Kitabı oku: «Die Herrin und ihr Knecht», sayfa 9
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Die Portiere schloß sich über den Eintretenden, allein dicht hinter ihr wurzelte Johanna fest. Ihre Hände suchten nach rückwärts die Falten des bunten Vorhanges zu gewinnen, als müsse sie sich um jeden Preis an etwas Irdisches, ihr Gewohntes anklammern. Es war nicht das trauliche und mit wirklich erlesenem Geschmack eingerichtete Gemach, das das erdgebundene Wesen des Landmädchens für eine vorüberschnellende Sekunde so sehr verwirrte, bis es von allem, was sie bisher erlebt, abgelenkt war; es war auch nicht, wie sich Herr Miljutin vielleicht schmeichelte, der merkwürdige Meerglanz der Decke, die unwahrscheinliche, feuchtfunkelnde Strahlen auf sie herabschoß, es war vielmehr die ihrem prosaischen Gemüt vollständig unerklärliche Vorstellung, ein Götterbild oder ein Heros, jedenfalls irgend etwas Übermenschliches verkünde sich ihr unvermutet in ruhiger, selbstverständlicher, beinahe eisiger Schönheit. Aber das war nicht das richtige Wort. Herr im Himmel, sie fand kein anderes, als sie in dem ersten Schrecken, der ihre arbeitsame, unempfindliche Natur anfaßte, dasjenige zu bezeichnen suchte, was ihr so ungeahnt jede Beherrschung raubte. Da lehnte vor ihr an der schweren Mahagonieinfassung des Billards eine wunderbar ebenmäßige Männergestalt, breitschultrig und dabei schlank und wohlgefügt, als wenn ein Künstler den Körper aus Marmor geformt hätte. Nur bizarrer Eigensinn schien die muskulösen und doch jugendlich weichen Glieder mit der eleganten dunkelblauen Dragoneruniform aus feinstem Tuch bekleidet zu haben, um deren Achselbiegung sich ein paar blitzende Silberschnüre herumzogen. Und nun welch ein Haupt!
Johannas Nüchternheit war weit davon entfernt gleich nervösen rasch gewonnenen Genossinnen ihres Geschlechts etwa bei dem ersten Blick in schwärmerischer Anbetung aufzulodern. Nichts dergleichen empfand ihre herbe deutsche Fassung dem völlig neuartigen Bild von Männerschönheit gegenüber, das wie aus dem Himmel gefallen plötzlich vor ihr aufragte. Nur ein ungeheures kindliches Staunen erfüllt sie ganz und gar. Und mit einer namenlosen Bewunderung betrachtete sie das Meisterwerk in einer Andacht, die nicht frei war von künstlerischer Erhebung. Durchaus natürlich fand sie es ferner, daß auch der fremde Offizier in vollkommener Bewegungslosigkeit vor ihr verharrte, und nicht der leiseste Verdacht beschlich sie, der junge strahlende Mann könnte nur deshalb seine lässig angelehnte Stellung so dauernd beibehalten, weil seine großen braunen Augen sich in dem hellen Ährenschimmer ihres Haares verfangen hatten.
Eine Erinnerung peinigte das Landmädchen. Wo hatte sie doch das feine schmale Haupt mit der fast griechischen Nase und den sanft überbräunten Wangen bereits einmal gesehen? Und vor allen Dingen, die wirre Fülle kurzer, brauner Locken, von denen die hohe Stirn trotzig und widerwillig umrahmt wurde, mußte sie ihr nicht den Eindruck verstärken, als wenn das alles ihre Phantasie schon oft beschäftigt hätte?
Und richtig, ein erlösender Blitz riß ihre Befangenheit auseinander. Jetzt wußte sie es. In ihrem Schlafzimmer zu Maritzken hing ein alter, halb verräucherter Buntstich, der die anmutigen und doch nachdenklich-melancholischen Züge des Preußenprinzen Louis Ferdinand wiedergab, des edlen Opfers von Saalfeld. Oh, wie seltsam die schöpferische, vielgestaltige Natur sich wiederholte! Hier saß in jeder Linie derselbe Mensch, bequem und doch voll anerzogener Eleganz auf der Umrahmung des Billards, und ohne daß er ein Wort äußerte, sagten die sanften lächelnden Augen des Offiziers ganz deutlich, daß ihm das große blonde Mädchen eine erfreuliche Erscheinung böte.
»Nur reichlich verwöhnt scheint der vornehme Herr mit den silbernen Achselschnüren zu sein,« dachte die praktische Johanna, die sich plötzlich ihrer Bewunderung mit einem harten Ruck entriß, weil der Offizier ein Lebenszeichen von sich gab, indem er sich gefällig gegen sie verneigte. »Bei uns pflegen sich Militärs zu erheben, wenn sie eine Dame begrüßen. Wozu schlenkert dieser so anhaltend mit den hohen Reiterstiefeln aus Lackleder? Und Himmel, trägt er nicht goldene Sporen? Das muß ein großes Tier sein!«
»Teures Fräulein,« hauchte neben ihr der Fabrikbesitzer Miljutin und rückte viel verschüchterter, als sonst, an seiner goldenen Brille, »bevor ich die Ehre habe, Ihnen das Mosaikbild unseres allergnädigsten Gossudars zu zeigen, erlauben Sie gütigst eine Vorstellung.« Er verbeugte sich tief gegen das Billard, als wäre es viel wichtiger, die Zustimmung des Dragoneroffiziers einzuholen, und fuhr zitternd vor der Bedeutung seines hohen Bekannten fort: »Dies ist Fürst Dimitri Sergewitsch Fergussow von den Petersburger Gardedragonern. Er genoß die Ehre, einer der Adjutanten unseres Zaren gewesen zu sein, den der lebenspendende Christus erhalten möge. Und dieser Herr hier,« sprach Herr Miljutin weiter, nachdem Johanna ihr Haupt stolz und gemessen geneigt hatte, als wollte sie sich selbst durch doppelte Zurückhaltung für ihre anfängliche kindische Fassungslosigkeit bestrafen, »dieser Herr ist Oberst Geschow aus Mariampol.« Und mit einer halb wegwerfenden Handbewegung setzte der Fabrikant noch hinzu: »Ach, richtig –, daß ich es nicht vergesse, dies hier ist Alexander Diamantow, ein Bergbaustudent.«
Die Älteste von Maritzken hatte den Fürsten Fergussow mit Unrecht verdächtigt. Denn während die anderen beiden Herren sich verbeugten, wie man sich eben vor einer eintretenden Dame verneigt, gab der Aristokrat mit einer gewissen Hast seine lässige Stellung auf, ganz wie wenn er für die Zwanglosigkeit, in der man ihn überrascht, lebhaft um Nachsicht zu werben hätte. Und die Art, wie er nun der blonden Deutschen seine Ehrfurcht bewies, ließ auf den ersten Blick erkennen, daß der schöne Mensch seine Erziehung auf dem Parkett des Hofes genossen haben müsse. Ohne das Wort an die Fremde zu richten, trat der Dragoneroffizier höflich zur Seite, um den Ankömmlingen den Weg zum Mosaikbilde freizugeben. Kaum hatte ihm Johanna jedoch den Rücken gekehrt, da folgte ihr ein müder, etwas gleichgültiger Blick, der dann zu dem Obersten und dem Bergbaustudenten herüberglitt und von einem Achselzucken begleitet war. Die Gebärde schien auszudrücken: »Wozu die Unterbrechung?« Trotzdem begaben sich die drei Herren gleichfalls an die Breitseite der Wand, als wollten sie den Eindruck beobachten, den das Mosaikbild auf diese kühle, große Frau hervorbringen würde.
»Eine echte Nemza,« dachte Dimitri Sergewitsch, der direkt hinter dem Mädchen verweilte und auf diese Weise, ohne daß sie es merkte, ganz aus der Nähe ihre reife Blondheit festzustellen vermochte. »Fade,« urteilte der Fürst abschätzend und ohne eine Spur innerer Achtung, »ein grobes, starkknochiges Geschöpf.« Und doch bückte er sich katzenhaft, um dem Mädchen das Taschentuch aufzuheben, das ihr eben aus der Rechten entglitten war. Mit einer formvollendeten, artigen Verneigung, die die äußerste Dienstbeflissenheit verriet, reichte er ihr das Gewebe zurück. »Es ist dick wie ein Scheuertuch,« gestand er sich dabei selbst. »Wie geschmacklos sich die Deutschen kleiden. Nicht einmal ein Tröpfchen Parfüm hat sie angewendet. Fi donc!«
Fürst Fergussow schwärmte nicht für die Blonden. Er schwärmte überhaupt für nichts. Er suchte nur immer. Und der verwöhnte Liebling der Petersburger Salons grübelte manchmal ernsthaft darüber nach, ob das Geschenk des Lebens nicht eigentlich eine gemeine und widersinnige Teufelsgabe wäre. Immer frischer Reizmittel bedurfte man, um diese abspannende, diese zermürbende Gleichgültigkeit stets von neuem aufzurütteln. Und in einer jener Stunden der Lethargie oder der nagenden Selbstzerfleischung, wenn das Daseinsflämmchen verendend zuckte, da war der bewunderte Dimitri Sergewitsch, der Held so vieler Romane, zuletzt in einen Kreis junger Studenten und mittelloser, im Avancement übergegangener Offiziere geraten, die ihre fest geschlossene Vereinigung das »Symposion« nannten. Unter den Symposiasten aber herrschte die Überzeugung, daß man das Leid und die Widerwärtigkeiten des Daseins nicht köstlicher betrügen könne, als durch ein gemeinschaftliches, freiwilliges Ende in voller Kraft und Rüstigkeit. Nachdem man vorher eine Orgie gefeiert, die alle Blüten der Kultur, die giftigen sowohl wie die himmlischen, gleich einem Kranz um die Häupter der Teilnehmer geschlungen. Hier hatte er auch Diamantow getroffen, dessen soziale Hoffnungen wieder einmal gescheitert waren. Der Student war allmählich von der verzweifelten Idee befallen worden, im Grunde fügten die Volkserwecker, die die träumenden Massen aus ihrem Schlafe aufzurütteln versuchten, den Hindämmernden ein schweres Unrecht zu. Denn nur Nichtwissen, Traum und Schlummer machten das Dasein erträglich. Voll zehrender Leidenschaft wurden diese auflösenden Ansichten verkündet, und alles war bereits für die große Orgie vorbereitet, als Fürst Fergussow, und mit ihm gerade die Vornehmsten des Symposions, plötzlich ohne jeden erkennbaren Grund fortblieben, und der Rest durch die Polizei auseinander gesprengt wurde. Keiner der armen Mißleiteten warf Dimitri Sergewitsch indessen etwa Feigheit vor. Dazu war die Tollkühnheit des Gardedragoners in der Hauptstadt zu sehr bekannt, man wußte überdies, daß er erst im letzten Winter ein paar ertrinkenden Kindern in die Eisschollen treibende Newa nachgesprungen sei. Also Feigheit nicht. Die einen meinten, eine sehr, sehr junge Dame aus der höchsten Aristokratie, kaum dem Kindheitsalter entwachsen, hätte seine launenhafte Neigung für ein paar Monate entfacht, und die Erde reiche ihm wiederum ihre heißen Geschenke. Die anderen erzählten gerade das Gegenteil. Bei Hofe, flüsterten sie sich achselzuckend zu, wäre ein wundertätiger Mönch aus einem fernen Kloster erschienen, der die Macht bewiesen hätte, abgeschiedene Geister aus dem Jenseits zu rufen und die Seelen seiner Vertrauten durch inbrünstige Ekstasen in ein höheres Reich der Wonne zu heben. Aber Dimitri Sergewitsch! Man schüttelte den Kopf. Sollte wirklich dieser eiskalte Rationalist zu jenen heiligen Schwärmern gehören?
Warum nicht?
Sein rastlos hin und her zuckendes Gemüt, das immerfort die Farbe wechselte, je nachdem ihn eine neue Laune quälte, es konnte sich gewiß auch heißhungrig in die Abgründe der Mystik stürzen. Freilich nur, um jene Klüfte bald darauf wieder, verächtlich lächelnd, mit dem Spieltisch oder dem Boudoir einer Zirkusreiterin zu vertauschen.
»Kann die Mosaik Ihren Beifall erringen, teures Fräulein?« fragte Herr Miljutin der Ältere noch demütiger als sonst.
Johanna geriet in einige Verlegenheit. Die steifen, eckigen Linien des eingelegten Ritterbildes sagten ihr keineswegs zu. Auch schien ihr der weiche Dulderkopf des regierenden Zaren durchaus nicht unter die eiserne Sturmhaube zu gehören. Aber durfte die Gutsherrin vor den Offizieren des fremden Herrschers eine so absprechende Meinung äußern? Regungslos verharrte sie, und in ihre Wangen stieg die Röte der Unsicherheit.
»Wir haben uns hier bemüht, national-russische Kunst zu geben,« fuhr Herr Miljutin dringender fort, da sich der sanfte Mann darüber aufzuregen schien, weil die Nemza seiner Schöpfung gegenüber so empfindungslos blieb.
Wie unangenehm!
Schon wollte sich das ehrliche Landmädchen mit ihrem geringen Verständnis entschuldigen, als ihr unerwartet eine Hilfe kam, auf die sie niemals gerechnet hatte. Und wie melodiös und schmeichelnd das Organ ihres unverhofften Retters klang! Unwillkürlich wandte sich die hohe Blonde dankbar ihrem Verteidiger zu, und so unverdorben war sie, daß sie hinter diesen bestrickenden Lauten auch eine reine und aufrichtige Seele vermutete.
»Bester Miljutin,« hemmte der Fürst den aufsteigenden Unwillen des Händlers, indem er ihm mit seiner feinen weißen Hand freundschaftlich auf die Achsel klopfte, »muten wir dem gnädigen Fräulein nicht zuviel zu. Unter uns, die Vorliebe für diese Quadrate ist eine Barbarei, die wir unseren byzantinischen Lehrmeistern hätten lassen sollen. Sie können mir glauben, unsere herrschsüchtigen Mönche benutzen die von Totenstarre verkrampften Gelenkpuppen nur, um unseren dummen Bauern Furcht einzuflößen. Kommen Sie, meine Gnädigste,« fuhr er mit seinem liebenswürdigen und freimütigen Lächeln fort, als er bemerkte, wie erleichtert die befangene Deutsche aufatmete, »lassen wir uns hier auf Leo Konstantinowitschs neuem Klubsofa nieder, denn jetzt werden Sie wirklich etwas von russischer Kunst empfangen, worin wir unter den Nationen ziemlich einzig dastehen. Vielleicht, weil den anderen Völkern eine Nachahmung nicht lohnt. Hören Sie? Dort drinnen singt Frau Oberst Geschow ein tatarisches Dorflied. Ah, und sie begleitet sich selbst auf der Balalaika. Wollen Sie mir glauben,« sprach er in seiner zwanglosen und wahrhaft vornehmen Art weiter, »daß ich selbst jenes Instrument in den Abendstunden ein wenig spiele? Es hat so etwas von den reinen Klängen der Kindheit. Und nicht wahr, wir alle retten uns manchmal gern hinüber?«
Heiß und klagend zugleich begann im Nebenzimmer eine dunkle Frauenstimme unauffällig zu singen. Ein eigentümlicher Saitenvierklang, hüpfend und neckisch, tönte dazwischen, als ob das Leben auf die traurige Weise mit einem unbekümmerten Tanz antworte.
»Handelt es sich hier vielleicht um einen Abschied?« fragte Johanna rasch, die den inneren Sinn des Liedes trotz der fremden Worte zu begreifen meinte.
Dimitri Sergewitsch rückte respektvoll etwas näher an sie heran. Und zum erstenmal richtete er seinen sanften Blick gegen die großen blauen Augen des Landfräuleins und fand zu seiner Verwunderung, daß dort drinnen etwas leuchte, ehrlich und bestimmt, was zu der gleichgültigen Dummheit, von der er die Deutsche erfüllt glaubte, nicht recht stimmen wollte.
»Sie haben ganz recht, Gnädigste,« versicherte er in seiner einnehmenden Manier, die ihm so wenig Mühe bereitete, »ich mache Ihnen mein Kompliment, weil Ihnen die Musik scheinbar ihre letzten Geheimnisse entschleiert. Wenn Sie gestatten, möchte ich Ihnen den Text übersetzen. Ein tatarisches Bauernmädchen sitzt im Rahmen eines weinübersponnenen Fensters. Draußen auf der Dorfstraße nimmt ihr Liebster, der mit seiner Schwadron in den Krieg zieht, von ihr Abschied. Und nun fragen sich die beiden jungen Leute im Wechselgesang, was sein wird, wenn wiederum der Wein blüht:
»Ich küsse dich, Anuschka.«
»Ich küsse dich, Iwan.«
»Was wird sein, wenn wieder der Wein blüht?«
»Ja, was wird sein?«
»Hochzeitsgeschenke werden kommen, und du wirst nicht an mich denken.«
»Ja, Hochzeitsgeschenke werden kommen, aber ich werde an dich denken.«
»Denke nicht an mich, denn ein eisernes Vögelchen flog mir ins Herz.«
Drinnen tönten die schwermütigen Strophen fort, immer von der hüpfenden Begleitung durchschlungen und unterbrochen. Der Fürst aber beugte sich vor, als ob er ein Urteil über das heimatliche Lied erwarte. Allein seine Zuhörerin war über das rein Poetische des Gedichtes längst hinweggeeilt. Ihr an das Nächstliegende stets gebundener Sinn stöberte unruhig in den Gedankenverbindungen herum, die durch ein einziges Wort des Textes in ihr erregt waren. – Krieg! – Und plötzlich vergaß sie, wer neben ihr saß. Nichts als die weiche und gütige Stimme des Mannes, der sie unterhielt, war in ihrem Ohr haften geblieben. So kam es, daß sie sowohl die fremde, vielleicht feindliche Volksangehörigkeit ihres Nachbarn außer acht ließ, ja, daß ihr sogar sein hoher Rang entglitt. Wie ein bekümmerter Mensch, der bei einem anderen lebenden Wesen Trost sucht, bettete sie ihre Hand ohne jede Absicht auf die Finger des anderen, um rasch und inständigst zu fragen:
»Sie sind mir fremd, aber Sie müssen es wissen, – nicht wahr, es ist doch unmöglich?«
»Was ist unmöglich?« wiederholte der Dragoner sich sammelnd, obwohl er den Sinn ihrer plötzlich ausgestoßenen Bitte recht wohl begriff.
Wie plump die Nemza war! Man bereitete doch einem Unbekannten, den man sicherlich nie wiedersehen würde, nicht derartige Verlegenheiten! Doch während er sich zu ihr wendete, spielte wieder das gewinnende Lächeln des Gesellschaftsmenschen auf seinen klassisch geformten Zügen.
»Was beunruhigt Sie, bestes Fräulein? Kann ich vielleicht Ihre Bedenken zerstreuen? Sie sehen übrigens so aus, als wenn Sie nicht leicht außer Fassung zu bringen wären.«
Da zog Johanna, zur Besinnung gelangend, ihre Hand hastig zurück, raffte sich zusammen und saß wieder so aufrecht und unberührt, den Kopf in den Nacken geworfen, daß den Fürsten ihre steife Haltung innerlich belustigte.
»Sie haben ganz recht,« äußerte sie kalt, und ihr Ton klang so eisig, wie ihn nur die Herrin von Maritzken, sobald sie sich oder andere auf einem Fehler ertappte, anzuwenden pflegte. »Wie kämen Sie dazu, mir Aufschlüsse über etwas zu erteilen, was Ihnen vielleicht dienstlich verboten ist.« Und sich zu Herrn Miljutin kehrend, begann sie mit dem Fabrikbesitzer sich wiederum über geschäftliche Dinge zu unterhalten.
Eingehend erkundigte sie sich bei dem Kaufmann nach dem Preis seiner eigenen Lastpferde.
Ein Pferdegespräch also, auch das noch! Ungläubig lauschte Dimitri Sergewitsch ein paar Sekunden herüber. Dann aber, als sich der schöne junge Mann daran erinnerte, wie unbändig taktlos es wäre, eine Unterhaltung so schneidend und kurz abzubrechen, namentlich ihm, dem stets Höflichen gegenüber, da glitt er fast unhörbar empor und gedachte sich mit einer seiner anmutigen Verneigungen durch den Vorhang in das Nebenzimmer zu begeben, um Maria Geschowa ein paar Lobeserhebungen über ihren Gesang zu Füßen zu legen. –
Da geschah etwas.
Ganz unvermutet und gegen seinen Willen wurzelte er dicht an dem Platz, wo Johanna saß, fest, so daß sich ihre Gewänder beinahe berührten.
Was war das?
An der schmalen Seitenwand des Zimmers öffnete sich eine niedrige Tür, und auf dem Vorplatz, der mit ein paar Steinstufen auf den Hof herunterleitete, nahm man eine russische Ordonnanz wahr, die einen Brief oder eine Depesche in der Hand hielt. Mehrere Offiziere umgaben den Soldaten, ein halblautes Summen und gedämpfte Rufe schlugen von draußen herein.
Johanna griff fest in die Seitenlehne des Klubsofas. Ihr heller Verstand verriet ihr auf der Stelle, dort auf dem Vorhof spiele sich nichts Gleichgültiges ab, nein, daß der Bote vielmehr eine Entscheidung brächte. In das Dunkel, das sie alle umgab, wurde sicherlich in diesem Augenblick eine Fackel geschleudert, in der nächsten Minute konnte bereits ein wütender Brand auflodern, wilde Glut mußte Weg und Zukunft erhellen. Nicht um einen Schlag pochte das Herz der Landtochter schneller. Die Gewißheit war stets ihre treueste Bundesgenossin. Und nur ein einziger Gedanke riß klar und blendend durch ihr Bewußtsein.
Fort!
Gab es für sie und die Schwestern, die in ihrer Hut standen, noch einen Rückweg? Das unerschütterliche Vertrauen auf die Standhaftigkeit des weißen Friedenstempels, unter dessen glattem Marmordach ihr ganzes Leben verflossen, es war eine Torheit gewesen. Ihre Augen starrten unausgesetzt auf den offenen Durchgang. Nicht der kleinste Zug in den aufgeregten Mienen der Männer dort draußen entging ihr. Ihr war es, als verstände sie plötzlich jede Silbe der fremden Worte, die da so rasch und kurz wie Flintenkugeln durcheinanderflogen.
Kein Zweifel, das Fürchterliche war da!
Und alles, was nun geschah, wirrte wie Schattenbilder um sie her. Fast lautlos und unhörbar vorübergleitend.
Stürzte nicht der Bergbaustudent Alexander Diamantow auf den Flur hinaus, um die schmale Tür sofort hinter sich zu schließen? Eine plötzliche Stille trat ein. Auch in das Nebenzimmer mußte bereits die geheimnisvolle Kunde gedrungen sein, denn auch dort war jeder Laut erstorben. Man hörte nur das leise Klirren der Teetasse, die in der Hand der Gouverneurin zitterte. Gleich verwunschenen Traumfiguren, leblos, keiner Bewegung mächtig, verharrten die Männer in Johannas Umgebung.
Und dann – die Tür flog auf, – weiß wie ein Blatt Papier überreichte der Bergbaustudent dem Obersten Geschow ein geschlossenes Formular. Johanna sah, wie sich die breite Brust des untersetzten Obersten gewaltsam hob. Die gutmütigen grauen Augen des Mannes schlossen sich für eine Sekunde, und seine fleischige Rechte strich schwerfällig über die kurz geschorenen weißen Haare. Im nächsten Moment freilich stieß er einen unverständlichen Ruf aus, brach zitternd vor Aufregung das Schreiben auseinander, und während er sich damit vorgebeugten Hauptes gegen das Fenster wandte, wehrte er es den anderen nicht, ihm in atemloser Spannung über die Schultern zu blicken. Ein starkes Atmen ging durch den Raum.
Gleich darauf kehrte sich der Oberst zurück. Mit einer straffen Bewegung steckte er sich das Formular in den Ärmelaufschlag, nickte kurz und warf ein einziges Wort hin. Es pfiff wie ein Säbelhieb. In den Augen des Kommandeurs aber funkelte ein seltsames Leuchten.
Da – vom Hof schallte ein hundertstimmiger Schrei herein. Taumel, Ekstase, Rachegier oder ein allgemeines begeisterungstrunkenes Gelöbnis mischte sich in dem langen, die Brust befreienden Aufbrüllen. Oberst Geschow jedoch, der fast schon unter dem Vorhang weilte, warf energisch die Rechte zurück, als erteile er den gemessenen Befehl, daß seine Untergebenen derartige Kundgebungen sofort zu unterdrücken hätten, und ohne Verzug eilte die Mehrzahl der Offiziere auf den Hof hinaus. Der Rest folgte seinem Kommandeur in das Gesellschaftszimmer, und bald befand sich die Fremde, die man vergessen hatte, allein.
Nein, nicht allein.
Langsam kehrte das Leben in die Glieder des Fürsten Fergussow zurück. Er war es, der einzig von allen anderen noch immer neben der Fremden weilte, und sie sah nun wie der junge Mann aus seinem tiefen Nachdenken zu erwachen schien. Keine Muskel regte sich in dem reinen kalten Antlitz, als er jetzt ernst seine sanften braunen Augen auf die Deutsche richtete. Dann verneigte er sich vor ihr ganz in der Art eines großen Herrn.
»Meine Gnädigste,« sagte er zuvorkommend, »Oberst Geschow hat zweifellos im Drang seiner Geschäfte Ihnen gegenüber eine Pflicht verabsäumt. Es kann ihm nur angenehm sein, wenn ich sie an seiner Statt erfülle.«
Noch hatte der Fürst nicht ganz geendet, als hinter dem Vorhang die laute Stimme des Hausherrn, des Rittmeisters Sassin, in ihr gewöhnliches polterndes Lachen ausbrach. Augenscheinlich galten seine Beruhigungen den fremden Gästen, die gewiß durch das zuletzt Erlebte einem hemmungslosen Schrecken verfallen waren.
»Aber meine Damen,« hörten die beiden Lauschenden das vollsaftige Organ des Rittmeisters schmettern, »mein bester Freund Rudolf Bark, welch unnötige Aufregung! Eine dienstliche Depesche wie hundert andere. Nicht der geringste Grund, um darüber nachzudenken. Wie? Aufzubrechen wünschen Sie? Das dulde ich unter keinen Umständen. Das leide ich einfach nicht. Das Ganze war hier als ein kleiner thé dansant gedacht. Jede Minute müssen die Spielleute unseres Regiments eintreffen. Nein, um dieses Vergnügen lasse ich uns nicht bringen. Sie befinden sich unter Freunden, nicht wahr, Oberst Geschow?«
In dem Billardzimmer jedoch zog Fürst Fergussow die Augenbrauen zusammen.
»Ich weiß nicht, mein Fräulein,« äußerte er rasch zu seiner Gefährtin, die ihm nun in ihrer ganzen Größe gegenüber ragte, »warum Leo Konstantinowitsch so Widersinniges redet. Ich hoffe, es geschieht, um Ihre Furcht nicht noch zu vermehren. Aber wie gesagt, ich glaube Ihnen die Wahrheit schuldig zu sein. Hören Sie also: Soeben erfuhren wir, daß Ihre Regierung an die unsrige ein Ultimatum richtete. Es läuft in zweiundsiebzig Stunden ab.«
»Ist das der Krieg?« fragte Johanna ruhig.
Dimitri Sergewitsch zuckte die Achseln.
»Wer weiß das?« gab er knapp zurück. »Wir Frontoffiziere vermögen derartiges am wenigsten zu beurteilen. Aber auf die Gefahr hin, uns Ihrer Gegenwart zu berauben, möchte ich Sie doch bitten, sich sofort in Ihre Heimat zurückzubegeben.«
»Hörten Sie nicht,« warf Johanna mit ihrer gewohnten Umsicht ein, »daß Ihr Freund, der Rittmeister Sassin, uns nicht fortzulassen wünscht?«
»Das kann nur ein Scherz sein,« erwiderte der Aristokrat sich aufrichtend, und in diesem Moment sah man, wie kräftig die Muskeln in seinen schlanken Gliedern spielten. Er schlug den Vorhang zurück, um seine Gefährtin in das Gesellschaftszimmer vorantreten zu lassen, und seine einschmeichelnde Stimme nahm einen Klang an, der vollständig von der Gewohnheit des Befehlens beherrscht war. »Leo Konstantinowitsch,« rief er laut, »wir alle bedauern es lebhaft mit Ihnen, weil die Zeit für unsere deutschen Gäste abgelaufen ist. Die Herrschaften wünschen sich zu Fuß bis zu der Brücke zu begeben, und Sie werden die Güte haben, dafür Sorge zu tragen, Herr Kamerad, daß der den Damen gehörige Wagen ihnen sofort folgt.«
»Das leide ich nicht,« knurrte Sassin plötzlich händelsüchtig, und eine rote Blutwelle schoß ihm in die Stirn. »Wozu das alles? Auf der Straße treibt sich jetzt ohnehin allerlei Fabrikarbeitervolk herum, die Damen könnten nur Unannehmlichkeiten erfahren.«
»Es ist vernünftig, Leo Konstantinowitsch, daß Sie darauf aufmerksam machen,« entgegnete Fürst Fergussow, obwohl er ihn keines Blickes würdigte. »Aber ich selbst werde die Ehre haben, die Damen sowie den fremden Herrn bis an die Brücke zu geleiten.«
»Ah, Sie selbst, Durchlaucht,« murmelte der Hausherr erstickt.
»Sie gestatten, daß ich mich Ihnen anschließe,« erbot sich Oberst Geschow. »Ich vermute, daß besondere Brückenbefehle ausgegeben sind, und ich wünsche, daß unsere Gäste ohne Belästigung hinüber gelangen.«
Die Gesellschaft sprach laut durcheinander. Jeder suchte sich und die übrigen davon zu überzeugen, daß all die gewünschten Vorsichtsmaßregeln völlig grundlos wären, weil sich bei der bekannten Friedensliebe und Gutmütigkeit des slavischen Volkes niemals etwas Ernstliches ereignen würde.
»Wie können in einem Staate, der sich so langsam emporarbeitet, überhaupt jemals solche das Volksvermögen zerrüttende Gedanken auftauchen,« ächzte der Gouverneur Bobscheff, indem er, schlau mit den Augen zwinkernd, seinen Hals weit über die übrigen erhob. »Man wird einen Ausweg finden. Auf Auswegen beruht die ganze Politik.«
»Hören Sie es?« machte Tatiana, die Heroldin seines Ruhmes, aufmerksam. »Mein Gatte verwirft aus nationalökonomischen Bedenken jede kriegerische Auseinandersetzung.«
»Leben Sie wohl, Rudolf Bark,« so schritt unbekümmert um die betroffenen Mienen der anderen die dunkle Tatarin mitten durch den ausweichenden Kreis hindurch und auf den Kaufmann zu, der wie eine Schutzwehr für seine bereits in der Diele befindlichen Damen, noch auf der Schwelle verharrte. Und einer sie durchströmenden Scham nachgebend, streckte Maria Geschowa dem Konsul warm die Hand entgegen. »Sie wissen jetzt,« sagte sie ganz laut, als ob sie wünsche, daß es die anderen auffangen sollten, »Sie wissen jetzt, warum es hier manche Heimlichkeiten gab. Aber das, was ich Ihnen jetzt sage, das können Sie mir ehrlich und ohne Mißtrauen glauben. Ich wünsche von Herzen, daß die uns noch zur Überlegung gegönnten drei Tage eine blutige Entscheidung abwenden möchten. Denn gleich mir, so gibt es hier unter uns viele,« setzte sie mit erhobener Stimme hinzu, als sie das eisige Schweigen der Umstehenden bemerkte, »viele gibt es hier, die nichts so widersinnig, ekelerregend und hündisch finden, als das bewußte Zerfleischen von Geschöpfen, die sich Menschen nennen. Pfui, möchte es nie dazu kommen!«
»Du hast recht, Maria,« pflichtete nach einer Pause des bedrückten Schweigens der Gatte der Tatarin, Oberst Geschow, sehr ernsthaft bei und streichelte der erregten Frau billigend und respektvoll über den Arm. »Hoffen wir, daß das Menschengeschlecht diesen Schritt nach unten nicht zu wagen braucht; denn nach abwärts wird der Weg führen.«
In diesem Augenblick öffnete Fürst Fergussow die äußere Tür, und das Licht des funkelnden Sommertages flutete üppig und hell auf all die ängstlich zusammengedrängten Menschenköpfe, die ahnungsvoll nach dem fernen Grollen des Weltenschicksals hinaushorchten.
In wenigen Minuten hatte man den Brückenkopf erreicht. Und doch war es den durch den schwarzen kotigen Kohlenstaub dahineilenden Mädchen gewesen, als ob sie sich durch andrängende Jahre hätten hindurcharbeiten müssen. Das rußige Erdreich besudelte ihre hellen Schuhe, die offenen Mäntel flatterten unordentlich hinter ihnen her: Ganz gleich, nur den Ort erreichen, von wo man die Heimat sehen konnte, die sichere, die schützende.
Da – gottlob – da gewahrte man schon den schmalen Fluß, man sah die langen Kohlenkähne, vor denen die Ablader nun beschäftigungslos herumlungerten. Und jetzt, – war das nicht das Getrappel vieler Pferde, das da hinten von der hölzernen Brücke herüberpolterte? Noch ein paar Schritte, und die dunkelblauen Uniformen einer Reiterabteilung wurden sichtbar, die auf unruhigen Pferden dicht vor dem Brückeneingang hielt. Die gezogenen Säbel blitzten im Licht des Spätnachmittags.
»Großer Gott,« fuhr Isa auf, während sie die Hand ihrer ältesten Schwester, die ruhig und aufgerichtet wie immer neben ihr herschritt, in heftiger Bestürzung umklammerte, »was bedeutet das? Hans, ob man uns hier gewaltsam zurückzuhalten gedenkt?«
Über das marmorweiße Antlitz der Großen huschte ein mattes Lächeln. Und doch richtete sie ihre Augen auskunftheischend auf den Fürsten Fergussow, der mit seinem leichten, federnden Gang an ihrer Seite geblieben war. Sofort nickte der Aristokrat verständnisvoll und trat rasch an den jungen Zugführer heran, der grüßend seinen Degen vor dem Offizier in der blitzenden Uniform senkte. Ein paar schnelle, den anderen unverständliche Worte wurden gewechselt. Gleich darauf parierte der Dragonerleutnant seinen Braunen und rief etwas mit lauter Stimme über die Brücke. Gehorsam traten auf den Anruf die beiden Grenzsoldaten dicht an das Wachthäuschen heran und gaben die Durchfahrt frei.
Da meldete sich ein fernes Rollen. Im Galopp kam der Landauer des Konsuls über den Marktplatz gerasselt, und schon von weitem erkannte man, daß der Rittmeister Sassin selbst das Gespann lenkte. Mit klatschenden Peitschenschlägen trieb er die Pferde die steile Straße hinan. Kaum hatte er die Brücke erreicht, als er auch schon dem deutschen Kutscher die Zügel zuwarf und klirrend herabsprang. Unter beständigem betrübten Kopfschütteln, und während er sich unausgesetzt den starrenden rotblonden Schnurrbart strich, schritt die mächtige Gestalt bis mitten auf den Holzweg, wo sich der Konsul, sowie seine Schutzbefohlenen, soeben von ihren russischen Begleitern verabschiedeten. Laut dröhnte die metallische Stimme des Rittmeisters zwischen die letzten höflichen Worte der Scheidenden.