Kitabı oku: «Der Seelensucher», sayfa 6
Ihr Bruder beugte den Kopf tiefer und erwiderte nichts. Kurz darauf aber begann er von neuem zu plaudern. Er erkundigte sich nach Theater und Konzerten, nach dem Zirkus, und als Lachmann vorschlug, zusammen in das Schauspielhaus zu gehen, nahm er es mit Freuden an. Er wolle nur erst in das Hotel fahren, um sich umzukleiden.
»So, du hast schon Quartier gemacht,« sagte Lachmann. »Wo bist du abgestiegen?«
»Im Löwen wie gewöhnlich. Auf Wiedersehen.«
»Halt, halt! ich fahre mit,« rief Agathe. »Hoffentlich ist noch ein Zimmer für mich frei.«
Der Bruder stand schon auf dem Korridor. »So viel ich weiß, ist das ganze Haus besetzt.«
»Ach was«, rief Agathe, stellte sich vor den Spiegel und band sorgfältig die Schleife ihrer Hutbänder, auf die sie besonders stolz war. »Für mich findet sich schon noch ein Plätzchen. August, so warte doch, August!« rief sie dem Davoneilenden nach, mußte sich aber entschließen, ihr Kunstwerk halb vollendet zu lassen, wenn sie den kaum Eingefangenen nicht wieder verlieren wollte.
»Wir treffen uns vor dem Theater,« rief Lachmann, der oben am Treppenabsatz stand und ihnen hinableuchtete.
»Du könntest eine Loge nehmen,« tönte es von unten zurück.
»Eine Loge?« mischte sich Agathe ein. »Warum nicht gar, August. Das ist viel zu teuer.«
Lachmann schnitt ihr das Wort ab. »Ja, ja, gewiß. Dann ist es gemütlicher. Ich werde alles besorgen, Vetter.«
Agathe ärgerte sich über den höhnischen Blick, mit dem der brüderliche Verschwender ihr beim Einsteigen zusah, sie sagte jedoch nichts, ja sie brachte es über sich, seine offene Ungezogenheit in dem Hotel schweigend zu erdulden. Er ließ sich nämlich den Plan des Gebäudes geben und unter dem Vorwand, seine Schwester könne aus Angst vor Feuersgefahr nicht hoch wohnen, suchte er ihr das teuerste Zimmer in dem ganzen Hause aus. Der Zufall wollte es, daß es gerade unter seinem eigenen Quartier lag.
»Es ist dir doch recht so?« wandte er sich höflich an die kleine Frau, und sie verschluckte tapfer das: nein, gar nicht. Denn sie sah, wie sich plötzlich das Gesicht ihres Bruders verzerrte und der furchtbar dumme Kalbsblick bei ihm zum Vorschein kam, vor dem sie schon einmal so erschrocken war.
»Also führen Sie die Dame nach Nr. 10,« sagte Thomas und schritt pfeifend davon.
Im übrigen verlief der Abend ruhig. Die Drei nahmen in harmloser Fröhlichkeit das Schauspiel hin und speisten dann sehr vergnügt miteinander im Löwen. Für den nächsten Morgen verabredete man ein gemeinsames Frühstück bei Lachmann. Dann wollten die beiden Männer zum Frühschoppen in die Weinstube des Lord gehen, wo sie ein paar Freunde zu treffen hofften.
14. Kapitel.
Strickt der Strumpf oder wird er gestrickt?
Agathe erwachte am nächsten Morgen mit dem herrlichen Gefühl, zum ersten Mal seit langer Zeit gut geschlafen zu haben, und als sie daran dachte, wie schön der gestrige Tag geendet hatte, geriet sie in eine ausgelassene Stimmung, die sie fast veranlaßt hätte, das ernsthafte Geschäft des Anziehens lustig wie ein junges Mädchen zu betreiben. Gerade noch zur rechten Zeit, um sie zu verhindern, mit dem großen Schwamm Fangball zu spielen, gewahrte sie, wie unter dem sorglos auf den Stuhl geworfenen Badetuch zwei behäbige violette Bänder vorwurfsvoll herabhingen, wie die schlaffen Arme einer resignierten Frau. Diese Bänder erinnerten sie daran, daß sie den Hut gestern Abend frevelhaft bei Seite geworfen hatte, statt ihn sogleich in die Schachtel zu sperren. Agathe schämte sich, vollendete ihre Toilette mit Würde und entsprechender Langsamkeit, und gleichsam um den teueren Kopfputz für die schlecht verbrachte Nacht zu entschädigen, knüpfte sie ihre Schleife mit geziemend abgemessenen Bewegungen.
Die Folge dieser langwierigen Sorgfalt war, daß sie ihren Bruder nicht mehr vorfand. Der Herr sei vor zehn Minuten fortgefahren, sagte der Portier. Sofort befiel Agathe die Angst vor einer neuen Flucht. Beinahe hätte sie einen Wagen genommen, um rascher zu ihrem Berater Lachmann zu kommen. Aber die bessere Einsicht, daß ja das Markstück ebensogut für Alwines Aussteuer gespart werden könnte, veranlaßte sie zu gehen.
Auf dem Wege stritten sich das Gefühl ihres Alters und der Wunsch, rasch zum Ziel zu gelangen, und an diesem Zwiespalt schienen selbst die Schleifenbänder teil zu nehmen, wenigstens stand, als Agathe atemlos anlangte, das eine ganz unternehmend nach oben, während das andere sich doppelt wichtig aufbauschte.
Schon auf dem Korridor hörte sie das Lachen der beiden Männer. Sie atmete auf, und selig, den verloren Geglaubten wieder zu haben, trat sie ein.
»Guten Morgen, Ihr Männer! Ihr seid lustig! Verzeiht mir, daß ich zu spät komme. Aber du hättest auch warten können, August. Ich habe mich halb tot geängstigt.« Sie verstummte plötzlich. Da war wieder der Kalbsblick. »Wirklich, es war recht rücksichtslos von dir, August.«
Der Angeredete blickte sie unverwandt an. »Wann reisest du ab?« fragte er.
Agathe war starr. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. »So laß doch das dumme Lachen, Ernst,« schalt sie den Vetter aus, sie erinnerte sich, daß sie mit dem Bruder vorsichtig sprechen müsse. »Wann ich abreise? Du weißt ja, ich bleibe so lange wie es dir hier gefällt; und dann, wenn wir wieder daheim sind, dann soll es nett bei uns werden. Es war ja schrecklich die letzte Zeit. Ich war noch in der Minute vor meiner Abreise in deinem Zimmer. Der Don Quixote liegt aufgeschlagen auf deinem Schreibtisch, gerade bei dem Gespräch, in dem der Pfarrer und die Haushälterin über die Flucht des edlen Ritters beraten. Mir war es als ob das Buch seufzte, und ich glaube, es ist sogar eine Träne darauf gefallen. Hoffentlich gibt es keinen Fleck.« Sie trat an den Bruder heran und legte die Hand zärtlich auf seine Schulter. »Ich bin so froh, dich wieder zu haben, August.«
»Thomas.«
Agathe fuhr zurück. «Um Gotteswillen, August!«
»Thomas, Thomas Weltlein. Hast du vergessen, was ich dir schrieb? Überhaupt verstehe ich dich nicht. Wo ist dein Panzer, wo sind die Handschuhe? Sechs Wochen dauert die Ansteckungsgefahr beim Scharlach.«
Agathe nahm unwillkürlich die Hand von seiner Schulter.
Thomas lächelte befriedigt. »Nicht wahr, Lachmann, sechs Wochen.«
Die Schwester hatte sich gefaßt. »Weißt du es denn noch gar nicht,« sagte sie, vor Freude lachend, und faßte nach seiner Hand. »Du hast nicht das Scharlachfieber gehabt. Es war alles nur Scherz von dir, Gott sei Dank.«
Thomas hob die Tasse zum Munde. Dem Vetter, der bisher still beobachtet hatte, wollte es fast scheinen, als ob er dadurch ein Lächeln verberge. Ritterlich empört, mischte er sich ein.
»Agathe hat ganz Recht, und es ist Zeit, daß du die Dummheiten läßt. Aus eitel Bosheit hast du Antipyrin geschluckt, und von Scharlachfieber ist keine Rede.«
So hastig war Thomas selbst bei seiner Flucht aus dem Lumpenwagen nicht aufgesprungen, wie jetzt. »Neidisch seid Ihr,« schrie er, und schlug dabei mit der Faust auf den Tisch. »Neidisch! Pfui! – Verzeiht,« fuhr er in ruhigerem Tone fort. »Es ziemt sich nicht, daß ich mich derart vergesse. Aber ich hätte Euch eine vornehmere Gesinnung zugetraut. Weil Ihr selbst klein gesinnt seid, gönnt Ihr es mir nicht, daß mich der Dämon des Fiebers aus vielen auserwählte, und wollt mir weismachen, das Morgenrot meines Körpers sei ein gemeiner Medizinausschlag.«
»Aber ich versichere dich, es war das Antipyrin,« fielen die beiden andern gleichzeitig ein.
»So? und die Verwandlung? Das Riesenwachstum meiner Seele? Ist das auch Antipyrin? Und der Sieg über das rote Gezücht? Wie? Habt Ihr das vergessen? Sind sie nicht tot, vernichtet, verschwunden? Und was wißt Ihr denn von den drei Symbolen? und vom Weg der Schmerzen, von dem Tunnel der Erniedrigung? Das da,« er wies auf seine Schwester, »das ist eine Frau. Die Frauen können nie die Größe des Mannes fassen, und ich verzeihe ihr. Aber du,« er wandte sich an seinen Vetter, »bei dir ist es Neid. Du bist Arzt und in deiner schäbigen Arztesseele, die die Bewunderung von Kranken und Schwachen aufgeblasen hat wie einen Ballon, wurmt es dich, daß du nicht die Entdeckung der inneren Ansteckung gemacht hast, sondern ich, ein Laie, ein Kranker, ein Arztesknecht.«
Lachmann hatte längst seine Überlegung wiedergewonnen.
»Was für eine Entdeckung meinst du?«
Agathe fiel angstvoll ein. »Um Gotteswillen, laß ihn, laß ihn, wenn er davon erst anfängt, hört er nicht wieder auf. Er redet irre.«
Thomas rückte sich würdevoll zurecht. »Ich rede nicht irre,« sagte er ruhig und sanft, »ich werde auch nur so viel sagen, wie unbedingt nötig ist, um die Dinge zu verstehen. Ich brauche Lachmann. Er soll diesen Teil meiner Lebensaufgabe übernehmen, und ich zweifle nicht daran, daß er seine Arbeitskraft und seine Kenntnisse gern einer Sache dienstbar machen wird, die der Menschheit nützlich ist, ihm selbst einen Namen geben wird. Ich habe nämlich unter anderem herausgefunden,« wandte er sich an seinen Vetter, »daß es unrecht ist, jede Krankheit unbedingt zu bekämpfen. Du siehst, das geht dich, den Arzt, allerdings etwas an. Die Krankheit ist durchaus kein kulturfeindliches Element, wie es uns das Geschwätz der Ärzte weis machen will und weis gemacht hat; vielmehr ist sie eines der Werkzeuge, durch welche die Natur den Menschen zu seiner Höhe empor gehoben hat. Rottet man die Krankheit aus, so vernichtet man damit alle Sitte und alle Religion, so verhindert man die Entwicklung des Einzelnen und der Gesamtheit, und ich behaupte, daß unsere moderne Hygiene nur den wahren Adel des Menschen in fahrlässiger Weise schädigt.«
»Damit hast du nicht so ganz Unrecht,« pflichtete Lachmann bei. Agathe sah mit Erstaunen, daß der Vetter diesem Verrückten ganz ernsthaft zuhörte.
»Ich verstehe,« fuhr Thomas fort, »dir werden auf einmal Dinge klar, die du längst dunkel ahntest, wie sie ja jeder ahnt. So ist es mir auch gegangen. Im ersten Moment war ich völlig überrascht von dem neuen Gesicht, das mir die Welt zeigte. Was, die Seuchen ein wünschenswerter Zustand, fragte ich mich, die mörderische Tuberkulose, die schändliche Syphilis ein Nutzen, ja eine Bedingung des Fortschritts? Die Antwort, die ich mir gab, lese ich jetzt auch in deinen Augen. Aber der Gedanke zwingt weiter zu gehen. Warum sucht der Mensch die Gefahr? Weil er sich im Kampfe wachsen fühlt, weil er in der Not edler wird. Sokrates wußte es, Christus wußte es, sie suchten beide das Elend, den Tod, und so sucht es jeder zu allen Zeiten. Jeder, jeder Mensch liebt das Unglück, weil es ihn adelt. Und die große Natur, wo du sie auch packst, tut es dem Menschen gleich. Alles Hohe wächst aus dem Unglück, die Glücksjäger sind alle verächtlich.« Mit einer starken Bewegung des Armes machte er einen Strich durch die Luft, um zu zeigen, wie tief sie in seiner Achtung stünden.
Thomas Weltleins Gesicht zeigte jetzt den Ausdruck angestrengten Nachdenkens. »Die Not lehrt beten, das ist ein tiefes Wort. Das will sagen, die Not der Menschen, der ganzen Natur ist der echte Beweis vom Dasein Gottes. Im Unglück offenbart sich seine Güte am lautesten.«
Jetzt hörte auch Agathe mit gefalteten Händen zu. »Ganz wie der gute Breitsprecher redet er,« sagte sie andächtig.
»Schweige,« redete Thomas sie mit großartigem Ausdruck an. »Was sollen uns, die wir ernst sprechen, die Pfaffen? Sie haben die Sünde erfunden. Als ob es Sünden gäbe. Hinweg mit ihnen!« Er schob sie mit einer Handbewegung beiseite. »Wenn ihr mir folgen wollt, so müßt ihr alles lassen, was ihr bisher liebtet. Ihr müßt wieder Menschen werden. Unterbrechen ist unmenschlich. Aber so sind die Weiber. Sie bilden sich immer ein, das Denken sei wie Strümpfe stricken, das man beliebig unterbrechen und wieder aufnehmen kann, und bei dem es auf ein paar fallengelassene Maschen nicht ankommt. Übrigens ist es ein Irrtum zu sagen: ich stricke einen Strumpf, zum mindesten ist es ungenau, man kann ebensogut sagen, der Strumpf strickt mich, ja erst mit dieser Wendung zeigt man, daß man eine Ahnung von dem Verlauf der Weltgeschichte hat. Der Mensch macht nicht, sondern er wird gemacht. Wenn Agathe mir einen Strumpf strickt, so weiß ich, daß ich demnächst eine neue Fußbekleidung haben werde, und kann mich darüber freuen. Sage ich aber, der strickt Agathen, so sehe ich auf einmal die Geschichte des weiblichen Geschlechtes vor mir, wie es sich Jahrtausende lang in der Beschäftigung mit dem Kleinen verderben ließ und verdarb. Nichts Dümmeres gibt es als unsere Grammatik, unsere Sprache, dieses Erbstück der dunkelsten Zeitalter, das jeder Wahrheit unüberwindliche Hindernisse in den Weg legt und des klaren Denkens spottet. Wie kann man mit altersschwachen Beinen Berge erklettern? Aber das ist etwas für den Philologen, den ich finden werde, nicht für den Arzt. Und doch auch für dich, Vetter Arzt, wird es lehrreich sein. Du sollst von mir noch diagnostizieren lernen. Sieh dir einmal meine Schwester an. Du denkst, sie ist dieselbe Agathe wie vor zwanzig Jahren, ein wenig älter geworden, aber im Grunde dieselbe. Weit gefehlt. Weißt du, was sie ist? Agathe ist eine Hutschleife.«
Lachmann schrie fast vor Vergnügen, während Agathe empört aufsprang.
Thomas fuhr ruhig fort: »Ja, sicher. Als sie damals ihren seligen Willen geheiratet hatte und sehr bald dahinter kam, welche Dummheit sie begangen hatte, wollte sie vernünftig werden. Und um sich dazu zu zwingen, schaffte sie sich den würdigen Kopfputz der Mütter, den Capothut mit langen Bändern an und knüpfte jeden Tag gewissenhaft eine regelrechte Schleife. Das ging so eine Zeit lang. Jetzt aber ist es schon seit Jahren anders. Agathe wird von der Schleife geknüpft. Die Bänder zerren sie durchs Leben, wie das Seil des Metzgers ein Kalb. Ist es nicht so, Schwesterherz?«
Agathe schlug die Augen nieder. Sie dachte an ihre Morgenerlebnisse. Thomas war gutmütig lachend zu ihr herangetreten und hatte sie um die Taille gefaßt. »Adieu, Beste! Wir wollen nun kneipen gehen.« Als er an der Tür war, drehte er sich noch einmal nach den alten Liebesleuten um, die sich mit vielsagendem Seitenblick auf den Narren die Hände drückten. »Ihr seht wohl selbst ein, daß eine solche Weltanschauung, wie ich sie jetzt habe, nur durch gewaltsame Erschütterungen veranlaßt sein kann, daß ich verwandelt bin. Und was sollte mich verwandelt haben, wenn nicht das Scharlachfieber?« Er warf hochmütig den Kopf zurück, senkte ihn aber wieder und fügte nachdenklich hinzu: »Und wie sollte sonst das rote Gezücht verschwunden sein?«
Vom Fenster aus sah Agathe, wie die beiden eifrig miteinander sprechend dahinschritten.
15. Kapitel.
Docendo discimus.
Als die Männer in den kleinen Vorraum der angeräucherten Weinstube kamen, tönte ihnen ein lebhaftes Stimmengewirr entgegen. Laut und scharf erklangen einzelne Worte, eine giftige, schrille Stimme eiferte dagegen und schallendes Gelächter mischte sich darein.
»Das ist der Hauptmann Barnow, er hänselt den Lord,« erklärte Lachmann.
»Wer ist der Lord?«
»Der Wirt, du wirst gleich sehen.« Er öffnete die Tür und zog seinen Freund mit sich in das dunkle Gemach, um dessen runden Tisch eine bunte Gesellschaft saß. Lachmann stellte flüchtig seinen Genossen als Herrn Thomas Weltlein vor und beide setzten sich schweigend an den Tisch. Thomas kam neben ein hageres, altes Männchen zu sitzen, den Justizrat Warnemann, der ihm schlau mit den kleinen Augen zuplinkerte, als wollte er sagen: Famoser Spaß das.
»Schlecht ist der Rotwein, Lord,« schrie der Hauptmann, der breitbeinig vor dem Fenster stand und sein Glas gegen das Licht hielt. »Galläpfel und Zuckerwasser haben Sie zusammengemischt und dann haben Sie Ihre rote Nase hineingesteckt; davon hat er die Farbe bekommen.«
Thomas stieß den Freund an. »An der Nase hast du ein Beispiel. Innere Ansteckung.«
»Suff ist es,« erwiderte Lachmann und der Justizrat nickte dazu und rieb sich die Hände. »Da, beim Justizrat kannst du von Ansteckung reden. Der Mann hat das Recht schon so oft zwischen den Händen zerrieben, daß er sie selbst bei der Unterhaltung in Unschuld waschen muß.«
Der Justizrat lachte. Es klang wie das Schütteln von Geld in einer Blechbüchse. »Ihren Prozeß verlieren Sie doch, Sie Menschheitsretter.«
Der Wirt hatte eben den Klemmer von der Nase gerissen und trat vor Wut mit dem Fuß darauf.
»Der Herr Hauptmann tun dem Lord unrecht,« mischte sich ein junger Offizier ein und liebäugelte dabei mit seinen blanken Stiefelspitzen. »Der Wein färbt ab. Jedesmal, wenn der Lord seine Nase dort hinten in der Ecke in sein Glas gesteckt hat, wird sie röter und röter.«
»Eine saubere Wirtschaft! Was denken Sie sich dabei, hier in Pantoffeln herumzuschlürfen? Schickt sich das wohl für eure Lordschaft?« rief jetzt der Professor Kietz dazwischen und warf einen höhnischen Blick auf den Offizier mit den Lackstiefeln. »Kleider machen Leute.«
Thomas rückte auf dem Stuhl und öffnete den Mund schon zum Sprechen. Da scholl die tiefe Bauchstimme eines dicken, breitschultrigen Herrn am oberen Ende der Tafel. »Herren, Herren! Wir sind doch hier, um vergnügt zu sein. Vergnügt sein ist alles. Bringen Sie Wein, Lord! Nicht wahr, Oberst Wachter, meinen Sie nicht auch?« Dabei hob er sein Glas und trank dem neben ihm sitzenden Manne zu, der seine Nase mit dem Wrangelbärtchen und den kriegerischen, herabhängenden Mundwinkeln in die Höhe streckte und mit den Fingern einen Marsch auf dem Tisch trommelte, als ginge ihn die Geschichte nichts an.
»Der alte Oberförster Lange ist immer vergnügt, solange sein Taschengeld reicht. Einen Taler täglich darf er verspielen, mehr rückt die Alte nicht heraus,« erklärte Lachmann. »Warum schnappst du übrigens immer nach Luft wie ein Fisch, der am Lande liegt? Gefällt es dir nicht?«
Thomas schüttelte den Kopf. »Sie sprechen hier immer von Freude und Vergnügen. Darüber kann ich mitreden, Bedeutendes sagen. Aber man läßt mich nicht einmal anfangen, viel weniger ausreden.«
»Gott sei Dank, hier mußt du stillhalten. Aber das Mundaufsperren laß! Man könnte dich sonst arg hänseln. Sieh lieber, was der Eisenfresser, der Oberst a. D. Wachter, für ein Gesicht macht. Er berechnet schon, wie er dem gutmütigen Dickwanst an seiner Seite den Taler aus der Tasche ziehen kann; der geschickteste Kartengucker der Welt. Ich werde mich übrigens an dem Raubzug beteiligen.«
Lachmann erhob sich und nach wenigen Augenblicken saß er abseits mit den beiden alten Herren über den Karten.
»Nur bis ein Uhr,« brüllte der Oberförster und setzte seinen Klemmer ganz vorn auf die Nasenspitze, »dann kommt die Alte und das Kind mich zum Rundgang abholen.«
»Das Kind zählt 39 Jahre,« zischelte der Justizrat boshaft.
Thomas hob ärgerlich die Hand. Von drüben tönten Worte, die ihn interessierten.
»Docendo discimus,« hörte er einen Mann mit glattrasiertem Gesicht sagen, er wußte nicht, war es ein Geistlicher oder ein Schauspieler. »Nichts Höheres, als die Jugend unterrichten, Herr Professor.«
Der Professor Kietz schlug die Beine übereinander und schob das Weinglas beiseite, um seine Arme auf den Tisch zu legen. »So,« rief er höhnisch. »Nun, ich habe noch nichts weiter dabei gelernt, als daß der Staat uns Lehrer schlecht bezahlt. Lieber eine Schar Hämmel hüten als Obertertianer unterrichten. Wenn man die Bengel wenigstens hauen dürfte.«
Endlich gelang es Thomas, ein Wort dazwischen zu werfen. »Schwielen auf dem Hintern, gibt Schwielen in der Seele.«
Der Geistliche hob das Glas und trank Thomas freundlich zu. »Ganz recht, ganz recht. Mit Güte erreicht man alles und niemand soll strafen als Gott.«
»Und seine Stellvertreterin, die Kirche,« höhnte der Professor. »Natürlich, Sie haben es leicht, Herr Pfarrer. Die Kanzel streicht kein Lausbub mit Kreide und Tinte an. Wenn Sie im Ornat erscheinen, ist alles still und im Beichtstuhl sprechen Sie wie der Herrgott selber. Ihre Worte sind Offenbarungen, Gesetze. Sie lehren gar nicht, wissen also auch nicht, ob man dabei lernt.«
Thomas sprang fast vor Aufregung vom Stuhl. Das Lernen im Lehren traf ihn in der innersten Seele. Da war ein neuer Weg, falls der Höhenflug der Freude versagte.
»Sie vergessen, daß ich auch in der Beichte manches lerne, vielleicht mehr als irgend ein andrer Mensch. Und unser Amt als Seelsorger, das Trösten der Kranken, der Gefangenen, das Leiten und Führen der Menschen, das Ringen mit Zweifel und Gewissen, in dem wir immer von neuem Schüler werden. Jede Stunde offenbart uns neue Geheimnisse, neue Wunder Gottes.«
»Ich wollte, ich hätte es so bequem,« murrte der Professor.
»Sie denken gering von unserm Beruf, das ist nicht recht, aber daß Sie den eigenen mißachten, ist schade.«
»Der geistliche Beruf ist der höchste Grad der –« begann Thomas, aber er wurde durch ein lautes Gelächter unterbrochen, in das die beiden Offiziere ausbrachen. Zwischen ihnen saß ein Mann mit scharfen Gesichtszügen, Knebelbart und einer gewaltigen Habichtsnase, der lebhaft sprechend mit den Händen und Gesichtszügen den Inhalt seiner Worte eindringlicher gestaltete und seine beiden Zuhörer zeitweise zu wahren Stürmen der Heiterkeit verführte.
»Dieser Don Quixote schneidet wieder auf,« stieß der Professor hervor.
Thomas konnte nicht mehr schweigen. »Erlauben Sie,« rief er, »Don Quixote war kein Schwindler. Sie verwechseln ihn mit Münchhausen. Don Quixote log nicht absichtlich.«
Kietz drehte sich zu Thomas um und bog sich weit über den Tisch. Sein ganzes Gesicht hatte sich verändert, ein angenehmes Lächeln trat darauf hervor. »Sie haben ganz recht. Verzeihen Sie den lapsus linguae! Wie gut, daß Sie mich daran erinnerten. Aber Sie können sich nicht denken, wie sehr ich mich freue, bei Ihnen Verständnis für die Perle der Ritterschaft zu finden. Je mehr man sich in diesen Charakter vertieft, umso größer wird die Hochachtung vor dieser reinen Seele.«
Thomas hob das Glas gegen den Sprecher. »Docendo discimus, Herr Professor. Eben noch hielt ich Sie für einen Nörgler und nun lehrt mich mein wohlweises Verbessern in Ihnen einen Verehrer des Hohen kennen.«
»Wir Lehrer sind alle Nörgler, Herr Weltlein. Das bringt der Beruf mit sich. Was tun wir anderes als tadeln. Es wird uns zur zweiten Natur.«
Weltleins Augen glänzten. »Ansteckung durch den Beruf; ich kenne das. Aber sagen Sie, wer ist der Münchhausen da drüben, von dem Sie sprachen?«
»Er behauptet Maler zu sein, Keller-Caprese nennt er sich und Tatsache ist, daß er auf der Berliner Akademie eine Zeitlang zugebracht hat. Ob er jemals ein Bild gemalt hat, steht dahin. In seiner Wohnung hängt ein Bild, das er jedem Besucher als sein Werk vorzeigt. Aber die böse Welt will wissen, ein junger Künstler habe ihm das Porträt bei seinem Tode vermacht zum Dank dafür, daß er dem armen, hungernden Teufel Brot gab um zu essen und ein Bett um darin zu sterben.«
Thomas hob feierlich die Hand. »Das ist mehr wert als zehn Bilder. Das regt mich an. Dafür verzeihe ich ihm sogar seinen Doppelnamen.«
»Ich traue dem Gerücht nicht«, fuhr der Professor fort. »Der Held dieses Märchens soll von der Akademie wegen mangelnden Talentes fortgejagt worden und dann elend zugrunde gegangen sein. Nun ist das Porträt wirklich ein Meisterwerk oder wenigstens ein Bild, das in jedem Pinselstrich den werdenden Meister zeigt. Einen Menschen, der das malen konnte, schickt man nicht fort. Denn schließlich sind auch an der Akademie noch Leute, die etwas von Kunst verstehen. Ich bin überzeugt, der Kerl drüben hat die Geschichte selber erfunden und in Umlauf gesetzt.«
»Wahr oder nicht wahr,« fiel Thomas ein, »Keller-Caprese gefällt mir. Auf Ideen kommt es an und das ist eine Idee.«
Der Professor lachte verächtlich auf. »Ideen? Ideen hat der Kerl so viele, wie eine Heuschrecke Eier.«
Thomas hörte schon nicht mehr. »Das ist mehr als eine Idee, das ist ein Symbol, ein lebendiges Symbol. Keller-Caprese: am Namen hätte ich es schon hören müssen. Das Finstere und Lichte vereint, das ist tiefsinnig. Und gar für einen Maler. Der feuchte kalte Keller als Wasser, das trocken-warm-lebendige Capri als Farbe. Er selbst der echte Pinsel, der beides zusammenbringt. Sehen Sie nur, er trägt die Haare wie Borsten, er ist ein Pinsel. Oder so: der Keller die Wirklichkeit in scheußlicher Gestalt, mit Ratten und Mäusen, Capri das Ideal mit leuchtender Sonne und farbiger Pracht, der Mensch dazwischen als Künstler.«
Der Professor starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Redner, der ihm immer näher rückte und lebhaft weiter sprach.
»Tiefer graben, Thomas! Du bist oberflächlich. Denke nur nach Ideal und Wirklichkeit, hier hast du es vor dir, in einem Menschen vor dir. Der sterbende Maler ist das Schöne, der Himmel, die Akademie das Irdische, das Gemeine, und dazwischen Keller-Caprese das Symbol des Menschengeistes, der Himmel und Erde zusammenzwingt und dem dabei das Kunstwerk in den Schoß fällt. Folge der Stimme in dir, Thomas. Der Mensch dort ist die Nächstenliebe, der Träger des Christentums, ein Bild des Gedankens von Jahrtausenden.« Er hielt inne, um von neuem zu beginnen. »Tiefer, Thomas, tiefer: Was ist denn Größe, Heldentum gegen das reine Menschsein. Hier ist es ein Bild der Unsterblichkeit. Das Einfache, das Menschliche ist unsterblich.«
»Hören Sie auf,« rief der Professor, »ich werde verrückt, wenn ich das mit anhören muß.«
»So sind die Menschen, sie sehen das Symbol nicht und wenn es ihnen auf die Nase fällt.« Thomas erhob sich und sah stolz auf den Professor herab. »Ich will Ihnen zum Dank für Ihre Geschichte die Moral davon geben. Es ist die Lehre von dem Überwinden des Todes. Verstehen Sie? Nicht die große Tat, sondern das einfache Menschsein überwindet den Tod. Daß Keller-Caprese dem Sterbenden ein Bett gab und dafür ein Bild erhielt, das er mit Recht sein eigenes Werk nennt, ist symbolisch. Es stirbt etwas, um neues Leben zu fördern, ein Sinnbild der Ewigkeit. Ihre Geschichte bedeutet die Ehe zweier Welten, des Himmels und der Erde und die Geburt der Kunst. Das ist ein Gedanke, der Sie freilich verrückt machen kann. Ihre Geschichte lehrt, daß in dem Allermenschlichsten, dem tierisch göttlichen Akt der Begattung die Ewigkeit liegt und daß alles Geschehen darin gipfelt. Handeln Sie danach! Der Trauring lehrt mich, daß Sie es dürfen. Ich aber will dem Propheten Keller-Caprese huldigen.«
»Halten Sie Ihre Taschen zu,« schrie der Professor ihm nach. »Er pumpt Sie an.«
16. Kapitel.
Eine Wanze, die mit Gedanken und Goldwasser malt.
Thomas war zu dem Maler getreten, der mit einem raschen Blick den Anzug seines neuen Zuhörers musterte, dann aber zu den beiden Offizieren gewendet fortfuhr zu sprechen.
»Ja, meine Herren, ich wiederhole es Ihnen ins Gesicht: Der ewige Friede muß kommen, wird kommen. Sie wollen es nicht glauben, nein, Sie können es nicht glauben. Denn Sie sind mit Blut genährt, Sie leben vom Mord, ebenso gedankenlos wie die Tausende und Millionen um Sie herum. Menschen, die Fleisch essen, müssen blutdürstig denken und handeln. Aber nicht hinter uns, vor uns liegt das Paradies. Jehovah verwarf Kains Opfer der Feldfrüchte und sah wohlgefällig auf das blutige Abels. Der Brudermord war die Folge davon. In der Zukunft aber ruht eine Welt, in der der Mensch den Krieg verabscheuen wird, weil er aus den Halmen des Bodens und dem Saft der Beeren, die er verzehrt, sich ein milderes Herz aufbauen wird. Der Krieg und damit Ihr Beruf, meine Herren, verschwindet mit der Fleischnahrung.«
»Danach müßten also unsere Kerls viel Rindfleisch fressen, damit sie Courage in die klappernden Gebeine kriegen,« sagte der Hauptmann lachend.
Der Maler drehte sich nach Thomas um, der an ihm vorbei zu einem leeren Stuhl zu gelangen suchte. Er schob den Sessel herbei und lud mit einer großen Bewegung den Gast zum Sitzen ein, als ob er ihm ein Herzogtum schenkte. »Bitte sehr. Ich freue mich, wenn Sie zuhören, denn ich weiß, daß ich die Wahrheit spreche.« Damit wandte er sich wieder an den Hauptmann und sagte mit Würde: »Äße der Mensch kein Fleisch, so gäbe es keine Soldaten.«
»Also Lord,« rief der Hauptmann nach dem Wirt, der eben im Hintergrund dabei war, seine Nase aufzufärben, »opfern Sie mir mal wie der selige Abel ein Stück Roastbeef, aber recht blutig muß es sein. Ich will die Sache ausprobieren. Die Kerls haben mir heute den Parademarsch verhunzt, da soll mir das Rinderblut die nötige Kraft zur Kriegerrauheit geben.«
»Mir auch, mir auch,« schrie der Leutnant und paukte vor Vergnügen auf seine Beine los, als ob er sie zu Braten zurecht klopfen müßte.
»Nun sagen Sie mal, Sie Friedensengel,« begann der Hauptmann von neuem, »wie steht es mit Ihnen selber? Wenn ich nicht irre, habe ich Sie neulich beim Kommerzienrat Leiner Austern essen sehen. Wie stimmt das nun mit Ihrer Theorie? Sie sind ja abtrünnig.«
Der Maler hob bedeutsam die Hand. »Denken Sie doch, bitte, nicht, daß ich Fanatiker, Glaubensheld sei. Ich will erforschen, wissen, beweisen. Und dazu brauche ich das Experiment. Von Zeit zu Zeit, wenn sich der Zweifel an meiner Lehre in mir regt, esse ich Fleisch. Und gerade dann merke ich an meinem eigenen Körper und Geist, daß ich recht habe. Alle tierischen Triebe wachen beim ersten Bissen auf und wochenlang muß ich mit meinem Innern kämpfen, um wieder alles Grausame in mir zu überwinden. Meine Hand zuckt dann nach den Fliegen, die auf meinen Bildern schmausen, und ich habe neulich nach den Austern sogar eine Mücke getötet, die mich stach. Aber das ist ja gerade das Beweisende, diese Erfahrung am eigenen Leibe. Sie gibt mir die Zuversicht, sie leitet meine Visionen. O Sie wissen nicht, wie das ist. Ich sehe ein Bild vor mir, wie der grimmige Löwe, keusche Nahrung der Erde suchend, zu Füßen des heiligen Menschen ruht, beide gezähmt von der milden Güte der Natur, beide über das Tierische erhoben und mit dem Himmel versöhnt. Wenn ich esvollenden könnte! Wenn ich Zeit gewönne, all die Gestalten zu beseelen, die in mir leben! Aber ich bin ein schwacher Mensch im Banne der Stunde. In tausend herrlichen Bildern würde ich der Menschheit das Paradies vor Augen stellen, den Frieden auf Erden.«
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