Kitabı oku: «Rosenemil», sayfa 3

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Plötzlich wurde ihm ganz heiß auf der Stirn, und es war ihm, als ob ihm da unter dem verbogenen Rand seines Strohhuts hundert Nadelspitzen aus der Haut schlugen, und das grüne Gefühl um den Magen war wieder da, stärker als vorher. Jott noch mal, sagte es in ihm, du hast doch beide Hände frei! Du hast doch 'ne Tasche heute jehabt, Emil! Eine schwarze Wachstuchtasche mit zweiundzwanzig »Verstoßene Jräfinnen« und ein Kilo Gesundheitstee! Auf de Bank haste se noch gehabt, Emil! Wo is denn die Tasche mit eenmal hin? Des is jut! Da muß ick mindestens vier Mark de Leute ersetzen. Zweiundzwanzig »Verstoßene Jräfinnen«! Mir rechnen se det Heft mit fuffzehn Pfennje. Det macht ... macht: drei Mark dreißig. Dem armen Mann fliegt auch noch – innerlich weinte er, und es fehlte wenig, daß er es auch sichtbar tat – ooch noch die eene Taube weg.

Und schon rannte er wieder los, zurück, aber dieses Mal rannte er wirklich. Und der Blaue, der sich wieder umgedreht hatte, blickte ihm stumpf und mißtrauisch nach: Der Bruder da mußte doch was ausgefressen haben! Aber da sich niemand um den Mann kümmerte, ihm nachsetzte oder rief, haltet den Dieb, jing ihn ja die Sache jarnichts an; erst, wenn eene Belästijung des Publikums dadurch stattfindet, hatte er einzujreifen.

»Un die Mappe«, japste Rosenemil beim Dauerlauf. Jetzt war ihm kalt, und er bibberte beinahe, »die Mappe, die scheene Wachstuchmappe.« (Also das war übertrieben; sie war nie schön gewesen, und jetzt war sie schon zehnmal in den Nähten und auch so gerissen und mühselig von Frau Radowski – denn sie sorgte mütterlich für ihre Schlafburschen – wieder zusammengeflickt worden.)

Die mußte ja da noch liegen, beruhigte sich der Kolporteur, reg dir man wieder ab, Emil. Wer soll mir armet Luder noch wat klau'n? Und wat soll denn eener damit anfangen? Wat kann denn in Jottes Namen eener mit zweiundzwanzig »Verstoßene Jräfinnen« anfangen? Und mit dem Tee? Da is er doch morgen 'ne Leiche mit ... Nee, nee, det rührt keener an.

Aber auf seiner Bank saßen schon andre. Die Wache, die aufgezogen wurde, wie der Berliner sagt, hatte eine große Umwälzung vollbracht, wie eine zweite Abendvorstellung im Kintopp. Es waren alles fremde Gesichter geworden. Wirklich, sogar Fremde, Provinzler und so, die hier Unter den Linden die Wache aufziehen sehen mußten. Denn das gehörte ebenso wie die Bauernschenke in der Jägerstraße mit dem »Groben Gottlieb« und das Zeughaus – ins Museum brauchte man nicht zu gehen, da sind nur Bilder und so – zum Programm.

»Ach verzeihen Sie«, sagte der Kolporteur, und innerlich weinte er wieder; des war ja eine schöne Bescherung! »Verzeihn Se, haben Sie vielleicht 'ne schwarze Wachstuchtasche jefunden? Ich habe sie hier liegenlassen, se hat nur für mich Wert. Es ist mein Handwerkszeug.«

»Wat sollen wir jefunden haben?« sagten zugleich die beiden aus Kottbus. »Wat, Ihr Handwerkszeug?« Und sie waren nicht nur unfreundlich, sondern wie jeder, dem man zumutet, er könnte etwas gefunden haben, tief beleidigt. »Sehen Sie doch selbst nach! Hier liegt nischt, und es lag auch nichts da, wie wir gekommen sind … Sehn Se doch selbst nach«, sagte die Frau – mit einer karierten Bluse, die wie ein Taubenkropf an ihr herabhing, und mit einer steif gestärkten Spitzenrüsche darüber – mit ganz spitzem Mund.

»Nee, junger Freund«, sagte ein anderer, der wohl sah, wie nah es dem abgehetzten Kolporteur ging, »nee, hier hat wirklich nischt gelegen.«

Ach Gott, dachte der – er war ganz verdattert –, vielleicht haben das doch die beiden Mädchen da mitgenommen … aber es kann ihnen doch nichts nützen! Doch hierin befand sich der Kolporteur in einem schweren Irrtum. Denn wenn er in der nächsten Woche nach der Schwerinstraße gekommen wäre, so hätte er sehen können – aber er kam gar nicht in diese Gegend, eher erging er sich auf dem anderen Pol der Weltkugel Berlin –, daß Haus bei Haus die Mädchen nachmittags, denn früher standen sie kaum auf, in Nachtjacken und blauen Filzschloppen bei den Wirtinnen in den Küchen saßen und mit echtem Rot auf den abgeschminkten Backen und warmen Gefühlen in den verlogenen Augen ihre unfrisierten Köpfe in die Packpapierseiten der »Verstoßenen Gräfin« hinabsenkten. Denn das erste graue Heft war ja besonders dick und sehr spannend. Ja, drei von diesen vierzig, die es lasen – denn es lasen da, wo die Mädchen zusammen wohnten, ja auch zwei auf einmal –, bestellten sogar aus eigenem Antrieb bei Schultzes Großbuchhandlung die Fortsetzung, was, solange Schultze bestand, noch nie passiert war.

Dann muß man eben auf die Polizei jehn, den Verlust anmelden, oder aufs Fundbüro ... Aber innerlich wußte er schon, daß das nur eine überflüssige Lauferei und Schreiberei wäre. Doch er ahnte innerlich durchaus noch nicht, daß er eigentlich nicht mehr in die Verlegenheit kommen würde, die Wachstuchmappe je wieder zu brauchen.

Na, wat nu? sagte sich der Kolporteur. Wenn ich nu hier rumstehe, dadavon krieg' ick ja meine Mappe doch nich wieder ... Ärjerlich is ja so was doch, und ihm war jämmerlich flau um den Magen wieder, als er herüber nach der Friedrichstraße ging. Wenn ick nu sage, daß ick de Tasche verloren habe, des jlauben die mir ja doch nich, die Schultzes, des sind zu raffinierte Kröten, die Jungs, die denken da alle immer, jeder is ebenso ausjekocht, wie sie sind!

Er stand schon eine ganze Weile vor dem Laden, ohne zu sehen, was da drin eigentlich war. Nur sich selbst sah er und seine Rose, die sich da in der blanken Spiegelscheibe da spiegelte. Richtig: »Versuchen Sie Ihr Glück« stand über den Lotterielosen dort, die an die Scheibe mit Mundoblate gepappt waren – konzessionierte Pferdelotterie, Hauptgewinn eine Equipage und zwei ungarische Jucker oder zehntausend Mark in bar ... Na, die werde ich mir denn auszahlen lassen. Ob se hier die »weißen Elefanten« ohne Mundstück haben? Aber in sone feine Jejend werden se die janich führen. Da rauchen se nur Queen, wie der mit den grauen Judenhelm. In de Stallschreiberstraße is 'n Laden, da habe ick sogar fünfundzwanzig zu fuffzehn jesehn. Ick wer' mir doch lieber an de Ecke bei »Loeser und Wolff« eine »Mühle mittel« kaufen, da hat man vor sechs Pfennige mehr, als wenn man da zehn Stück nacheinander 'runterraucht. Wenn een' ein bißken um den Magen is, denn is aber ein Glimmstengel doch besser. Eine Zigarre macht satt, und von des Endeken Papier, da is man nachher nur noch hungriger als vorher. Und an 'ne Zigarre hat man auch länger.

Merkwürdig, wie der Kolporteur aus dem Eckladen kam und wie er auf die Linden hinaustrat, mit der Linken sein blaues Jackett abklopfte und mit der Rechten mit abgespreiztem kleinem Finger die Zigarre an den Mund hielt, sehr langsam und behaglich an seiner Zigarre saugend – man sah ihm an, daß er möglichst lange damit haushalten wollte –, sahen ihm die lange Friedrichstraße mit den Ketten von schweren, dichtbesetzten Omnibussen, vor denen die Gäule in den Sielen lagen (jeder selbst ein kleiner Omnibus schwer), mit den Kutschern in ihren Pelerinen – wozu eigentlich jetzt: Man konnte einen Bären braten! –, die noch in einem Vorbau am Wagen wie in einem Erker saßen oder die ganz da oben, noch höher als die beiden Reihen von Fahrgästen, auf dem Verdeck thronten, neben ihren wippenden Peitschen mit der langen Schnur, die nie anders als zum Knallen zu brauchen ihr Stolz war ... sahen ihm also Friedrichstraße und Linden mit Menschenreihen und Wagenreihen und Baumreihen, mit dem Tor da weit hinten und dem Alten Fritz da in der Mitte drüben, mit dem Zeughaus und der Oper, die sich in die weiten Plätze da vorschoben, doch schon ganz anders wieder aus. Denn solch eine Zigarre ist ein Narkotikum, das nicht nur dem Menschen, auch den Dingen und Sorgen ihre Schwere nimmt und einem es erleichtert, die Sorgen wegzudenken. Und was man wegdenkt, ist nicht vorhanden.

Und wenn es auch keine Havanna nach dem Diner bei Dressel dahinten war, sondern nur ein ziemlich dürftiges Kraut, das grade so als Alltagszigarre noch hinging, so ersetzte sie doch dem Exkolporteur beinahe das Diner bei Dressel und ließ ihn außerdem eine tiefe Ungesichertheit, seine Aussichtslosigkeit und seine Sorgen um Schlafgeld und um die Mappe vergessen und all seine hundertmal aufgebürstete Kümmerlichkeit.

Denn eigentlich war er ja doch ... er sah sich wieder in einer Spiegelscheibe, zart hingewischt über große gelbe Lederkoffer mit Messingschlössern, die zu babylonischen Türmen aufeinandergetürmt waren, sah sich zwischen roten, grünen und lackschwarzen Ledertaschen mit breiten Silberbügeln, und das Röschen im Knopfloch lachte ihn an ... denn endlich und eigentlich war er doch 'n janz hübscher Kerl. Figur hatte er. Und jesund war er auch. Und das Leben rollte in ihm. Und Leben an sich, wenn es so richtig in einem rollt und pocht, ist ja doch eine hübsche Sache in sich. Ob es da einem gut oder schlecht geht, selbst wenn man ein bißchen mal hungert, ist gar nicht so wichtig, solange man eben gesund und jung ist. Wenn man aber nicht mehr jung und nicht mehr gesund ist, dann is wieder auch nicht mal so wichtig, ob es einem gut geht oder ob man satt ist. Es ist im besten Fall nicht mehr als eine »Mühle mittel« für sechs Pfennige das Stück: ein kleines Narkotikum für 'ne halbe Stunde. Und man kann nachher nicht mal eine andere anstecken, denn man kriegt das Kraut verflucht schnell über. Ja, und daß Emil Lehmann seine Wachstuchtasche losgeworden war, war ihm eigentlich nicht unangenehm mehr. Er hatte sie immer schleppen müssen, er konnte sich gar nicht mehr ohne den ollen Klumpen unterm Arm denken, er hatte sich zwar dran gewöhnt, aber sie hinderte doch. Und nu hatte er plötzlich beide Arme frei, da ging sich's viel leichter, man taktierte so gut dabei. Einen Stock hätte er haben müssen, so'n richtiges braunes Rohr mit 'n Elfenbeinknopf, wie der Patentfatzke mit 'n Judenhelm in dem Schwalbenschwanz da vorhin unter den Arm geklemmt hatte, des war natürlich noch vornehmer jewesen!

Was blieb ihm denn übrig? Nun würde er so peu à peu zu seiner Schlafmutter, die Radowskin, jehn und ihr ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht vorpeesen – und wenn sie ihn 'rausschmisse? Nu schön: dann würde er eben im Humboldthain auf einer Banke pennen. Da schlafen noch mehr. Und das übelste is es da auch nich. Oder irgendwo draußen, wo sie neue Straßen machen, in de Kanalisationsröhre. Das is nicht das schlechteste. Da stören sie einen nich. Oder auf 'n Heukahn, wie die Spitzmaus – ein wirklich und wahrhaftig ungemein ulkiger Mann: den jeht der Mund wie'n Entenstietz – im Humboldthafen sich zur Ruhe betten. Aber des hat Emil Lehmann doch noch janich nötig. Er würde dann eben in de Palme jehn.

Und die Radowski – die is ja auch janich so. Denn wer' ich ihr, damit se meinen juten Willen sieht, zwei Mark jeben. Denn behalte ick immer noch – er kramte seinen Geldbeutel aus der Tasche im Gehen – eensachtunddreißig, un dafür kann man drei Tage janz jut in de Volksküche jehn.

Aber wirklich ein schöner Tag heute. Sonst wäre er noch Kunden anwerben gegangen. Sonnabend nachmittag is manchmal nich schlecht. Da haben die Männer die Löhnung nach Hause gebracht – wenn se se nich versoffen haben! –, und da leistet sich sone Frau eher 'ne »Verstoßene Jräfin«. Aber er hatte ja nich mal eine einzije mehr, um sie vorzuweisen. Geschweige denn, sie auf Probe dazulassen. Ach wat, futsch is futsch und hin is hin.

Was da oben für nette Federwölkchen sind über 'n Zeughaus. Lauter so kleine weiße Federchen ... Grade wie die Boa bei der eleganten Dame da vorhin. Nur, daß die blau war und ihr Hals weiß. Und da ist der Himmel blau, und die Federn sind weiß ... Ja, ja, ich werde der Radowski zuerst die Geschichte mit der Mappe vorerzählen. Ich glaube, das ist das beste. Wenn ick ihr das rührend, wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, ausmale – so was zieht bei den Frauen immer ...

Wie nett das so alles ist, wenn man sich das so in Ruhe ankiekt – mit den Rossebändigern da oben auf dem Dach ... Wie sind die Pferde da heraufgekommen? Schade, daß man so selten die Zeit für so was hat, sagte er sich und strich seine Zigarrenasche am Geländer ab und verfolgte, wie sie ins Wasser fiel und dort mit einem kleinen Klick versank. Vorm Schloßbrunnen blieb er wieder stehen, der Kolporteur, und guckte sich das interessiert an, wie das Wasser ... wie das Wasser rauschte und durcheinanderspritzte und in dem Becken aufplanschte, daß es kleine Privatregenbogen gab, und wie die Bronzejungs da in dem Strudel, so glitschig und naß wie die Kaulquappen, die Felsblöcke herunterrutschten. Das heißt, sie taten nur so. Eigentlich kamen sie ja nicht von der Stelle. Und die vier großen Frauenzimmer, die da so auf dem Brunnenrand saßen, hatten schöne lange Beine, wie die Heuschrecken ... wenn auch nicht so dünn ... Nee, also einfach zum Reinkneifen ... Des war mindestens vier Wochen her, damals im Humboldthain. Und das war eijentlich auch nischt jewesen. Er war janich ein zweites Mal hinjejangen. Vielleicht wartet se noch da am Querweg seit den Donnerstag um halb zehne uff ihn. Ja, wat sollte ein junger Mann da tun? Un die Radowski, die würde einen schön 'raussetzen, wenn er da plötzlich mit eene angezogen käme ... Und des Abends is er auch immer müde von't Laufen, den janzen Tag. Und zu so eene jeht er nich jerne. Außerdem kostet des Jeld. Und des hat man nicht.

Dem ollen Kurfürsten saß ein Spatz uff 'n Kopp, aber das störte ihm nicht; keine Miene verzog er in seinem starken und herrischen Gesicht unter der Allongeperücke.

Ja, nun war det Nette wieder vorbei. Wie die blauen Rauchwölkchen verflogen. Aufgeraucht wie die »Mühle mittel«, die nun wie ein armseliges Stummelchen zwischen seinen Lippen hing und, wie so billige Zigarren dann oft, schiefgebrannt kohlte und braune Nikotintröpfchen schwitzte, die auf der Zunge und den Lippen bissen.

Das ganze Leben mit seiner Armseligkeit quirlte hier wieder durcheinander in der Poststraße. Hausdiener mit ihren Schiebkarren und mit Türmen und Pyramiden aus Kartons und Stoffballen, die trotz der Stricke, mit denen sie umwunden waren, bedenklich schwankten ... Hausdiener mit angespannten Muskeln und geblähten Hälsen, in denen die blauen Adern jeden Augenblick vor Anstrengung zu platzen drohten ... die ihre Schiebkarren durch das Gewühl von Rollwagen, Geschäftsrädern und Droschken mühselig weiterpreßten. Und dazu auf dem schmalen Steig all die vielen Leute, die sich stießen, um weiterzukommen ... Der Geruch, der aus jedem Keller und jedem Laden ein anderer war. Die tausend Dinge in den Schaufenstern, die laut schrien, man solle sie kaufen, denn sie wären billig, billig, billig! Hemden und Anzüge und Wringmaschinen und Federhalter. Aluminiumgeschirr und Schlipse und Hüte mit Straußenfedern und Rosensträußen, groß wie Wagenräder. Und Gesundheitskorsetts und Briefmarken ... Kaufe ganze Sammlungen (wenn er seine Markensammlung noch hätte!) und Schlafzimmereinrichtungen schon von vierhundertneunundneunzig Mark an ... sogar mit 'nem geschnitzten Schrank und »Rösickes geräuschlosen Patentmatratzen«. Und links um die Ecke der Musikautomat dazu aus der Kaschemme ... »Zehn Pfennig de Molle.« Aber so'n Schlafzimmer und so'n Bett, des wär' schon was! Für 'n Menschen, der Jeld hat, ist det janich ville! Vierhundertneunundneunzig Mark! Det is noch nich mal een halber brauner Lappen.

Vielleicht, daß der Kolporteur, wie das so kommt, wenn man etwas durcheinander ist, das letzte halblaut vor sich hin gesprochen hatte. Vielleicht sogar, daß das Mädchen auch, das neben ihm stand, seine Gedanken erraten hatte, denn sie hatte, ebenso wie er, mit sehnsüchtigen Blicken das zweischläfrige Bett mit »Rösickes geräuschloser Patentmatratze« gestreichelt. Ihr wenigstens schien es der Inbegriff von allem Luxus samt dem kleinen, niedrigen Nachttisch mit der Messinglampe darauf, die sie noch eigens bewundert hatte, weil daran stand, daß die Nachttischlampe Originalentwurf des Professors Edgar Eduard Schultze wäre. (Was aber nicht daran stand, war, daß sie deshalb umfiel, sowie man sie zu berühren wagte, ja eigentlich schon, sobald man sie nur schief ansah, aus dem Gleichgewicht kam; oder wenn man die Schranktür öffnete. Und daß sie außerdem, wie ein Zitterroche, elektrische Schläge austeilte, wenn man etwa wagte, sie an- oder auszuknipsen.) Ja, und erst das veilchenblaue Waschgeschirr da auf dem niedrigen Waschtisch mit dem Glasverschlag um sich, das war gleichfalls dem Schöpfergeist des Professors Edgar Eduard Schultze entsprungen. Was aber nicht darauf stand, war, daß es einem wie ein Aal aus den Händen rutschte, sowie man auf den schnurrigen Einfall kam, es etwa nicht als Zierat zu betrachten, sondern es dazu zu benutzen, damit Wasser einzugießen. Aber – es war jedenfalls sehr vornehm!

Das junge Mädchen – das heißt, sie war dreiundzwanzig: das ist jung, wenn man fünfzig ist, und alt, wenn man siebzehn ist – hatte schon manchmal so etwas Ähnliches gesehen. Denn sie war in den letzten Jahren viel herumgekommen und kannte die Einrichtungen der Schlafzimmer von Leuten der verschiedensten gesellschaftlichen Schichten – von knarrenden Kienbettstellen in kahlen Buden bis zu solchen, die ganz allein und frei auf schwarzen Tapeten wie große Sarkophage in Erbbegräbnissen standen und außerdem noch von feierlichen Kandelabern flankiert waren. Aber daß der Traum, daß sie selbst einmal so etwas haben und ihr eigen nennen würde, je Wirklichkeit werden könnte, war ihr doch mehr als ungewiß.

Gebrauchen hätte sie es können. Und berufliche Vorteile hätte sie schon davon gehabt ... aber selbst wenn auch daran stand in großen Lettern quer über die ganze Spiegelscheibe weg: »Auf Wunsch in Monatsraten« – was nutzte das? Nachher, wenn man nicht zahlte, kamen sie doch und holten es wieder ab. Und vierhundertneunundneunzig is doch ne Masse, wenn man auch einiges gespart hat. Da ist Braunfisch preiswerter! Und außerdem kosteten die Lampe und die Gardinen und das Waschservice extra. Das is nicht mit inbegriffen. Und wenn das noch von'n Professor is, schon janich. Nee, beinahe fünf blaue Lappen waren 'ne Stange Jold. Und so faßte die junge Dame ihre ganze Erkenntnis in janze drei Worte zusammen, die sie halblaut, aber nur für den Nachbar vernehmbar, vor sich hin sprach: »Scheen, aber teuer!«

»Ja«, sagte der Kolporteur, und ihn verließ ganz seine Rednergabe, »da mögen Sie ja recht haben, Frollein; billig is' nich!«

Aber danach dachte er wieder, daß er das letzte eigentlich nicht hätte sagen sollen, denn wer so'n russengrünes Tuchkostüm anhat, mit 'n Faltenrock mit Krimmerborde, und so'n Hut mit 'ne kleene ametystblaue Pleureuse, für die is des vielleicht noch jarnich sone unerschwingliche Menge Jeld. Und daß die junge Dame so mit ihm sich in ein Gespräch einließ, war doch eijentlich nett von ihr und jarnich stolz. Na ja, 'ne richtige Dame war es ja nich, wie die vorhin mit de blaue Schwanenboa. Vielleicht 'ne bessere Haustochter oder 'ne Buchhalterin, die Ferien machte. Und selbst wenn se Bekanntschaften sucht, denn jeht se doch mehr aufs Äußere. Und so besonders machte er sich doch wirklich nicht mit seinem abgeschabten Cheviotanzug, der ganz blank war, und seinem verbogenen Strohhut und seinen gelben Schuhen, bei denen immer wieder die dunklen Streifen durchkamen. So eine hat für so was einen Blick. Die spricht keinen an, der aussieht wie er. Geld konnte sie bei ihm wirklich nicht vermuten. Hübsch, sehr hübsch, wunderhübsch war sie schon, und se lachte so nett in de Augen und in de Mundwinkel. Groß war se und schlank und hatte dabei einen kleinen, runden Kopp und 'ne ganz hohe Stirn und braune Augen, die in sehr viel ganz bläulichem Weiß schwammen ... Sone Backen zum Streicheln ... und Nasenflügel, die immer zitterten, so als ob sie sich heimlich über einen lustig machten ... 'ne Masse Haare! 'ne Unmasse! Leicht bronzefarben und goldig durchspielt. (Nicht das Mädchen mit dem Goldhelm, sondern eine mit dem Bronzehelm von Capua).

Der Kolporteur war jetzt trotz hoher Bildung und Rednergabe (denn endlich suchte die Großbuchhandlung stets Herren mit Bildung und Rednergabe!) ziemlich unglücklich, denn er liebte es, bei Frauen Eindruck zu schinden und nicht heruntergekommen auszusehen. Wenn man das einmal war, war da nichts mehr zu machen. Und die Rose in der Rockklappe alleine riß ihn wirklich nicht 'raus ... Das war ihm in diesem Augenblick zerschmetternd deutlich. Wie sah er denn neben so'n feines Mädchen aus!

Ja, das haben eben Frauen vor Männern voraus: Eine Frau hätte sofort erkannt, daß das noch ein Kostüm von 1901 war und daß es mühselig und von nicht geschickter Hand modernisiert war. Daß die Nähte hell geworden waren und der weiße Krimmer grau und abgescheuert war. Und daß unten, um es zu verlängern, ein Streifen angesetzt war von ähnlichem Stoff. Und daß das Ganze bei der Änderung verschnitten war und keineswegs tadellos im Rücken saß ... und unmöglich gewesen wäre, wenn nicht darunter solch eine herrliche Figur gesessen hätte. Solch ein ungewöhnliches, großes und wohlgebautes und schlankgliederiges Wesen, das noch in einer alten, geflickten Küchenschürze wie eine Quellnymphe von Goujon aussah. Und eine Frau hätte auch gleich gesehen, daß die Pleureuse keine richtige war, sondern eine geklebte und aus allerhand ungleichen Abfällen bei der Fabrikation um einen Gänsekiel zusammengeleimt war und nicht den wahren Fall und edlen Schwung hatte. Aber ein Mann sieht so was nicht. Für den ist eine Pleureuse 'ne Pleureuse.

Was aber selbst eine Frau nicht gesehen, gleich gesehen hätte, war, daß das Kleid aus der Pfandkammer in der Kommandantenstraße alt gekauft war und daß die Polenliese es sich ganz alleine auf der Maschine der Wirtin geändert hatte. Es hatte in seinem Vorleben mal einer Choristin aus dem Wintergarten gehört und viele Kavaliere gesehen und viele Sektflecken bekommen. Aber die ersten waren längst verweht, und die andern hatte die Polenliese mit Spektrol ganz gut herausgebracht, soweit sie nicht wieder hervorkamen. Nebenbei war es ihr Staatskleid. Und sie trug es nicht für alle Tage. Oder, um bei der Wahrheit zu bleiben, für alle Abende. Es hätte ihr auch dort, wo sie umherstrich, und das war weit jenseits des Alexanderplatzes, eher geschadet denn genützt. Dann hätte sich keiner 'rangetraut.

Nein, das Russenkostüm trug sie eigentlich nur, wenn sie, und das war zweimal die Woche, tanzen ging. Und wenn sie einmal für sich spazierenging. Und darin war sie komisch: Wenn sie tanzen ging, wollte sie tanzen und keine Herrenbekanntschaften machen, tanzte auch lieber mit anderen Mädchen als mit Herren, die sie zum Schluß immer versetzte. Was brauchten die zu wissen, wer sie war und was sie war. Und wenn sie spazierenging, wollte sie mal auch spazierengehen und sich nicht ansprechen lassen. Dann war sie ganz und gar Privatperson und wollte, wie so'n Anwalt und wie solch Kaufmann oder Arzt, weder etwas von Geschäften hören oder von den Klienten sehn, noch von den Patienten sich etwas vorjammern lassen.

Eigentlich war sie nicht nur ein ungewöhnlich schöner, sondern auch ein lieber, weicher und anständiger Mensch und im Kern durchaus bürgerlich, trotzdem sie, das hatte die Großstadt so gemacht, eben das war, was sie war. Wie ja jeder Beruf und jedes Gewerbe Menschen aller Anlagen und Abschattierungen umfaßt – anständige und unanständige, gemeine, rohe und feine, edle und hinterlistige, fröhliche und traurige, schwache und starke und solche, ja am meisten solche, die weder das eine noch das andere sind, sondern nur das, was man gerade von ihnen verlangt – und in sich aufnimmt. Und es vielfach nur ein Zufall ist, welchen Beruf einer oder eine ausübt. Und sie tat eben, was sie tun mußte, um zu leben. Aber sonst war sie ein sehr netter und anständiger Mensch und eine »anima candida«, die von nichts Bösem wußte. Fröhlich, mit einem melancholischen Unterton, der wohl von der Mutter kam, die noch polnisch gesprochen hatte und der bei ihr nur so in einem leichten, melodischen Sprachklang und einem Zungen-R sich bewahrt hatte, während von der eigentlichen »langue maternelle« nicht drei Worte mehr geblieben waren. Und ehe sie sich versahen, waren sie so'n paar Schritte nebeneinanderher gegangen – eigentlich hatte keiner von ihnen gesprochen! –, und sie waren an einem andern Schaufenster stehengeblieben.

»Die Toilette da mit de Zierknöpfe und de Mittelfalte ... die mit de Glockenärmel, meine ich, sieht einfach und gediegen aus. Aber von de Stange koofe ich mir das nicht. Det is allens mit 'ne hastige Nadel jenäht – un wie soll denn des anders sein? Wat zahlt man denn die Leute ooch dafor! Aber de Hauptsache sind immer noch die Jupons«, sagte sie ernst und sachlich, wie Frauen immer sind, wenn es sich um Kleider handelt. »Ick mach' mir jetzt 'nen Unterrock aus ponceauroten Linon.«

»Wo jehn Se'n hin, Frolleinchen?« sagte der Kolporteur.

Die Dame in Russengrün spannte den kleinen grünen Sonnenschirm mit den Spitzenvolants auf, weil sie jetzt in eine Sonnenbrücke gekommen waren, die quer über die Straße sich legte, und sie blinzelte aus den Schattenmustern, die über ihr weiches Gesicht spielten, den Kolporteur lustig an.

Der Sonnenschirm hatte in Quabbes Modejournal gestanden – aber damit ging es schon gar nicht mehr, damit war noch weniger zu machen gewesen wie mit dem Gesundheitstee und der »Verstoßenen Gräfin« –, der Sonnenschirm ist eene janz besonders wichtige Erjänzung der eleganten weiblichen Erscheinung, die wirksamste Folie für die Reize des Frauenantlitzes, und seine Handhabung muß gründlich studiert werden.

Aber sie hatte das gar nicht gründlich studiert. Sie konnte so was. Es lag ihr im Blut.

»Wo jehn Se denn hin, Frollein?« sagte er kleinlaut.

»So fragt man Leute aus«, meinte die junge Dame im Russenkostüm und lachte sehr freundlich und gar nicht ungehalten. »Spazieren jeh ick. Das heißt, eigentlich habe ick nischt vor. Auf 'n Abend muß ick zu Hause sein.«

»Sie haben wohl Ferien?« sagte der Kolporteur und sah an sich herunter, ob er mit einer so gut angezogenen Dame sich auch zeigen könnte.

»Ja«, sagte die Dame. »Das heißt, ich mache blau, wenn ick will.«

»Ach Jott«, sagte der Kolporteur. »Bei der janzen Lauferei«, und er wiederholte nur einen Gedanken von vorhin, »kommt ja nichts 'raus. Am liebsten jinge ich heute ooch spazieren ... denn können wir doch gleich zusammen jehn ... bei mir ist auch jleich, wenn ick nach Hause komm. Bei mir wartet keiner.« Das war nun nicht ganz wahr, die Radowskin wartete auf ihn. Denn sie brauchte den Schlummerkies. Sie mußte auch beim Bäcker und beim Kaufmann noch bezahlen. Der pumpte wohl mal 'ne alte Kundin 'ne Woche, aber nicht länger.

»Na ja«, sagt die Dame in Russengrün und sieht unter dem Spitzenrand – es waren ja nur Annaberger, aber es sah doch bei ihr aus, als ob es echte Brüsseler wären – zu dem Kolporteur hin, warm und treuherzig und sehr freundlich. »Aber erst möchte ich was essen jehn.«

Ja, das mochte der Kolporteur auch. Gegen den Wunsch hatte er gar nichts. Nur gegen die Ausführung ...

»Na ja«, sagte er leise, er war doch sonst so redegewandt, »denn komme ich noch ein Stückchen mit. Ich bin schon nach dem Essen.«

(Du kannst ja immer noch dich englisch nachher empfehlen, Emil, dachte er.)

»Na, dann essen Se eben noch mal mit zur Jesellschaft, 'nen bißchen was mit«, sagte sie ohne jede Ziererei. Denn erstens hatte sie siebenunddreißig Mark im Pompadour: ein Goldstück und fünf Taler und ein Zweimarkstück (ohne das Kleingeld). Der Olle war gestern dagewesen, der immer davon redet, daß er sie heiraten wollte. Er hat jetzt geerbt. Von 'n Bruder aus Lübbenau, der 'ne Großhandlung in sauren Gurken hatte ... Zwei Stunden hat er von nichts anders gered't. Denn solch alter Mann bleibt zum Schluß ja doch innerlich sehr einsam und sehr arm, selbst wenn er eben einen gutgehenden Großhandel in Essiggurken geerbt hat. Drei Tassen Kaffee hat er getrunken, und denn hat er ein Goldstück auf die Kommode gelegt und is so wieder gegangen. Wirklich ein netter oller Mann, und ein lieber oller Mann ... Er konnte gewiß von ihr haben, was er wollte und wenn er es wollte ... Aber, daß se deshalb ihre janze Jugend ihm verkaufen sollte, des konnte er doch wirklich und wahrhaftig nicht von ihr verlangen. Und zweitens gefiel ihr der Mann da, der Kolporteur, ganz gut. So stille Männer hatte sie gern. Hübsche Augen hatte er, und gut gewachsen war er auch. Darauf, wie ein Mann gewachsen war, verstand sie sich ... Und gerade, daß er von ihr nichts wollte und sie von ihm nichts wollte, das war grade sehr nett. Männer, die immer gleich von ihr was wollten, gab's genug. Und vor denen hatte sie einen Horror. Und Hunger hatte er, das sah man ihm an ... Und so den janzen Nachmittag alleine 'rumrennen ... vielleicht findet man zwar einen, der mit einem zu Gumpert geht ... das wird eenen auf die Dauer auch zu langweilig.

Die Königstraße war ganz mit Menschen und Licht und Lärm gefüllt, und man wußte wirklich nicht, was es mehr von den dreien gab ... Komisch: die Leipziger und die Friedrichstraße können viel voller sein, aber sie sind nie so laut ... Die Häuser schienen ordentlich von Lärm zu schüttern, und die breiten, goldenen Firmenschilder über die ganzen verstaubten Fronten fort, über Fenster hin und Stuckpuppen auf den Dächern, zitterten ordentlich mit im Lärm hier ... Die ziegelrote Front des Rathauses war ganz in Lärm gebadet, und nur der viereckige Uhrturm hob sich überlegen in Ruhe und Bläue hinauf. Hinten jagte die Stadtbahn über den Viadukt, und da ein Zug dem andern folgte, dachte man immer wieder, es sei der gleiche. Und die Kolonnaden zauberten davor eine fremde Lieblichkeit von einst mit ihren Säulen, Putten und Bögen und Bekrönungen in die staubige, lärmende und wirbelnde Wirklichkeit von heute. Deshalb sollten sie auch wegkommen, hieß es. Weil sie den Verkehr störten.

»Hier in die Jejend«, sagt der Kolporteur, »bin ich mal vor fünf Jahren als Rechercheur in de Volkszählung jegangen, und da drüben an de Ecke, unter den Kolonnaden, habe ich mit Hampelmänner gestanden.« (O weh, das hätte ich nicht sagen sollen. Na Jott, for'n Jrafen wird sie mir ja auch nich gehalten haben. Da weiß se eben gleich, woran se is.)

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