstes, ja beinahe Ängstliches, was zu dem schnippischen Wesen der frühreifen jungen Dame kaum zu passen schien. Ihre Fäuste ballten sich, und es war ein abschätzender Blick, mit dem sie ihre ältere Schwester, die so völlig ihr Gleichmaß verloren hatte, vom Kopf bis zu den Zehen musterte. Der kleine zuckende Mund jedoch öffnete sich nicht, und so dauerte das unerwartete Schweigen fort.
»Du hast mich wohl nicht verstanden?« drängte Marianne ungehalten weiter, und indem die Eilfertige den straff herabgestreckten Arm der Jüngeren schüttelte, als wollte sie ihre eigene Gegenwart dadurch deutlicher bekunden, schärfte sie der unwillig sich Reckenden mit heißer Stimme noch einmal ein: »Du wirst also nicht sagen, daß ich hier vorüber ging.« In jähem Übergang preßte Marianne plötzlich ihre Wange gegen die der Kleinen, umfing sie mit beiden Armen, drückte sie an sich und schmeichelte immer noch mit mühsam erkämpftem Atem: »Nicht wahr, mein Liebling, du tust mir den Gefallen? Es ist alles nur ein Scherz, verstehst du? Du wirst mich nicht verraten, nicht?«
Da wand sich Isa los. »Ich werde gar nichts sagen,« erklärte sie kurz, während sie sich mit einer jugendlich eckigen Bewegung wieder auf die Bank niederließ. »Was gehen mich deine Spielereien an?«
Und in einem plötzlichen Rache- und Machtgefühl bückte sich der geschmeidige Körper, holte das versteckte Buch hervor und indem sie es recht sichtbarlich ins Sonnenlicht hielt, vertiefte sie sich scheinbar von neuem eifrig in die unterbrochene Lektüre. Marianne aber zuckte geringschätzig die Achsel, als bedaure sie es jetzt, an diese Halbwüchsige soviel Verführungskünste verschwendet zu haben, dann krümmte auch sie ihre Glieder zusammen, um sich im nächsten Augenblick geschickt und tief gebeugt in dem ausgetrockneten Graben von dannen zu schleichen.
Kaum war sie verschwunden, da riß Isa die Zweige des Kirschbaums auseinander, und während sie ihren Rotkopf hastig durch die Öffnung steckte, warf sie der Enteilenden in weitem Schwung ein Erdklümpchen nach, das sie vorher von der Rasenfläche aufgelesen. Gleich darauf sank sie freilich auf ihrem Sitz zusammen, schlug die Füße übereinander und ließ das leuchtende Haupt langsam auf die harte Banklehne sinken. Angestrengt schien sie über ein nicht lösbares Rätsel nachzusinnen.
Es waren die Disharmonien des Lebens, die sich vor den Ohren der Erwachenden noch nicht einfügen wollten in die bald schauerlichen, bald heiteren Melodien, die heimlich und stark in ihr klangen.
Minute auf Minute verrann, die Uniform, auf die die Versteckte harrte, sie wollte sich nicht zeigen. Längst hatte sich Isa wieder erhoben, um ihre scharfen Blicke hierhin und dorthin schweifen zu lassen, vergeblich. Feld, Steg und Wiese blieben leer. Und die Halbwüchsige überlegte. Sollte der Offizier etwa noch einmal in das Herrenhaus zurückgekehrt sein? Ei, das wäre geradezu prachtvoll, wenn der ahnungslose junge Mensch dann mit der anspruchsvollen launenhaften Person womöglich in Gegenwart von Johanna zusammenstieße. Denn darin glaubte sich der feine Verstand der Jüngsten von Maritzken nicht zu täuschen, daß ein so in sich versunkener und ernster Mensch, wie es Fritz Harder war, niemals die verstiegenen Ansprüche ihrer eitlen Schwester befriedigen könnte. Ein Geschöpf, das beinahe eine Stunde zu einer Frisur benötigte! Und wie dumm und ungebildet Marianne im Grunde dahinlebte. Blieb es nicht unbegreiflich, daß ein Mann wie Fritz Harder, ein Offizier, der sich den höchsten und entlegensten Dingen so ernst und strebsam hingab, war es faßbar, daß ein solcher wie bezaubert und entrückt mit brennenden Augen und weit vorgebeugt vor einer so lockeren und inhaltslosen Kokette sitzen konnte? Darin bestand also doch wohl die Bestimmung und die höchste Macht der Frau.
Und wieder rieselte es kalt an den Gliedern der Versonnenen hinab, und sie griff so heftig in die Zweige des Kirschbaumes, als wollte sie ihr eigenes sehnsüchtig erwartetes Schicksal auf ihr Kinderhaupt herunterreißen.
»Sagen Sie mal, verehrungswürdige Jugend, für wen gedenken Sie diese schönen Weichselkirschen zu pflücken?« schlug plötzlich eine feste Männerstimme in den schweren Traum des Mädchens hinein.
Und erschreckt in die Höhe fahrend, erkannte Isa in völliger Verwirrung, wie dicht vor ihr auf der Chaussee der geräumige Landauer des Konsul Bark hielt. Auf weichen Gummirädern mußte das Gefährt lautlos bis hierher gerollt sein, und die beiden Apfelschimmel mit dem strahlenden Silbergeschirr riefen wie immer das stürmische Wohlgefallen von Fräulein Isa hervor, die sich heimlich für alles, was ein sicher fundierter Reichtum bot, begeistern konnte.
»Herr Konsul Bark,« rief sie so liebenswürdig als möglich, nicht jedoch bevor sie sich das blaue Leinenkleid halb unbewußt an den schmalen Hüften zurechtgestrichen hatte. Immer wieder verfiel sie in den Fehler, dem eleganten älteren Manne, der auch jetzt in seinem fast weißen Staubmantel und dem grünen Filzhut so überaus gewählt und vornehm aussah, durchaus ihre Damenhaftigkeit einprägen zu wollen. »Herr Konsul Bark, kommen Sie uns bereits abholen?«
»Zu Befehl, wir haben ja noch zwei gute Stunden zu fahren. Und die Toilettenangelegenheiten« – er beugte sich vor, legte die Hand quer über die Augen, um die Sonnenstrahlen abzuwehren, und musterte die Kleine mit einem ziemlich sorglosen Blick – »na, die scheinen mir ja auch noch nicht auf dem höchsten Gipfel der Erreichbarkeit angelangt zu sein. Hören Sie mal, Rotfüchschen,« meinte er gemütlich weiter, während er an den Grabenbord heranschritt und ihr über die Breite die Hand entgegenstreckte, als ob er ihr behilflich sein wolle, »Sie schießen übrigens wie Spargel in die Höhe!«
Isa hatte schon zum Sprung angesetzt, jetzt zögerte sie plötzlich. Sie bettete ihre Hände auf den Rücken, und die Lippen, die so merkwürdig rot und blühend aus dem blassen Mädchenantlitz hervorleuchteten, zuckten ungehalten über der Zahnreihe.
»Herr Konsul, ich finde,« lachte sie über den trennenden Graben herüber, aber es klang doch deutlich der Unmut heraus, »daß mein Haar Ihre Phantasie direkt in Aufregung versetzt. Wenn Sie es durchaus nicht leiden mögen, so könnte ich ja vor Ihnen immer im Hut erscheinen.«
»Aber liebstes Kleinchen,« beschwichtigte der Konsul ganz verwundert, der nicht im Traum daran gedacht hatte, die Jüngste von Maritzken verletzen zu wollen, »Ihr Haar ist ja im Gegenteil von erlesener Kostbarkeit. Also, wenn ich jünger wäre, würde ich wahrscheinlich Gedichte darauf verfertigen. So, nun aber hopsen Sie mal hier herüber, Isa, und setzen Sie sich hübsch artig neben mich in den Wagen, ich bitte es mir nämlich als besondere Ehre und Vergünstigung aus, die frisch gewaschene, übrigens sehr appetitliche blaue Leinenbluse im Trab nach Hause fahren zu dürfen.«
Damit beugte er sich noch etwas schräger über den Graben und ergriff ohne weitere Umstände die schmale Jungfrauenhand, die sich ihm plötzlich willig und leicht entgegenstreckte. Mit einem Sprung war das Mädchen im Wagen. Wohlig schmiegte sie sich in die hellgrauen Tuchkissen und lugte abermals verstohlen auf den weißen Staubmantel dicht neben sich, der ihr so kleidsam erschien. Lautlos rollte das Gefährt dahin. Als ob es über einen Teppich von Samt fortglitte. Es war ein zu eigenartiges und köstliches Gefühl, diese weiche Bewegung auf sich wirken zu lassen. Allen Gliedern teilte sie sich angenehm und kosend mit. Träumerisch ließ das Mädchen die feinen Härchen der Weizenähre, die sie kurz vorher vom Grabenbord abgepflückt hatte, in ihrem Handteller kreisen, um sich bei klarem Bewußtsein zu erhalten. Gar zu leicht lief man doch Gefahr, unter dem wohlig spielenden Sonnenlicht den spinnenden Träumen zu erliegen. Sie drehte die Ähre stärker und zuckte ein wenig, als sie den leisen Wirbel der Reibung empfand. Und wie frisch und wohlgepflegt der Mann da neben ihr aussah! Nur schade, daß seine prüfenden Blicke nicht abließen, musternd und schätzend über die gelben Weizenfelder und die eben aufknospende Kleefrucht zu schweifen, über der es bereits lag wie ein rötlicher oder bläulicher Hauch. Über den Spiegel eines fernen Landsees kreiste im Bogen eine Schar vom Meer hierher verschlagener Möwen, und ganz in der Nähe taumelte eine Wolke gelber Zitronenfalter über die süß duftende Flur.
»Herr Konsul, hören Sie die Spottdrossel?« begann Fräulein Isa empfindsam.
Der Mann im weißen Mantel neigte sich zu ihr, so daß ihm die Kleine ganz verwirrt in das schmale Gesicht starren mußte. Aber gleich darauf empfand sie, wie seine Finger ihr den gelben Weizenhalm entwanden, um geschickt die Ähre ihrer Körner zu berauben.
»Schön,« sagte er befriedigt, »voll und gut schüttend.«
»Hm –«
Die junge Dame im Wagen schlug rasch die Füße übereinander und wippte ein wenig mit den braunen Halbschuhen. Es war klar, besonders zarten Empfindungen gab sich ein solch älterer Mann nicht hin. Und wie er jetzt die gelben Körner von seinen festen braunen Fahrglacés abschüttelte, da fielen seiner Begleiterin all die aufregenden Gerüchte ein, die man sich schon in der Mädchenschule dort drinnen in der Stadt unweit der Grenze erschreckt und erwartungsvoll zugleich über den eleganten Besitzer des Goldenen Bechers zugeraunt hatte. Oh ja, sie konnte sich den Konsul ganz gut so vorstellen. Und ohne daß sie es selbst ahnte, blieben ihre Augen immer größer an den feinen gebräunten Männerzügen haften.
»Na, Kleinchen, ist hier etwas nicht in Ordnung?« erkundigte sich ihr Begleiter endlich gestört, indem er mit der flachen Hand ein wenig über seine glatte Wange streifte.
Da schrak sie zurück. Herrgott, der Geschäftsmann mußte sie tatsächlich für ein absolut albernes Ding halten. Und sehr kühl erteilte sie die Antwort:
»Oh nein, Herr Konsul, ich habe gar nicht an Sie gedacht.«
»So, so, Isachen, das ist mir aber sehr schmerzlich. Übrigens, sagen Sie mal, mein Kind, schwatzen etwa Ihre Leute auch soviel dummes Zeug über einen Kriegsausbruch, der uns nahe bevorstehen soll? Ich hoffe, Ihre Schwester Johanna verbietet solche Redereien?«
Als das gefürchtete Wort laut wurde, jene wenigen Silben, die sich gerade in dieses verwöhnte Mädchen wie ein fressendes Gift hineinbissen, da steigerte sich die in ihr aufgescheuchte Angst bis zu einer Art sausender Wahnvorstellung. Kreidebleich mußte sie das Haupt herumwerfen, der unbestimmten Gegend zu, von woher die langberockten Reiterscharen hervorbrechen konnten. Sie hörte den donnernden Hufschlag, ein kreischendes Brüllen schrillte verworren über die ruhigen Wälder, und ganz hinten auf der Chaussee ballte sich eine schwarze, auf- und niedertauchende Masse zusammen. Verschwunden, fortgewirbelt waren all die mädchenhaften Unklarheiten, die sie eben noch so reizend bedrängt und beschäftigt hatten. Mit einem klagenden Ruf, aus dem nur eine fast irrsinnige Furcht deutlich wurde, umklammerte sie den Arm des Konsuls, schmiegte sich ganz dicht an ihn, als ob sie nichts weiter verlange, nichts weiter, als nur Schutz und Deckung für ihr bedrohtes Leben, und stammelte vollkommen fassungslos:
»Nicht wahr, Herr Konsul, liebster, bester Herr Konsul, es ist doch nicht wahr? Es ist doch nicht möglich, daß so etwas geschehen kann? Sagen Sie es doch!«
»Herrgott, liebes Kind –«
Der aus allen Himmeln gerissene Mann empfand ein wirkliches Mitleid mit dem verschüchterten schmächtigen Geschöpf, das im Moment sein Haupt so fest und drängend gegen seine Brust bettete, daß er beinahe das Zucken und Pochen der Stirnadern zu spüren wähnte. Und aus voller Überzeugung begann er laut zu lachen. Nichts hätte so tröstlich auf die aus ihrer eingebildeten Überlegenheit Gescheuchte wirken können, wie dieses unbekümmerte, kräftige Männerlachen. Wie durch Zauberschlag verstummte das unheimliche Dröhnen hinter dem Wagen, und das wirre Gekreisch, das eben noch jeden vernünftigen Gedanken niedergeheult, es löste sich auf in das sanfte Rollen der Räder.
»Herrgott, bestes Kleinchen,« tröstete sie der Konsul inzwischen in ehrlicher Besorgnis weiter, und er achtete selbst nicht darauf, wie er bei seinen Bemühungen den Arm um die Schulter der Zitternden legte und ihr wie einem kleinen Kinde begütigend die Wangen zu klopfen begann, »hätte ich doch niemals geglaubt, daß Sie ein solcher Angsthase sind. Ich versichere Sie, es ist ja alles die reinste Torheit. Lieber Himmel, wie soll ich Ihnen das nur klar machen? Sehen Sie, Isa, wenn Sie ein Kaufmann wären, wie ich, dann würden Sie ja selbst wissen, daß unsere Nachbarn direkt ins Irrenhaus gesperrt werden müßten, wenn sie ihren Handel und ihre Industrie, die eben erst anfangen sich der allgemeinen Weltwirtschaft zu nähern, durch eine solch wahnsinnig heraufbeschworene Unternehmung im Keim zu zertrümmern gedächten. Nein, nein, liebes Kind,« setzte er ärgerlich über seinen eigenen Ernst hinzu, »das Ganze ist das Geschwätz von ein paar gewissenlosen Spekulanten. Also nun Kopf hoch, wie kann sich eine wohlerzogene, weltgewandte junge Dame derartig einschüchtern lassen! Übrigens,« lenkte er völlig ab, da sie bereits durch das Tor von Maritzken fuhren, »da kommt Hans. Nun nehmen Sie mal rasch die Ähre aus dem Feuerbrand da oben, ich habe sie Ihnen nämlich aus Versehen hineinpraktiziert, denn mir scheint, daß Ihre vortreffliche Schwester über derartigen Naturschmuck weniger wohlwollend denkt, als ich. Aber wie gesagt, eine ganz merkwürdige Haarfarbe, Isachen! Ganz merkwürdig.«
Zwei Stunden später lenkte der Landauer des Konsul Bark, nachdem er wiederum die Stadt passiert, durch die letzte heimatliche Ansiedlung. Auf einer Bodenwelle gelegen, lugten die wenigen niedrigen Häuschen zwischen allerlei krausem Gestrüpp hindurch, und es war beinahe, als hätte man diesen letzten Posten so hoch und einsam aufgebaut, damit er von hier aus Wache halten solle gegen die sich unter ihm dehnende unbegrenzte Fläche. Drüben, jenseits des schmalen Flusses, der unten an den Ausläufern des Buschwerks einen Silberbogen zog, war das ganze Land von rauhen, dunkelgrünen Kohlhäuptern besät. Weiter dahinter wurde der unbeschreiblich struppige Raum von mächtigen Breiten gelber Weizenfelder umrahmt, zwischen denen weder Fußwege noch Chausseen eine Unterbrechung herbeiführten. Nur einzelne Gräben liefen gradlinig durch das Land, und unter der hellen Sonne blitzte ihre Oberfläche, als wenn klares, weißes Wasser, den durstigen Äckern zum Trank, durch sie hindurchglitte. Allein dem war nicht so. Die Näherkommenden schraken förmlich zurück vor den schwarzen übelriechenden Rußmassen, die mit ihrem undurchdringlichen Schlamm die wohltätigen Rinnen verstopften. Es waren die Kohlengewässer der nahen Fabriken, und ein ungeheurer Qualm, von der Hitze herniedergedrückt, verbarg den Besuchern das winzige Grenzstädtchen, dem sie zustrebten, wie hinter einer brodelnden Wand. Durch die drohende schwarze Wolke aber, die am Himmel den Umkreis des Städtchens bezeichnete, leckten rechts und links, fern und nah lodernde Feuerzungen in den qualmigen, sich schiebenden Rauch hinauf, und ein ätzender Brandgeruch erfüllte ringsum die Luft. Ein rastloses Kreischen und Surren, ein Rasseln und Sausen quoll aus dem unsichtbaren Ort schon aus der Ferne hervor, und nachdem der Wagen der Deutschen die breite Holzbrücke des Flusses erreicht hatte, die nur noch bis zur Mitte zur Heimat gehörte, da vernahmen die Reisenden wie unter lärmendem Poltern knirschende Haufen kleingehackter Kohle in die an den Ufern liegenden Kähne hinabgeschüttet wurden.
»Man halte,« schrie etwas mitten von der Brücke.
Genau auf dem Grenzstrich standen zwei Soldaten in langen grüngelben Leinenblusen, und dunkelgrüne, breitgerandete Mützen saßen ihnen schräg und eingebeult auf den haarigen Köpfen. Und während der eine von ihnen mit seinem Gewehr, auf das ein breites Bajonett gepflanzt war, die weitere Einfahrt versperrte, indem er die Waffe quer vor seinen Leib hielt, trat der andere, ein bärtiges Gesicht, dicht an den Schlag heran und schlug zur Einleitung auf die umgeschnallte Revolvertasche. Dem Konsul, der sich in seinem Staubmantel herausbeugte, kam es vor, als ob die Grenzwache mißtrauischer als sonst ihre Revision vorzunehmen gedächte.
»Hat man Waren im Wagen?« fragte der Wachtmeister in einem schlechten Deutsch, obwohl der Konsul sich entsann, daß gerade dieser Beamte ihn schon mehrfach bei seinen Besuchen kontrolliert habe. »Fleisch, Zigarren oder vielleicht Bücher und Zeitungen?«
»Was sind das für Umstände?« rief der Chef des Goldenen Bechers dagegen, der mit Mißbehagen bemerkte, wie in den Zügen seiner Begleiterinnen ein ängstliches Befremden aufstieg. »Sie kennen mich doch, ich bin der Konsul Bark, und ich und diese Damen sind von Herrn Rittmeister Sassin eingeladen.« Und indem er sich mit einer Wendung des Hauptes blitzschnell vergewisserte, ob er nicht von den anderen beobachtet würde, da langte er rasch in die Tasche des weißen Mantels, um darauf dem Grenzsoldaten die Hand zu drücken, als ob es sich um eine besonders innige Begrüßung handle.