Kitabı oku: «Henriette Jacoby»
Henriette Jacoby
Georg Hermann
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Henriette Jacoby
Impressum
Vorwort
Es ist seltsam, wenn ich denke, daß sie nun wieder alle, auch alle um mich sein sollen, die schon weit draußen in der Welt leben und die mancher kennt oder zu kennen wähnt, sie, die allein mir gehören und doch wieder mir nicht mehr gehören. Und es ist seltsam, wenn ich denke, daß ich es nun wieder bin, der – ein neuer Charon – sie ihrem Schicksal entgegenführt, unerbittlich wie jener; einzig den Bord des Nachens darf ich mit Blumen umflechten.
Und wenn es fürder das Leben nicht gut mit ihnen meinte, ich könnte ja die Karten anders mischen; aber was würde es nützen? Über Glück und Unglück, über Behagen, Wunsch und Wehe ist ja schon lange der Pflug gegangen, der alles in den Boden reißt. Nehmen wir Gewesenes und Seiendes für das, was es ist: für ein Spiel; traurig oder schön ... immer nur für ein Spiel, dessen Sinn wir nicht kennen.
Georg Hermann
Ich weiß nicht, ob man sich der Geschehnisse erinnert. Genug: Onkel Jason war zuerst fortgefahren, als allererster von Jettchen Geberts Hochzeit. Er hatte eine gute Entschuldigung, daß er doch noch krank wäre. Noch vor Jettchen hatte er das Fest verlassen. Noch ehe Jettchen in jener windklaren, sternhellen Novembernacht des Jahres 1839 (ich weiß nicht, ob man sich dessen erinnert) ihrer Hochzeit in der »Gesellschaft der Freunde«, oben in der Neuen Friedrichstraße, den Rücken gekehrt hatte, ohne abzuwarten, daß Madame Spiro den Kaffee servierte, und, was noch merkwürdiger war, ohne sich zu gedulden, bis ihre schöne, mit weißem Atlas ausgeschlagene Chaise – die beste, die Onkel Ferdinand überhaupt besaß – bis der Hochzeitswagen sie nach ihrer neuen Wohnung brächte, in der Tante Hannchens Mädchen indes alle vier Zimmer geheizt hatte, damit Jettchen sie nicht zu kalt und ungemütlich fände. Jettchens Mädchen sollte nämlich erst übermorgen zuziehen. (Ich weiß wirklich nicht, ob man sich all dessen erinnert.)
Nicht eine Sekunde also hatte Jason Gebert den Wagen warten lassen. So pünktlich war er selbst nie zu einem Stelldichein gegangen, und doch konnte ihm hierin gewiß niemand Unpünktlichkeit vorwerfen. Die halbe Zeit hatte er unter dem Tisch mit seiner Uhr gespielt und die Zeiger verwünscht, die so langsam um das silberne Stundenglas krochen. Und dann hatte er wieder stocksteif dagesessen, in die Lichter gesehen und sich mit der Hand unter die weiße Halsbinde gegriffen, weil es ihm schien, als ob er erdrosselt werden sollte und als ob jemand immer wieder von hinten die Binde zuzöge, kaum daß er sie zurechtgerückt hatte. Jason Gebert begriff seinen Bruder Salomon nicht, der so breit und würdig dasaß, und Ferdinand – seinen Bruder Ferdinand –, der über die eigenen Witze lachte, daß man es durch den ganzen Saal hörte, und der immer wieder den Lohndiener Pieper rief, er solle ihm noch mal anbieten. Jason selbst bekam keinen Bissen herunter. Er hatte ja auch eine gute Entschuldigung, nichts zu nehmen; er wäre noch in der Genesung, sagte er, und der Rat Stosch hätte es ihm streng verboten. Aber Tante Rikchen, die sich als Brautmutter fühlte und für jedes Kuvert zahlen mußte, ob es nun gegessen wurde oder nicht – seine Schwägerin Rikchen wollte das nicht gelten lassen. Und sie kam selbst mit einer Schüssel und tat Jason Fisch auf – Fisch dürfe er doch essen, es gäbe nichts Leichteres als Fisch. Auch Onkel Naphtali erinnerte sich, daß er hier als Senior aller Jacobys Standesperson wäre, und sagte: »Aberr der junge Mann scheint dem teuren Menü gar keine Ehre antun zu wollen«, während der alte Onkel Eli sich begnügte, seine brave Ehehälfte, die ihm schrägüber saß, nur mit dem einen Auge anzublinzeln. Die kleine Tante Minchen schüttelte darauf zwar unwillig ihrer Marabutoque, aber sie verstand schon, was jener meinte. Als aber Salomon Gebert endlich aufstand, um Mahlzeit zu wünschen, da war sein Bruder Jason auch schon aus der Tür. Und ehe nur einer sonst recht den Stuhl gerückt hatte, hatte jener auch schon draußen seinen grauen Spenzer umgenommen und hatte die Klinke in der Hand. Ja, sie mochten oben noch nicht einmal recht aufgestanden sein – denn nach einer so reichen Hochzeitstafel läßt man sich damit Zeit –, da hatte Jason sich mit geschlossenen Augen auch schon unten in die roten Polster des Wagens zurückgeworfen, und die Pferde zogen an.
Jason Gebert konnte keinem Menschen sagen, wie ihm zumute war. Jedes Rattern des Wagens, jeder Huf schlag der Gäule traf ihn ins Hirn und gab ihm noch zu der Empfindung trostloser Leere und dumpfer Starrheit, die sich in ihm breitete, unleidliche körperliche Schmerzen. Nun hatte er gekämpft und gekämpft – und die Schlacht endlich doch verloren. Stein für Stein hatte er in Jahrzehnten aufeinandergeschichtet, und wie er dachte, nun bald den Schlußstein einfügen zu können, da war das alles, krach, in sich zusammengebrochen, und nie mehr würde er es wieder aufbauen können. Was war denn für ihn Jettchen bis heute gewesen? Ihm wurden die Augen feucht, wenn er daran dachte. Und nun war sie die Frau dieses Julius Jacoby, dieses Vetters aus Bentschen! Er sah sie als junges, fünfzehnjähriges Ding vor Augen, hinten in ihrem Zimmer nach dem Hof mit dem Nußbaum vor der Galerie. Wie hatte er sie so Schritt vor Schritt gegängelt, sie dahin gebracht, wo er sie hin haben wollte. Von Woche zu Woche hatte er sich gefreut, sie wiederzusehen. Und nun war das alles entzwei. Denn dieser Löbel Groschenmacher würde es ganz und gar niedertreten. Das wußte Jason Gebert. Und das war heute sein Abschied gewesen. Ein trauriger Abschied – nicht einmal ein Rückzug, nein, vielmehr eine Flucht, eine wirre, haltlose Flucht war es gewesen.
Nun was denn? Er würde eben noch einsamer sein, das hätte eben auch ein Ende gefunden wie alles andere hier. Noch ein Jahrzehnt würde er sich so hinschleppen, vielleicht noch länger, dies und jenes beginnen, so ungefähr, wie man nutzlos Steine in einen Brunnen wirft. Herrgott im Himmel, warum hatte er nicht schon jetzt wegtreten können, links in die Seitenkulissen hinein! Warum mußten diese lahmen alten Knochen schon wieder standhalten! Nun ja, nun wäre eben auch das zu Ende. Was scherte er sich eigentlich darum. Was ging es ihn an. Er würde sich jetzt schlicht und friedlich oben in sein schönes, warmes Zimmer setzen, auf seine grüne Damastbergere, würde die Beine von sich strecken und würde auf seine Art Abschied feiern. Richtig, da war ja noch eine Flasche Sillery, des Ernst Theodor Amadeus Hoffmann Sillery, die ihm Onkel Eli gebracht hatte – der würde er den Hals brechen. Und dann würde er sich dazu »La Vie des Dames galantes« von Brantôme vom Bücherbord herabholen, um, das halbgeleerte Glas in der einen Hand und das Buch in der anderen, den geheimen Sinn dieses schmerzhaften und närrischen Daseins zu ergründen. Bis zum Bett würde er wohl endlich immer noch herüberkommen. Wozu brauche er nach irgend jemandem in der Welt zu fragen. Nach ihm frage ja auch keiner. – Und damit kletterte Jason Gebert mühselig mit seinen lahmen Beinen aus dem Wagen.
Aber Jason Gebert hatte eben den Fuß auf das Trittbrett gesetzt, als etwas ganz Wunderbares und ganz Seltsames sich ereignete. Etwas, was Jason Gebert sich nicht erklären konnte, soviel er auch später darüber nachsann. Es war wie ein Aufblitzen in ihm, ein plötzlicher weißer Schein, so wie wir ihn zu sehen glauben, wenn wir von Explosionen oder Kanonaden träumen und dann, vom Pulverblitz geblendet, auffahren, nur damit wir um uns alles grausig finster und knisternd still finden. Jason wußte gar nicht, wie er dazu kam. Er hatte nicht mit einem Gedanken an diesen Menschen gedacht, wirklich, den ganzen Tag nicht. Und plötzlich stand doch die greifbare Gewißheit vor ihm: Doktor Kößling, da oben in seiner einsamen Stube, hinten in der Neuen Friedrichstraße, der jetzt da herumirrt, hungrig und verzweifelt wie ein Tier im Käfig – Doktor Friedrich Kößling wird sich jetzt in dieser Stunde etwas antun. Und wie Jason das aussprach, zögernd, mit einem Fuß auf dem Trittbrett, da sagte er sich auch schon, daß es nicht wahr wäre, daß es nicht mehr als eine haltlose Idee von ihm wäre, eine Einbildung – daß der andere nicht daran dächte. Aber kaum daß er es sich zu widerlegen suchte, befiel ihn eine solche drückende Angst, eine solche innere Unruhe, daß es ihm ganz eng um die Brust wurde und der Hals ihm wie zugeschnürt war. Jason Gebert glaubte nicht an Fernwirkungen und Mesmerismus. Er war viel zu sehr Skeptiker, um an irgend etwas zu glauben. Aber er wollte Klarheit haben – Klarheit, was das war. So rief er dem Kutscher zu, er möchte ihn noch einmal die Königstraße hinauffahren, gleich oben hin nach der Neuen Friedrichstraße.
Langsam zog der Kutscher, als wolle er dem Herrn Zeit lassen, sich anders zu entschließen, die Leine an, drehte langsam sein Handpferd und bog wieder schräg in die Königstraße ein. Jason Gebert aber saß da, weit vorgebeugt, hatte das Wagenfenster niedergelassen und blickte in die graue Nacht, die vom flackernden Schein der hüpfenden Gasflammen – ganz weit standen sie voneinander entfernt – nur trübe und unregelmäßig unterbrochen wurde. Von einer unerklärlichen Unruhe gepackt, starrte er hinaus, verfolgte jeden, der auftauchte und verschwand, mit den Blicken, ob es nicht Kößling wäre. Er wußte nicht, was ihn in diese Lage hineinzwang. Er kam sich vor wie ein Jäger auf dem Anstand, so spähte und lauschte er in die bewegte Dämmerung hinein, Erwartung in jedem Muskel. Da aber erblickte er ganz von ferne einen grauen Schatten, er hörte den Klang von Schritten, und er fühlte am Rhythmus der Bewegung, daß das ein Gang war, den er kannte, und daß das ganz jemand anders war als der, den er hier suchte. Und plötzlich schien Jason Gebert all das, was eben mit ihm geschehen, so unheimlich, daß es ihm vor sich selbst graute. Und er schrie dem Kutscher: »Halt!«, und er sprang mit beiden Füßen hinaus – er vergaß ganz seine Schwäche und seine Unbehilflichkeit –, und er hinkte über die krachenden Wasserlachen, den Hut im Genick und den Spenzer weit offen.
»Jettchen! Um Himmels willen, Jettchen!« rief er. »Was ist?«
Jettchen fuhr zurück und blieb stehen. Sie war noch eben mit ihren Gedanken weit fort gewesen.
»Ach, Onkel Jason«, sagte sie, sonst nichts, und lächelte so wie ein Kind, das man beim Naschen ertappt. Sie war ganz rot von der Luft. Das sah Jason. Und sie lächelte konnte noch lächeln.
»Du wolltest zu mir?«
»Vielleicht«, sagte Jettchen, »ich weiß nicht. Jedenfalls wollte ich fort.«
»Dir hat's da oben bei der Hochzeit wohl auch nicht gefallen«, sagte Jason, und jetzt mußte er gleichfalls lächeln, »ebenso wie mir.« Und damit griff er nach Jettchens Hand, die den Mantel zuhielt, und streichelte sie leise, während durch die Tränen, die er im Auge hatte, die Gestalt vor ihm verschwamm. »Aber du wirst dich in deinen leichten Schuhen erkälten, du großes Kind, du«, meinte er dann. »Das ist kein Wetter zum Promenieren. So kannst du dich anziehen, wenn erst wieder im Charlottenburger Schloßgarten die Vögel singen. Komm, Jettchen, da drüben hält mein Wagen.«
Jettchen schüttelte traurig den Kopf.
Jason nahm wieder ihre Hand. »Sage mal, Jettchen, bin ich nicht immer, solange du denken kannst, auf deiner Seite gewesen? Und meinst du, ich bin nun mit einmal gegen dich? Komm, wir sprechen im Wagen. Denke nur, wenn uns hier jemand sieht ...«
Jettchen ließ sich ruhig und ohne Widerstand von Onkel Jason führen. Beim Einsteigen stützte sie sich sogar schwer auf seine Schulter, während Jason Gebert dem Kutscher sagte, er möchte hier auf und nieder fahren und dann zu seiner Wohnung zurückkehren.
Jason konnte nun Jettchens Gesicht nicht mehr sehen, denn sie hatte sich tief in den Fond des Wagens zurückgelehnt. Aber er spürte mit dem ganzen Körper ihre Nähe, und ihm kam mit einmal zum Bewußtsein, was ihm dieses Mädchen war – viel mehr, als er sich gestehen konnte.
»Jettchen«, begann er endlich, »wollen wir nicht einmal als zwei vernünftige Menschen miteinander reden? Weißt du denn auch, Jettchen, was du getan hast, wenn du jetzt deinem Mann nach der Trauung davongehst?«
Jettchen nickte nur; dann sprach sie, und jedes Wort rang sich von ihr los. »Ich kann nicht, Onkel Jason – ich kann nicht. Ich habe die ganzen Tage gewartet und gewartet – irgend etwas, habe ich gedacht, muß geschehen. Ich habe gefiebert und gebebt jede Sekunde. Ich habe immer gemeint, Onkel Salomon müsse es mir doch ansehen und zu mir sprechen. Und dann – dann hätte ich es gesagt, daß ich es nicht kann. Ich habe geglaubt von Minute zu Minute, es käme noch irgend etwas Unerwartetes, etwas, was man sich gar nicht ersinnen könnte. Aber plötzlich hatte man mir schon die Schlinge über den Hals geworfen, ich habe schreien wollen, ich habe nicht glauben wollen, daß es wahr sein kann. Und da bin ich – weißt du, Onkel ...«
Jettchen beugte sich vor, und Jason sah Jettchens Gesicht, das vom Schein einer Laterne mit einer scharfen Lichtkante umzogen war, und wie ein rotblitzendes Juwel hing ihr eine Träne an der Wimper. Jason aber hatte das Gefühl, als müsse er diese Träne fortküssen. Denn in dem grenzenlosen Mitleid, das er für Jettchen empfand, flammte plötzlich etwas anderes auf, was er sich vordem nie eingestehen wollte und dessen er sich vordem nie bewußt war. Aber gerade deshalb ergriff er nur Jettchens Hand, und er hatte sie immer noch in der seinen, die schöne, fleischige Hand mit dem breiten Brillantring und dem Goldreif an dem schlanken Finger – Jason Gebert fühlte den neuen Goldreif –, immer noch in der seinen, als er schon geendet und als der Wagen, der sich hinten jenseits des Alexanderplatzes in einem Wirrnetz und einem Bergauf und Bergab halbdunkler, ausgestorbener Straßen verirrt und verfangen hatte, wieder neben den flammenden Kandelabern der Königsbrücke entlangratterte.
Jason sprach lange, ruhig und klug. Zuerst von den Tatsachen, dann von den Aussichten. Jettchen wollte nicht zu ihrem Mann? Nein? Gut, damit müsse man sich abfinden. Zwingen könne sie niemand. Aber sie müsse auch wissen, daß das nun ihr Mann sei. Das Gericht habe nicht zum Scherz heute mittag sein Siegel darunter gedrückt. Der Herr Staat sei eine Person, die keine Sentiments kenne und nicht mit sich spaßen lasse. Er könne davon ein Lied singen, und das wäre ebenso schön wie der »wackere Lagienka«. Soweit er die Lage überschaue, wäre Jettchen völlig mittellos, und alles, was sie besäße, wäre von Salomon in die Hände ihres Mannes gelegt. Das würde Schwierigkeiten ergeben. Denn wenn Julius Jacoby sie auch wohl endlich losließe – er habe ja keine Macht, sie zu binden –, so glaube er den neuen Vetter genug zu kennen – vom Geld würde er sich nicht trennen. »Die Sache, liebes Jettchen, wird – das sehe ich jetzt schon – sehr schmutzig werden und viel Lärm geben. Wir müssen zusehen, daß wir in aller Stille auseinanderkommen. – Du liebst Doktor Kößling?« Jettchen nickte.
»Ich will dich nicht fragen, wie du mit ihm stehst. Du bist ja Herrin deiner Entschließungen und längst alt genug, um alles vom Leben zu erfahren.«
»Nein!« rief Jettchen, fuhr auf und umklammerte wie flehend Jasons Hände. »Glaube das doch nicht von mir, Onkel.«
Jason lächelte, denn nicht ohne Absicht hatte er diesen Seitensprung getan, und fuhr dann freier fort: »In das Haus von Onkel Salomon kannst du nicht zurück, Jettchen, und selbst wenn man es dir freistellt, wirst du über kurz oder lang dort gerade das tun, was du nicht willst. Dafür kenne ich meine lieben Schwägerinnen viel zu gut. Überhaupt, das begreifst du wohl, hast du jetzt mit einemmal die ganze, aber auch die ganze brave Familie gegen dich. Da darfst du dich gar keinen Hoffnungen hingeben. Kein Mensch wird auf deiner Seite sein, und kein Mensch wird dich verstehen, vielleicht nicht einmal der, den's am nächsten angeht.«
»Doch, doch«, rief Jettchen.
»Und deshalb, meine Freundin« – Jason überhörte die Einwendung –, »wirst du vorerst bei mir bleiben. Ich werde dich unter meine Fittiche nehmen, du armes, verirrtes Küken, du. Wie eine Löwin ihr letztes Junges werde ich dich verteidigen. Aber – mache mir keine Dummheiten, Mädchen. Setze dich nicht damit ins Unrecht. Du brauchst die Sympathie der Leute. Du hast einen Kampf angefangen, Jettchen, verstehst du – einen Kampf, du konntest nicht anders. Ich sage nicht ein Wort dagegen. Ich will dir helfen. Aber – keine Dummheiten. Du bist jetzt nicht mehr Jettchen Gebert, sondern Frau Henriette Jacoby, die man überall unmöglich machen kann. Und dann, Jettchen, mußt du dir ja selbst sagen, daß null und null erst hundert ergibt, wenn eine Eins davorsteht. Solange sind die zusammen nur ein kümmerliches Nichts, das eben nicht auf die Dauer bestehen kann. Und nun, mein altes Mädel, reden wir von etwas anderem. Fürs erste also wohnst du bei mir. Alles andere findet sich. Paß auf, wie nett wir's uns machen werden, du mein kleines Hausmütterchen, du. Eigentlich freue ich mich doch recht, daß ich dich erwischt habe. Mir ist es nämlich eben ganz eigen gegangen, und wer weiß, was du sonst getan hättest – jedenfalls nichts Gutes. Denke nur, was du denen da oben allen, die doch nicht wissen, wo du hin bist – was du denen für einen Schreck eingejagt hast!«
So sprach Jason, lang und bedächtig, klug und doch sarkastisch, wie das so seine Art war. Jettchen saß ganz still dabei, und nach all der Angst und all der Unruhe, all der Kälte und Benommenheit der letzten Tage hatte sie hier in dem dunklen, weichen Wagen das erste Mal wieder das Gefühl von Wärme und Geborgensein, und sie sah halb erstaunt nach den blinzelnden Laternen, die da draußen vorübertanzten, während der Wagen leise und langsam weiterschwankte. Für den Augenblick hatte sie die Empfindung, als ob all das, was sie erlebt, ganz fern läge und als ob sie das gar nicht sei, die das getan, sondern irgendwer Fremdes. Dann aber drang wieder die ganze Ungewißheit ihrer Lage auf sie ein, und Jettchen schmiegte sich an Jason und umfaßte ihn mit ihren Armen und begann zu weinen, von tief auf zu schluchzen. Und unter Tränen sagte sie ihm, wie gut er zu ihr wäre, daß er sie nicht verließe, da doch keiner etwas von ihr wissen wolle. Aber Jason antwortete ihr, daß sie eine Närrin wäre und daß sie immer der Liebling von allen gewesen wäre und daß sie das auch bleiben würde. Sie sollte nur sehen, sie würden es so nett zusammen haben. Und später würde sich alles für sie schon gut gestalten. Dafür wolle er sorgen – das verspreche er.
So redete Jason. In seinem Innern aber klangen ganz andere Stimmen, die Trauer und Besorgnis kündeten.
»Und ahnt denn Kößling, was du getan hast?«
»Ich glaube nicht, Onkel, ich glaube es nicht.«
»Soso«, meinte Jason, und er wiegte nachdenklich den Kopf. Er merkte gar nicht, daß der Wagen schon hielt.
Dann aber kletterte er langsam zur Chaise hinaus, denn seine Füße waren müde geworden, und half Jettchen beim Aussteigen. Hell in der Dunkelheit der Sternennacht sah Jason sie vor sich stehen. Er hörte in der Finsternis das Knistern ihres Atlaskleides, und er spürte die Kühle ihrer freien Arme. Und im Augenblick kam ihm dabei die Erinnerung an so manches liebe Mal, da er hier einer Schönen aus dem Wagen geholfen; und lächeln mußte er über die seltsame Rolle, die er heute dabei spielte. Sie zeigte ihm, daß er doch nun alt und abgetan war, während ihm irgendwie doch wieder dabei der Gedanke durch den Kopf schoß an den Mann aus der Bibel, der auszog, seines Vaters Eselin zu suchen, und statt ihrer ein Königreich fand.
»So, nun führe ich meine Braut heim«, sagte Jason fast spöttisch, in jenem Ton, den er so liebte und von dem er glaubte, daß er seine eigentliche Meinung und seine eigentliche Stimmung ganz verbarg; und er küßte Jettchen mit einer gesucht altmodischen Bewegung die Hand. Dann öffnete er das schwere Haustor, ließ Jettchen den Vortritt und hinkte schnell wieder zum Wagen zurück: der Kutscher solle warten, er bekäme auch nachher ein gutes Biergeld.
Einen Augenblick stand so Jettchen in der Dunkelheit allein in dem Vorflur, und sie war ihr lieb, die Stelle. Sie wunderte sich über den Kreislauf, daß sie nun wieder hier wäre. Alles andere, die letzten drei Tage schienen verblaßt und verklungen, die Gedanken an Doktor Kößling, ihren Liebsten, kamen ihr zurück und mit ihnen wieder die Tränen, daß sie sich an die Wand lehnte und still in sich hineinschluchzte.
So fand sie Jason; und scherzend, als sähe er es gar nicht, bot er ihr den Arm und geleitete sie vorsichtig die spärlich erleuchteten Treppen hinauf. Sie erschienen so weit, unheimlich und spukhaft mit ihren geschweiften, geschnitzten Geländern, den breiten Stufen, den hohen, weißen Türen und dem schwarzen Nachthimmel, der mit vielen Sternen durch die riesigen, vielscheibigen Flurfenster hineinsah. Und als Jason oben schloß, flatterte das alte Fräulein Hörtel in ihrem geblümten Kleid wie ein Käuzchen vorbei.
»Komm, Jettchen, du sollst hier vorne dein Reich bekommen, du altes Mädchen, du.« Damit öffnete Jason die Tür zum grünen Zimmer und ging zum Tisch, auf dem die Moderateurlampe stand. Er schlug mit seinem Taschenfeuerzeug Licht, das das Zimmer zuckend und unruhig durchflammte und riesige, unbestimmte Schatten warf. Aber Onkel Jason hatte noch nicht die Lampenglocke gehoben, als er die Empfindung hatte, es fiele hinter seinem Rücken ein schwerer Gegenstand dumpf zur Erde. Ohne sich zu wenden, rief er schrill nach Fräulein Hörtel.
Als er sich dann umdrehte, lag Jettchen neben einem Stuhl auf der Erde. Sie hatte sich vielleicht noch setzen wollen, hatte sich vielleicht auch niedergesetzt, aber plötzlich hatte ihre Willenskraft versagt, und sie war zusammengebrochen, war seitlich vom Stuhl geglitten.
Fräulein Hörtel steckte erschrocken ihren alten Kopf durch die Türspalte.
»Mein englisches Salz«, sagte Jason halblaut, »es steht auf der kleinen Spiegeltoilette.« Dann kniete er nieder, öffnete den schweren Mantel, daß Jettchen in ihrem weißen Atlaskleid auf der roten Innenseite des Mantels wie auf einem roten Teppich lag, und hielt der Ohnmächtigen das geschliffene Kristallfläschchen vors Gesicht. Als Jason aber – Jettchen lag wie tot und war weiß wie ihr Brautkleid – keine Veränderung an ihr gewahrte, schob er vorsichtig den einen Arm unter ihren Rücken und den anderen unter ihre Knie, und ganz langsam und zitternd erhob er sich mit der schweren weißen Last und trug sie – die weiße Schleppe schleifte dabei über den Boden – zu seinem Bett.
»Wir müssen das Kleid öffnen, Fräulein«, sagte er. Und während das alte Fräulein Hörtel, die noch nicht mit einem Wort ihr Erstaunen geäußert hatte, an Jettchens Taille herumbastelte, suchte Jason draußen unter den Weinflaschen nach dem Sillery, den er ja noch heute hatte trinken wollen. Da er aber die Schnur, die den Kork hielt, so schnell nicht lösen konnte, so schlug er der Flasche den Hals ab, daß ihm Wein und Schaum über die Hände sprudelten. Und er nahm einen silbernen Löffel und lief wieder vor in das grüne Zimmer.
Fräulein Hörtel hatte es Jettchen ein wenig frei gemacht, ihr auch das Haar gelockert, und Jettchens Brüste atmeten ganz leise unter den breiten weißen Spitzenbesätzen, und das goldene Medaillon bewegte sich ganz leise zwischen ihnen bei den Atemzügen. Die Augen aber waren noch immer geschlossen und der Mund fest zusammengepreßt. Und als Jason ihr den Kopf hob, um Jettchen – das Haupt in seinem Arm – mit dem Löffel den gelben, sprühenden Wein einzuflößen, und als nun in dem Gesicht die dunklen Augen wieder langsam zu sprechen begannen ... und als Jettchen, ganz von fern herkommend, Jason zuerst so fremd und scheu anblickte, bis sie mit langsamem Lächeln und dankbarem Staunen alles um sich wieder erkannte und sich ihre Lage wieder zurückrief – da spürte Jason Gebert zum ersten Mal, heute an diesem Abend, wie schön doch dieses Mädchen sei, von welcher seltenen und erlesenen Schönheit, zart und unergründlich, fremd und rätselhaft wie das Leben selbst. Und eine ganze Weile saß er so vor ihr und blickte sie an, nachdenklich lächelnd, ohne zu sprechen. Er fühlte den Reiz und die Fremdheit allen Frauenlebens, das neben uns ist und doch so unendlich fernbleibt, um das wir unser Lebtag kämpfen, und das wir doch nie erringen, ja, das selbst nicht unser wird, wenn wir es in den Armen halten. Und in Jason quoll zugleich ein Mitleid mit dieser Schönheit auf, deren Schicksal es war zu leiden, wie eben Schönheit leiden muß.
Endlich aber, als Jettchens Augen wieder die alte Klarheit zurückgewonnen hatten, sprach Jason noch einmal zu ihr, daß alles gut werden würde, daß sie sich nur keine Gedanken machen sollte und daß sie fürs erste ruhig bei ihm bleiben sollte. Er würde für sie eintreten und für sie sorgen. Sie solle jetzt hier nur ruhig liegen, ganz ruhig, und sich nicht regen. Fräulein Hörtel würde ihr Gesellschaft leisten. Da wäre noch Wein, und da wären Biskuits. Aber sie solle entschuldigen, er wolle sich nun auch zurückziehen, denn er sei sehr müde.
Jettchen hatte nichts dawider. Die Anspannung und Erregung der letzten Tage, die ihre Kräfte gesteigert hatten, waren plötzlich gewichen, und es war zu einer Erschöpfung und zu einem Zusammenbruch ihrer Seele und ihres Körpers gekommen, die keiner erneuten Entschließung mehr fähig waren und nur ein weichmütiges Sehnen nach Ruhe und Auflösung noch kannten. So sah Jettchen statt jeder Antwort Onkel Jason nur tief und dankbar in die Augen, als er sich leise über sie neigte, um mit seinen Lippen ihre kühle, weiße Stirne zu streifen.
Auf den Zehen zog sich Jason zurück und winkte dem alten Fräulein, sie dürfe nicht von Jettchens Seite, und sie solle ihr ab und zu noch einmal Champagner geben; die Tür aber sollte sie hinter ihm schließen, ganz leise, damit Jettchen nicht merke, daß er fortginge.
Sehr vorsichtig schlich Jason im Halbdunkel das dämmrige Treppenhaus hinab und weckte unten den Kutscher, der auf seinem Bock eingenickt war. Er solle ihn wieder zurückfahren zur Hochzeit.
Der Kutscher aber, der ein galantes Abenteuer hinter alldem vermutete, sagte nur: »Uff mir können Se Häuser bau'n, ick schweig' Ihnen wie't Jrab.«
Als Jason vor der »Gesellschaft der Freunde« ausstieg, hörte er es schon brausen wie von einem Bienenschwarm. Zuerst war Tante Minchen darauf aufmerksam geworden, daß Jettchen fehlte, und da mochte sie schon eine ganze Weile fort sein. Denn, wie das so bei Festen geht, jeder feiert nur sich selbst, und niemand kümmert sich um den, den man eigentlich ehren will.
»Wo ist doch Jettchen?« fragte Tante Minchen und sie zog mit ihrem langen Kometenschweif von Schleppkleid hier- und dorthin in den Saal und in die Nebenräume.
»Ich hab' sie eben noch gesprochen«, sagte das Fräulein mit den Pudellöckchen und verfestigte einen Faden an ihrer Näharbeit.
Julius Jacoby saß bei Onkel Naphtali und entwickelte ihm seine Tendenzen der Geschäftsführung.
Rikchen war liebenswürdig gegen irgendwelche Gäste, die ihr gleichgültig waren, denn gerade gegen die muß man immer am liebenswürdigsten sein, weil sie »draußen« erzählen, und Rikchen hatte infolgedessen für Minchens Frage keine Zeit. Nur Ferdinand, der seit Vormittag nicht so recht nüchtern geworden war, lachte und rief ganz laut: »Jettchen wird rausgegangen sein – 'ne Braut ist sozusagen auch ä Mensch.« Und das hielt er, bescheiden in geistigen Dingen, wie er immer war, für den besten Witz, den er an diesem Tage gemacht hatte.
Aber Tante Minchen gab sich damit nicht zufrieden und trieb weiter ihren Zickzackkurs. Diese und jene blickten auf und sahen dann einander fragend an. Wolfgang beteiligte sich am Suchen und steckte den Kopf hinter alle roten Vorhänge. Und die kleine Tante Minchen brachte so plötzlich eine seltsame Unruhe und Befangenheit in die Gesellschaft. Keiner wußte eigentlich recht, weshalb.
»Was suchst du, Minchen?« fragte Salomon.
»Ich seh' Jettchen nich. Wo is se doch?«
Salomon bekam einen Schreck. Er winkte Ferdinand, und die Bewegung, mit der er Ferdinand winkte, machte, daß er im Augenblick vollkommen nüchtern wurde. »St, Ferdinand«, sagte Salomon, faßte seinen Bruder beim obersten Knopf seines Gilets und zog ihn in eine Ecke des hohen Fensters. »St, Ferdinand!« Salomon wiegte den Kopf im Genick und sah sehr ernst aus seinen beiden Augen. »Jettchen – hm –, sie ist weg!« Salomon sagte kein Wort mehr, aber die beiden Brüder verstanden einander.
»Ich werde mal nach der Wassertür gehen«, sagte Ferdinand, denn das Grundstück ging auch zu dem breiten, trägen Wasser der Spree hinaus. »Und Max soll den Türsteher fragen, ob jemand fortgegangen ist.«
Drinnen begann die Musik den »Liebeszauber« zu spielen. Aber man lief hinein – sie sollte aufhören.
Hannchen kam hinzu. »Wo willst'n hin, Ferdinand?«
Aber in Ferdinand, dem rohen, derben Ferdinand, quoll plötzlich eine wilde Wut auf, wie er seine kleine, breite Frau in ihrer ganzen behäbigen Selbstgefälligkeit so vor sich stehen sah. In seinem Hirn, das sich sonst nie mit Gedanken abgab, die über Tag und Stunde und über die gröbsten Bedürfnisse des Genusses und des Erwerbs hinausgingen, dämmerte plötzlich, wenn auch unbestimmt und verschwommen, die Wahrheit und Möglichkeit der Zusammenhänge. Und all das, was sich hier ereignet hatte, und sein ganz wildes und verfehltes Leben dazu, begriff er plötzlich, fühlte es in seinen Wurzeln, ohne daß er dem Worte geben konnte. Nur eine Wut, eine haltlose Wut kam über ihn; und ohne zu bedenken, wo er war, ohne auf Ort und Stunde zu achten, schrie er laut in den Saal hinein, daß Jettchen fort wäre und daß er seine Hände in Unschuld wüsche. Sie hätten es gewollt, nun hätten sie es ja.
Alles lief zusammen. Auch Julius, der ganz ernst und kleinlaut war, kam hinzu.
»Nu, nu, regt euch nicht auf«, sagte er, »sie wird schon wiederkommen.«
»Wenn se auf mich gehört hätten«, sagte Eli, den doch schon nicht mehr so recht etwas aus der Ruhe brachte, »dann wär' das nich passiert. Ich weiß nich, frieher sind se immer alle zu mir gekommen; aber seitdem ich kein Geld mehr habe, meinen die Leit, ich hätt' auch keinen Verstand mehr. Aber jedenfalls werd' ich doch mal nach de Königstraße zum Herrn Viertelswachmann gehen, der kennt mich sogar sehr gut.«