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Der Seelensucher

Georg Groddeck

Inhaltsverzeichnis

Über den Autoren

Der Seelensucher

Impressum

Über den Autoren

Georg Walther Groddeck (* 13. Oktober 1866 in Kösen; † 11. Juni 1934 in Knonau, Schweiz) war ein deutscher Arzt, Psychoanalytiker und Wegbereiter der Psychosomatik. Er war zudem als Sozialreformer und Schriftsteller tätig.

Der Seelensucher

1. Kapitel.

Agathe, der Herausgeber, August Müller und der Seelensucher.

Meine Freundin, Frau Agathe Willen, hat mich auf ihrem Sterbelager beauftragt, die Geschichte ihres Bruders, des wunderlichen Herrn Thomas Weltlein zu veröffentlichen.

»Thomas,« sagte sie, »war der beste Mensch und der Gescheiteste, den ich je getroffen habe. Ich bin Schuld daran, daß er so elend zu Grunde gegangen ist. Meine übergroße Reinlichkeit und Angst trieben ihn in die Stürme hinaus, in denen er Schiffbruch litt. Und wenn jetzt jedermann über des Armen Narrheit lacht, so lastet das mit Zentnerschwere auf meiner Seele. In meiner Gewissensnot habe ich alles gesammelt, was ich über die merkwürdigen Erlebnisse meines Bruders erfahren konnte. Ich bitte Sie, der Sie ihn kannten und liebten, die Zettel, Briefe und Tagebücher, die dort in der Kiste liegen, durchzusehen, zu ordnen und allen wohlweisen Männern und Frauen zur Warnung drucken zu lassen.« Damit drehte sich die tapfre Agathe gegen die Wand und starb.

Es war ein Irrtum der guten Alten, daß ich den also geschilderten Bruder gekannt oder gar geliebt hätte. Als mich der Zufall in die Stadt Bäuchlingen warf, hatte er schon das Zeitliche gesegnet. Aber die Tote konnte ich nicht mehr darüber belehren. An ihrem Bette stehend gelobte ich, ihren letzten Wunsch zu erfüllen. Ein nachsichtiges Publikum wolle verzeihen, wenn ich ihm weitschweifig erzähle, wie Thomas Weltlein lebte und starb.

Ich muß meine Erzählung berichtigen, ehe ich sie beginne. Der Mann, von dem sie handelt, hieß nicht Thomas Weltlein, sondern von den Vätern her war er August Müller benannt. Kraft eigener Machtvollkommenheit jedoch verwandelte er diesen seinen ererbten Namen. Das war in Bäuchlingen männiglich bekannt und auch ich wußte darum. Aber erst aus den Papieren der Schwester erfuhr ich die seltsamen Gründe dieser Wiedertaufe, und auch der Leser wird seinerzeit darüber unterrichtet werden. Vorläufig ist es noch August Müller, von dem ich zu erzählen habe.

August Müller war durch den Tod seiner Eltern frühzeitig zu einem beträchtlichen Vermögen gekommen, hatte sich lange Jahre an einer Reihe von Universitäten studienhalber aufgehalten, war viel gereist und hatte viel erlebt, um sich schließlich als Mann von etlichen dreißig Jahren nach Bäuchlingen zurückzuziehen. Dort lebte er in einem weinumrankten Häuschen zusammen mit seiner verwitweten Schwester Agathe Willen und deren halbwüchsigen Tochter Alwine. An den Einzug dieser Schwester in sein Haus knüpfte sich ein Ereignis, das, so unscheinbar es dem Leser vorkommen mag, erwähnt werden muß. August hatte auf einer seiner Reisen Goethes Enkel, Wolf, kennen gelernt. Durch seine Gabe, einsame Menschen zum Sprechen zu bringen und ihnen aufmerksam zuzuhören, hatte er Wolf Goethes Gunst in so hohem Grade gewonnen, daß dieser ihm zum Andenken einen vom Großvater eigenhändig geschnittenen Schattenriß schenkte. In sauberen Umrissen war aus schwarzem Papier ein Mann geschnitten, der, auf der Weltkugel sitzend, ein kleines nacktes Frauenzimmerchen auf der flachen Hand hielt, dessen Mittelstück er erst forschend mit der Lupe betrachtete. August war entzückt davon, ließ das Bildchen einrahmen und taufte es »Seelensucher«. Er hatte es auf seinem Schreibtisch so aufgestellt, daß jedesmal, wenn er die Augen von Arbeit oder Buch erhob, der Blick darauf fallen mußte. Er liebte das Bild. Nach dem Tode seines Schwagers lud er seine Schwester mitsamt der kleinen Alwine auf einige Wochen zu sich nach Bäuchlingen ein. Da ihm das kleine Mädchen gefiel und die sorgende Hand seiner Schwester ihm das Leben angenehmer machte, bat er eines Morgens Agathen in Zukunft bei ihm zu bleiben und seinen Haushalt zu führen. Agathe, die ihm schräg gegenüber auf dem alten Ledersopha saß und sich darüber ärgerte, daß ihr Töchterchen Alwine genau so wenig dem Vater nachtrauerte wie sie selbst dem Ehegatten, daß sie dem Kinde aber nicht einmal soviel Anstand hatte beibringen können, Trauer zu heucheln, wie sie es vermochte, war im Begriff, die Bitte rundweg abzuschlagen, da sie diesen Mangel an Herzenstakt dem Einfluß einer seltsamen Zuneigung Alwines zu ihrem Onkel zuschrieb. In diesem Moment sah sie, wie Alwine, zärtlich an den lieben Onkel geschmiegt, ihr Händchen nach dem Seelensucher ausstreckte. Mit einem raschen Ruck sprang sie auf, riß das Kind vom Knie Augusts weg, gab ihm einen Klaps auf die Hand und beförderte es an die Luft. Was im Anschluß hieran zwischen den Geschwistern verhandelt wurde, ist mir nicht bekannt geworden, das Resultat war jedoch, daß Goethes Seelensucher von August Müllers Schreibtisch verschwand und Agathe mit ihrer Tochter in sein Haus einzog.

Außer seinen beiden Verwandten und einem handfesten Dienstmädchen, Emilie, war noch ein altes Weib im Hause, die den Namen Trude trug und immer eine Atmosphäre von Neid, Zank und Haß mit sich führte. Seltsamerweise genoß sie die besondere Gunst August Müllers, der sie Schön Rottraut getauft hatte und behauptete, sie sei seine Amme gewesen, was nachweislich falsch war. Der Grund, warum er dieses Wesen, dessen einziger Zahn in jeden Frohsinn hinein zu hacken schien, im Hause duldete, war Bosheit. Er freute sich über den beständigen Krieg der Frauen und war der Meinung, das Temperament seiner Schwester brauche eine solche Ablenkung, sonst werde sich ihre reichlich fließende Galle auf ihn ergießen.

Gearbeitet hatte August niemals. Er vermied mit viel Geschick alles, was unbequem war, und tat nur, was er mochte. Aber er war freundlich und unterhaltsam, trinkfest und ohne Neid, so daß er allgemein beliebt war. Äußerlich war er wie andere Menschen, nur ein wenig zu lang geraten: er hatte einen ganz ansehnlichen Bauch und eine viel zu früh erworbene Glatze. Seine Nase war rot und fast immer an der Wurzel von kleinen Eiterpickeln verunstaltet. Sonst ist nichts über August Müller zu berichten.

2. Kapitel.

Die Wanzen kriechen hervor.

Die gemächliche Ruhe, in der August lebte, wurde schrecklich gestört als die Schwestertochter Alwine eingesegnet wurde. Frau Agathe hatte ihr zum Zeichen, daß sie nun erwachsen sei, das Schlafzimmer zum Wohnstübchen einrichten lassen und ihr zum Schlafen eine Kammer angewiesen, in der bisher die alte Trude gehaust hatte. Trude schob höhnisch grinsend die dicke Zunge zwischen die Lippen, so daß sie von dem einsamen Zahn doppelt geteilt war, und eilte zu ihrem jungen Herrn, sich zu beschweren, daß sie der Gans weichen solle. August aber, der olympische, entschied, wie von jeher alle Väter der Götter und Menschen, gegen die Alte für das jungblühende Mägdelein, und schmunzelnd freute er sich an dem Knallen der Türen, wenn Schön Rottraut ihren Kram zur neuen Behausung trug. Er ahnte nichts von der fürchterlichen Rache auf die sie sann.

Am Morgen nach diesem Tage erschien Agathe in großer Aufregung bei dem Bruder. In der weit abgespreitzten Hand hielt sie mit den äußersten Spitzen der Finger einen weißen zusammengefalteten Bogen Papier. Den schob sie schweigend August unter die Nase, gerade auf seine schöne Ausgabe des Don Quixote. Ihre Miene drückte dabei so viel Abscheu und Eckel aus, daß der also aus seiner Lieblingslektüre Aufgescheuchte nicht zu schelten wagte, sondern geduldig den Bogen entfaltete. Aufmerksam betrachtete er den kleinen Gegenstand, der darin eingewickelt war, untersuchte ihn gründlich mit der Lupe und sagte dann zu der Schwester aufblickend: »Es ist eine Wanze.«

»Das weiß ich allein. Brauchst du dazu erst ein Vergrößerungsglas? Fortschaffen sollst du sie.«

Mit einer großartigen Bewegung knüllte August das Papier zusammen und warf es aus dem offenstehenden Fenster. »So,« sagte er und sich über das Buch beugend, suchte er die Stelle, bei der er unterbrochen worden war.

»So?« wiederholte die Schwester und ihre Stimme zitterte. »Nein, so nicht,« und plötzlich in Tränen ausbrechend, rief sie: »Begreifst du nicht, was das bedeutet? Wir haben Wanzen im Hause, in deinem Hause Wanzen. Bedenke doch, was das heißt. Und noch dazu in deiner Nichte Bett hat sie das Zimmermädchen gefunden. Sie ist ein schmutziges Ding, die Emilie, gestern noch habe ich sie ausgezankt, weil sie Alwines Bett nicht überzogen hatte, und heute findet sie das, das, und sagt mir: für Wanzen brauche sie keine Betten zu überziehen und in der Schmutzwirtschaft bleibe sie nicht. Ich habe ihr mit einer festen Maulschelle den Dienst quittiert. Aber nun geht sie hin und schreit es in der Stadt aus und ich bin um meinen guten Ruf. Wo eine sei, seien noch mehr, hat sie gesagt. Und sie hat Recht. Wo eine ist, da sind auch mehr. Man wird bald mit Fingern auf mich zeigen, und eine wird der andern zuzischeln, ich hätte das Haus verunreinigt.«

August lachte laut auf, nahm sich aber sofort zusammen, als er die Verzweiflung Agathes sah. »Laß nur gut sein, Schwesterherz,« sagte er, »das ist nicht so schlimm, damit wollen wir schon fertig werden.«

Die kleine Frau blickte mit einem Ausdruck größten Vertrauens zu ihrem Bruder hinüber. »Ja, du wirst meine Ehre retten,« sagte sie, »ich weiß es. Aber leicht ist es nicht. Wanzen sind unausrottbar, mußt du wissen.«

August lächelte überlegen. »Beruhige dich nur. Das werde ich schon machen,« erwiderte er. Dabei lehnte er sich im Stuhl zurück und dachte nach. Eine ganze Weile schaute Agathe ihn voll Bewunderung an. Dann ging sie leise hinaus.

Von dieser Stunde an war es mit der Ruhe August Müllers aus. All ihr Lebtag hatte Agathe in stummer Andacht zu dem vielbelesenen Bruder aufgesehen, ohne einen Beweis seiner Überlegenheit zu verlangen. Jetzt zum ersten Mal war sein Wissen und Können von ihr auf die Probe gestellt worden, und gerade jetzt, bei dieser lächerlich geringfügigen Aufgabe versagte er. Er hatte sich die Sache leicht gedacht und, siehe da, er kam nicht einen Schritt weiter.

Anfangs ging es sehr einfach zu. Von der hilfreichen Schwester angestaunt, begann August sein Werk gründlich, wie er immer war. Die Bettstelle wurde auseinander genommen, jede Fuge geprüft, die Matratze nachgesehen, die Holzteile der Wände abgesucht. Nirgends fand sich auch nur die leiseste Spur. Nun wurde Petroleum und Salzsäure in reichlicher Menge verwendet, und alles schien gut. Befriedigt, siegesgewiß, von Arbeit müde, ruhte das Geschwisterpaar von der Mühe aus. Aber schon am zweiten Morgen fand das Nichtchen ein neues Exemplar des Wanzengeschlechts.

Jetzt geriet das Haus in Aufregung. Alles wurde aufgeboten und mit der gesamten Dienerschaft, mit Schwester und Nichte die Jagd erneuert. Es half nichts. Ein frischer Gast erschien und zerstach die gute Alwine in ihrem harmlosen Mädchenschlaf. Mit großem Kraftaufwand wurde der Feldzug zum dritten Mal versucht. Der Tapezierer erschien, die Dielen wurden gedichtet, die Holzverkleidung abgerissen, die Tapete erneuert, alle Möbel gesäubert und mit unglaublichen Säuren und Giften durchtränkt. Der Meister Thugut schwur bei Himmel und Erde, nicht ein Floh könne mehr durch die Fugen eindringen, viel weniger eine Wanze.

Sie kam doch. Nicht gleich, aber nach wenigen Tagen war sie da, wieder eine einzige, diese eine aber genügte, um der Schwester Mut zu brechen. Tief seufzend gestand sie sich die Ohnmacht des Bruders ein, der Zweifel erwachte und untergrub das Vertrauen. Ohne ein Wort gegen den Bruder zu verlieren, gab Agathe den Kampf auf. Sie quartierte die Tochter mitleidig um, begnügte sich jedoch im übrigen, mit haßerfüllten Augen an der Kammer vorüber zu gehen.

August dachte anders. Seine Ehre stand auf dem Spiel, er gelobte sich selber, nicht eher zu ruhen, als bis er seine Unfehlbarkeit bewiesen hätte. Er zog selber in das verwunschene Gelaß und lag nun Nacht für Nacht auf der Lauer schlaflos dem Getier nachstellend. Von Zeit zu Zeit erwischte er eins von den roten Ungeheuern. Dann richtete er mit geheimer Wonne den Blutsauger hin und begann am nächsten Morgen eine neue Hetze.

Agathe geriet in Verzweiflung. Sie sah den stillen ehrbaren Bruder in wildeste Aufregung geraten, blutgierig und grausam werden. Denn allmählich gewann er Geschmack daran, seine Feinde vor versammeltem Hause feierlich mit ausgesuchten Qualen zu Tode zu martern. Er wartete nicht mehr bis zum Morgen mit Suchen und Jagen, sondern er, der Rücksichtsvolle, schreckte mitten in der Nacht Verwandte und Gesinde mit dem Schlachtruf: »Wanzen!« auf, um die schlaftrunkenen Hausgenossen zum Kampf zu verwenden. Seine Lieblingsbücher verstaubten, er stöberte in alten Scharteken herum, um wirksame Mittel zu finden, sein Studierzimmer füllte sich mit Laugen und Säuren, rote, grüne und gelbe Flüssigkeiten standen in Flaschen und Fläschchen umher. Spritzen, Pinsel, Bürsten aller Art sammelten sich an, kurz, Augusts Leben war nur noch ein Kampf mit den Wanzen. Agathe wagte es schüchtern, ihn auf die wunderbaren Helfer der leidenden Welt, die Kammerjäger aufmerksam zu machen. Das nahm er übel. Er werde allein damit fertig. Aber er traute sich zu viel zu und schließlich war er froh, als der staatlich geprüfte Kammerjäger Lauscher zu Hilfe kam.

Ach, es war keine Hilfe. Die Not blieb, wie sie gewesen war; alle zwei, drei Tage erschien die eine einzige Wanze, biß den unglücklichen Müller, starb dafür und fand nach kurzer Zeit ihre Nachfolgerin. Ein anderer Jäger kam, ein dritter, vierter. Es war alles umsonst.

August ging mit rollenden Augen umher, ein anderer Mensch, verwildert und ganz verwandelt, und scheu wich ihm aus, wer ihm im Hause begegnete. Er las den Anzeigeteil aller Zeitungen andächtig, schrieb um jedes Mittel, das er angepriesen fand und stand im Briefwechsel mit einem Dutzend Menschen gleichen Schlages, wie der staatlich geprüfte Lauscher einer gewesen war.

Schließlich in voller Verzweiflung setzte er in den Zeitungen eine Belohnung von 100 Mark aus für den, der ihm ein unfehlbares Mittel angäbe, um Wanzen zu vertilgen. Zu Hunderten kamen die Briefe. August las sie mit Verachtung. Was man ihm empfahl, hatte er längst als nutzlos verworfen.

Eines Morgens aber kam er aufgeregt zu seiner Schwester. »Lies,« sagte er und reichte ihr einen Brief hin.

Agathe erschrak. Sie kannte die Handschrift, »Von Lachmann,« sagte sie und ließ das Blatt sinken.

»Ja, ja. Von deinem alten Verehrer. Hör' nur.« Er riß ihr den Brief fort und las.

»Alter Knabe.

Ich habe deine Anzeige gelesen und will versuchen, dir das unfehlbare Wanzenmittel zu verschaffen. Aber du mußt hierher kommen. Ich besitze das Mittel nicht selbst, kenne nur die Wirkung. Ein alter Sonderling, seines Zeichens Archäologe, hat es gefunden, geizt jedoch damit, weil er behauptet, die Welt verdiene so große Wohltaten nicht. Mit Geld ist bei ihm nichts zu erreichen. Aber ich habe ihm einmal eine Gräte herausgeholt, die ihm im Halse stecken geblieben war, als er mir während des Essens den Grundriß des Delphischen Tempels mit Hilfe von Heringsschwänzen und Kartoffelschalen vorbaute und plötzlich bemerkte, daß er das Grab des Dionysos an einer falschen Stelle angebracht hatte. Seitdem bin ich sehr gut bei ihm angeschrieben und wenn wir es klug anfangen, luchsen wir dem dreimal Weisen sein Geheimnis ab. Nur mußt du, wie gesagt, herkommen. Ich werde dich bei ihm einführen. Bleibe einige Tage hier. Soweit es mein männermordendes Geschäft als Arzt erlaubt, stelle ich mich dir zu jedem dummen Streich zur Verfügung. Empfiehl mich der gestrengen Frau Schwester als ihren vielgetreuen Vetter

Lachmann.«

Agathe sagte kein Wort. Der Name Lachmann, die wohlbekannte Art seines Schreibens hatten alte Erinnerungen geweckt.

»Was meinst du,« fragte August, »soll ich reisen?«

»Gewiß sollst du reisen, gewiß.«

»Ja, so ganz sicher bin ich dabei nicht. Lachmann ist ein Hanswurst, dem es Spaß macht, die Menschen zu Narren zu haben. Mit mir ist er freilich immer vernünftig gewesen.«

»Immer,« bestätigte Agathe. »Er behandelt Narren als Narren, mit vernünftigen Leuten war er vernünftig. Außerdem, wenn er wirklich einen Streich spielen wollte, so würde er mich doch nicht grüßen lassen. Das täte er mir nicht an.« Dabei errötete das alte Weiblein wie ein junges Mädchen.

August wog das Blatt zweifelnd in der Hand.

»Und wenn es nichts mit seinem Mittel ist, du bist wenigstens ein paar Tage aus dieser Unglückskammer heraus. Vielleicht vergißt du dann die ganze Geschichte.«

August warf ihr einen wütenden Blick zu. »Ich will sie nicht vergessen,« sagte er, schob den Brief in seine Tasche und ging nachdenklich davon.

Wahrscheinlich war August Müllers Geist damals schon durch Nachtwachen und Wanzenkampf zerrüttet. Sonst hätte er, der seinen Vetter gut kannte, sich doch gehütet, in die plumpe Falle zu gehen. Denn der Schwester Zureden achtete er für nichts. Er wußte, daß Lachmann ihre alte Liebe war. Sei dem wie ihm wolle, er reiste am nächsten Tage ab. Was er bei seinem Freunde erlebte, läßt sich nicht sicher feststellen. Seine eigenen Erzählungen davon tragen den Charakter der Geistesüberschwemmung, die während seiner Krankheit seine Reden verwässerte. Das wenige, was Agathe selbst feststellte, wird der Leser seinerzeit erfahren. Genug, eines Tages früh am Morgen langte August in ziemlich elendem Zustand wieder zu Hause an.

3. Kapitel.

Ein Scharlachfall. Dr. Vorbeuger. Ein Fluchtversuch.

Matt und müde trat er seiner Schwester, die sich rasch erhoben hatte, gegenüber, klagte über Abspannung und Hitzegefühl und wies alle Fragen nach seinen Erlebnissen kurz ab. Die Schwester war durch sein kränkliches Aussehen und seine Weigerung, irgend etwas zu genießen, arg erschreckt. Sie hatte in seiner Abwesenheit wieder sein früheres Schlafzimmer für ihn einrichten lassen. Aber August blieb hartnäckig dabei, er müsse noch heute die Wanzen vertilgen. Der Professor Steinschnüffler, Lachmanns Freund, habe ihm sein Mittel gegeben. Es stamme aus der Gesetzsammlung des Königs Hamurabi. Tausende von Jahren sei diese ewige Wahrheit, die von dem großen König in Keilschrift der Welt kundgetan wurde, im Staube vergraben gewesen und erst Steinschnüfflers Scharfblick habe sie wieder entdeckt. Dabei lachte August pfiffig, zog einen zusammengeknüllten Zettel aus der Tasche und spielte damit wie mit einem Ball.

Endlich gelang es der Schwester ihn zu Bett zu schaffen. Sie ließ Glühwein für ihn kochen, holte Wärmeflaschen und nasse Umschläge herbei, und als er zuletzt selbst erklärte, das Fieber schüttle ihn, brachte sie aus ihrer wohlversehenen Apotheke Antipyrin. Mit der größten Genugtuung sah sie zu, wie er es verschluckte, dann ging sie, und ganz beruhigt durch die eigene Vielgeschäftigkeit, begann sie ihre Morgentoilette. Sie war eben dabei, ihre Haare aufzustecken, als sich die Türe öffnete und ihr Bruder eintrat. Er war nur halb angezogen, das Hemd war aufgerissen und ließ seine haarige Brust sehen. In der Hand hielt er den unvermeidlichen Feind, den er hingerichtet hatte.

Agathe fuhr vom Stuhl auf und flüchtete sich in die äußerste Ecke des Zimmers. »Mein Gott, was hast du gemacht,« schrie sie, »wie siehst du aus.«

»Rot, auf dem ganzen Körper scharlachrot,« erwiderte August und betrachtete aufmerksam seine fleckigen Hände. Agathe starrte ihn immer noch entsetzt an. Sie hatte den Handspiegel ergriffen und hielt ihn wie einen Schild vor sich. Als der Bruder jedoch auf sie zuschritt, um sein rotgesprenkeltes Gesicht in dem Glase zu prüfen, schrie sie: »Scharlach! Du hast das Scharlachfieber. Rühr' mich nicht an! Mein armes Kind! Du wirst uns alle anstecken. Bei dem Lachmann hast du es dir geholt. Man soll Ärzte nicht zu Freunden haben. Geh, geh, augenblicklich. Du wirst uns alle töten. Niemand darf dir begegnen. Rasch in dein Zimmer! Ach, meine arme Alwine, die liegt nun auch bald auf dem Kirchhof.«

Sie griff zum Staubwedel und ihn als Waffe schwingend, den Spiegel vorgestreckt, trieb sie den Bruder vor sich her. Vergeblich beteuerte der Unglückliche, er fühle sich ganz wohl. Vor den entsetzensprühenden Augen dieser wunderlich ausgerüsteten Schlachtenjungfrau mußte er weichen, bis er schließlich in sein Wanzenzimmer gedrängt war. Krachend schlug hinter ihm die Tür zu, der Schlüssel drehte sich im Schloß, und August war gefangen. »Du kommst nicht eher heraus, als bis der Arzt hier war,« tönte es noch, dann hörte er, wie die Fenster auf dem Korridor aufgerissen wurden, die Mägde herbei eilten, und bald darauf klatschten Wasserströme auf dem Boden, Eimer klapperten und Schrubberbesen kratzten die Dielen.

Eine Weile blieb der Eingesperrte betäubt von der Überraschung an der Tür stehen, dann drückte er auf die Klinke. »Agathe!« Keine Antwort. »Agathe!« wiederholte er. Nichts erfolgte. Nur die eifrigen Besen hörte er den Gang auf und ab fahren. Plötzlich übermannte ihn die Wut. Wie!? Sein ganzes Leben war er der ehrbare Herr Müller gewesen, das Muster eines feinen, ordnungsliebenden Bürgers, der Stolz des Hauses und der Stadt, und nun fegten die Mägde hinter ihm her, als ob er den Schmutz des Augiasstalles an seinen Füßen eingeschleppt hätte. Mit beiden Fäusten gegen die Tür schlagend, schrie er wie ein Besessener nach seiner Schwester. Als das nichts half, rief er sämtliche Insassen des Hauses bei Namen und schickte jeden Einzelnen mit den wildesten Flüchen zur Hölle. Er ließ sich keine Zeit Atem zu schöpfen. Immer drohender wurden die Schläge seiner Fäuste, immer lauter und gellender seine Rufe, bis sie schließlich in ein unartikuliertes Wutgeheul übergingen. Entsetzt über das Geschrei, flüchteten die Mägde zur Herrin, die selbst von der Angst erfaßt, der Verpestete könne, vom Fieberwahn ergriffen, die Tür einschlagen, ihre Herde zu beruhigen suchte. Ihre Besorgnis war ganz unnötig. So sehr das Vorbild aller Bürgertugend auch von dem Grimm verstört war, die Schwester hatte ihn viel zu wohl erzogen, als daß ihm der Gedanke, die Kerkertür zu sprengen, in den Sinn gekommen wäre. Nur tobend und tobend erschütterte er eine Stunde lang das Haus mit seinem Brüllen.

Plötzlich verstummte er. Der Schlüssel hatte sich gedreht und durch die schmale Spalte der Tür zwängte sich die hagere Gestalt des Kreisphysikus Dr. Vorbeuger hinein.

Ich bin nicht befugt in dieser wahrhaftigen Geschichte zu irgend jemandes Gunsten etwas zu verschweigen und muß zu meiner Beschämung eingestehen, daß Agathe Willen, als sie den Arzt in das Gefängnis ihres Bruders eingelassen hatte, horchend ihr Ohr an die Tür legte. Vorbeugers Worte konnte sie nicht verstehen, er sprach wie gewöhnlich sehr leise und behutsam. Dagegen wurde des Bruders Stimme schon nach den ersten Minuten heftig. »Wozu denn untersuchen? Der ganze Körper sieht aus wie das Gesicht. Mein Hals ist rot? Kein Wunder. Schreien Sie zwei Stunden, so geht es Ihnen ebenso. – Scharlach! Scharlach! Aber ich fühle mich ganz wohl, ganz und gar. Ich fange Wanzen. Wissen Sie auch wie schwer das ist? Wer das kann, ist nicht krank. – So! Vorsicht! und Rücksicht auch, Rücksicht auf meine Schwester, die mich wie eine Maus gefangen hält? Und wie lange, wenn ich fragen darf, soll die Absperrung dauern?«

Fast hätte Agathe die Sublimatflasche fallen lassen, die ihr Vorbeuger beim Eintreten in die Hand gedrückt hatte, so schrie der wackre Müller jetzt auf. »Was? Sechs Wochen? Herr, sind Sie verrückt? Nicht eine Minute länger bleibe ich.« Die Tür wurde gewaltsam aufgerissen, so daß Frau Willen gegen die Wand geschleudert wurde, und der Bruder stürzte hinaus, rannte mit einem vernichtenden Blick auf seine Schwester den Korridor entlang, riß den Hut vom Haken und war im nächsten Augenblick im Freien.

Verlegen sah Agathe den Doktor an, der mit sauersüßem Lächeln sich die Hände rieb. »Scharlach,« sagte er, »ein leichter Fall, aber immerhin Scharlach, da ist kein Zweifel.«

Agathe seufzte. Rote Gespenster tanzten vor ihren Augen, und in stummer Angst faltete sie die Hände über der Sublimatflasche.

Vorbeuger wusch sich wichtig in dem Waschbecken, das man ihm hingestellt hatte. »Sehr merkwürdig, dieses Benehmen des Herrn Müller,« sagte er dabei. »Ich will annehmen, daß er durch die Krankheit überreizt ist, wahrscheinlich auch fiebert. Daß er fortläuft, geht aber nicht. Er schleppt mir die Seuche in die Stadt, und ich werde dann verantwortlich gemacht.«

Agathe goß dem Arzt den Inhalt der Flasche über die ausgebreiteten Hände, voll Andacht zuhörend. Als er nicht weitersprach, sondern nur sorgfältig die Hände abtrocknete, bat sie schüchtern: »Helfen Sie, Herr Doktor, helfen Sie.«

Vorbeuger suchte noch die letzte Feuchtigkeit fortzureiben. Er zog wichtig die Augenbrauen in die Höhe, räusperte sich und sprach: »Als Arzt habe ich hier im Hause nichts mehr zu tun, das versteht sich von selbst. Aber als Staatsbeamter muß ich dafür sorgen, daß Herr Müller isoliert wird; wenn es nicht anders geht, mit Hilfe der Polizei.«

Frau Willen setzte die Sublimatflasche beiseite. Sie mußte die Hände ringen. Frostschauer jagten ihr durch die Glieder. August Müller und die Polizei. Es war fürchterlich. »Was wollen Sie tun,« fragte sie.

»Den Kranken festnehmen und in das Spital bringen lassen.«

»Oh, das wird ein Skandal,« jammerte Agathe. »Nein, um Gottes willen, nein. Sie kennen meinen Bruder nicht. Das gibt ein Unglück, nur das nicht.«

Dr. Vorbeuger zuckte abwehrend die Achseln und griff nach Hut und Stock. »Ich bin Beamter und kann auf Privatwünsche keine Rücksicht nehmen. Ich habe Pflichten gegen das Allgemeinwohl.

Scharlachkranke sind gemeingefährlich. Fügt sich Herr Müller nicht gutwillig den Gesetzen, so muß ich die Hilfe der Staatsgewalt in Anspruch nehmen.«

Frau Willen raffte sich zusammen. »Er wird sich fügen,« sagte sie, »ich stehe dafür.«

Vorbeuger lächelte milde. »Sie versprechen viel. Ihr Herr Bruder muß so lange abgesperrt bleiben, bis die Gefahr der Ansteckung vorüber ist. Wie wollen Sie das bei einem Manne bewerkstelligen, der so rücksichtslos selbst gegen Menschen vorgeht, die das Recht haben, ihn einzusperren?«

Agathe streckte dem Doktor zuversichtlich die Hand entgegen. »Verlassen Sie sich darauf, Herr Kreisphysikus,« sagte sie. »Sobald August zurückkehrt, sperre ich ihn ein, und er wird nicht eher das Zimmer verlassen, als bis Sie es selbst erlauben.«

»Nun, wenn Sie das fertig bringen, alle Achtung. Bitte schicken Sie zu mir, wenn Sie den Herrn Bruder festgesetzt haben. Ich werde unterdessen an den Kollegen Lachmann telegraphieren, ob er etwas über die Ansteckung weiß.« Damit empfahl er sich und ging hocherhobenen Hauptes davon.

4. Kapitel.

August wird eingesperrt, Agathe besucht ihn.

Agathe entfaltete sofort eine erstaunliche Tätigkeit. Sie warf Kleid und Stiefel ab, band sich eine Serviette um das Haar, zog sich Handschuhe an und bei sich seufzend: das ist nun alles reif ins Feuer geworfen zu werden, ging sie daran, des Bruders Zelle aufzuräumen. Die Magd schickte sie eilig zum Schlosser. Sie selbst schleppte Bett- und Leibwäsche für den Bruder herbei, Eßgeschirr holte sie und allerlei Vorräte, eine große Schüssel zum Waschen der Gefäße und Tücher zum Abtrocknen, Eimer, Besen und Scheuerlappen. Das alles häufte sie auf dem Balkon an, der an das Wanzenzimmer anstieß, und selbst den Nachtstuhl vergaß sie nicht. Eine Riesenflasche Sublimatlösung und ein Bottich Schmierseife vervollständigten die Ausrüstung. Trotz der Eile, die sie hatte, suchte sie sorgfältig das abgebrauchte Gerümpel aus; denn das schwur sie sich zu, nichts sollte wieder gebraucht werden, was in diesem Pestzimmer gewesen war.

In weniger als einer Stunde war alles bereit und Agathe setzte sich gedankenvoll vor das Wanzenzimmer und legte die Hände in den Schoß. Sie wartete auf den Schlosser. »Ist es nötig, daß August gepflegt wird, so werde ich es selbst tun. Sonst mag er sehen, wie er allein fertig wird. Muß ich hinein zu ihm, und das wird wohl nötig sein, denn schließlich« – sie dachte gewohnheitsmäßig nicht zu Ende, was sie zwingen werde in des Bruders Zimmer einzudringen – »es muß doch bei ihm gereinigt werden,« nahm sie kühn den Gedanken in andrer Form wieder auf. »Ich werde mir ein doppeltes Kostüm aus Sackleinwand machen. Dann verderbe ich nicht so viel. Eines kann dann immer in Karbollösung liegen, während ich das andere trage. Und zum Balkon schaffe ich mir Zugang mit der Leiter. Das geht ganz gut.«

Agathe wurde fast froh bei ihren Plänen. Dazwischen horchte sie nach den Schritten des Schlossers. Endlich erschien Meister Haudrauf und nun begann eine seltsame Arbeit. Zwei bewegliche Eisenstangen ließ Frau Willen an der Außenseite der Zellentür anbringen, zwei Eisenstangen, die in eiserne Haken eingelegt, jeden Sturm von innen aushalten konnten. Bald war das Werk getan und nun saß Agathe mit gefalteten Händen da und wartete. Das Herz schlug ihr. Wenn ihre List gelang, so war ihr Bruder vor der Polizei gerettet.

Endlich hörte sie Augusts Schritt. Rasch flüchtete sie in ihr Zimmer. Als er auf den Gang kam, streckte sie den Kopf aus der Tür und sagte: »Gut, daß du kommst. Ich habe dein Bett gemacht. Denke dir, unter der Matratze ist eine Wanze.«

Sie konnte nicht vollenden. Wie ein Rasender stürzte August an ihr vorbei, und im nächsten Augenblick war die Tür hinter ihm zugeschlagen und die Eisenstangen vorgelegt. »So, mein Junge,« sagte Agathe: »Jetzt habe ich dich sicher.«

Unbekümmert um die Wut des Gefangenen, der sich schnöde überlistet sah, schritt sie davon. Sie fühlte sich so erleichtert, daß sie ganz unbewußt die Melodie aus der Fledermaus: »Ich hab ein schönes Vogelhaus«, zu trällern begann. Mitten im Vers aber fiel ihr ein, daß ihr Bruder krank sei. Erschrocken hielt sie inne und in ihrer Beschämung holte sie sich einen Stuhl, stellte ihn vor die Gefängnistür und saß nun dort, auf jeden Laut horchend, der aus dem Zimmer drang. An dem Rücken der Möbel und Werfen der Kissen konnte sie genau verfolgen, wie der Bruder seiner Lieblingsbeschäftigung oblag.

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