Kitabı oku: «Requiem für meinen Glauben»

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Georg Schwikart

Requiem für meinen Glauben

Georg Schwikart

Requiem für meinen Glauben

Was ich getrost begraben darf und

dadurch an Leben gewinne


Für Beratung bei der Erarbeitung des Manuskriptes danke ich herzlich Prof. Dr. Axel von Dobbeler, Pater Laurentius U. Englisch OFM, Kurt Hägerbäumer, Dr. Michael Schmiedel, Herbert Stangl, Chantal Zimmer-Leflere und Prof. Dr. Stefan Zimmer. Glücklicherweise haben diese Menschen ihre Hilfe nicht an die Bedingung geknüpft, alle meine Ansichten zu teilen.

Bonn, am Ewigkeitssonntag / Christkönigsfest 2021

Georg Schwikart

Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei diesem Buch auf Folienverpackung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2022

© 2022 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: Vogelsang Design, Jens Vogelsang, Aachen

Umschlagbild: gettyimages / Jose A. Bernat Bacete

Innengestaltung: Crossmediabureau, Gerolzhofen

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN 978-3-429-05750-3

eISBN 978-3-429-06573-7

Inhalt

Wie du warst vor aller Zeit, so bleibst du in Ewigkeit?

Tote Glaubenssätze beerdigen

Existiert in Wirklichkeit, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann?

Den Zweifel integrieren statt eliminieren

Und die Bibel hat doch recht?

Gottes Wort – wahre Poesie!

Das Grab ist leer?

Es geht nicht um „leibhaftige“ Auferstehung

Der alles so herrlich regieret?

Gott muss nicht allmächtig sein, um Gott zu sein

Hat das Bittgebet Macht?

Gott hört, aber erhört nicht unbedingt

Jesus – der einzige Weg zum Leben?

Den Absolutheitsanspruch des Christentums überwinden

Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen?

Jesus hat keine Kirche gegründet

Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt?

Die Volkskirche ist tot! Es lebe die Volkskirche!

Beten für die Einheit der Kirche?

Ökumene bleibt eine Chimäre

Gut und Böse – leicht unterscheidbar?

Ethik und Moral sind alles andere als eindeutig

Seht, wie sie einander lieben?

Christinnen und Christen sind keine besseren Menschen

Steht fest im Glauben?

Mit dem Glauben wird man nie fertig

Wie du warst vor aller Zeit, so bleibst du in Ewigkeit?
Tote Glaubenssätze beerdigen

Alles habe ich verkehrt gemacht, vor Jahren. Etwas mehr als 100 Kilometer vor Santiago de Compostela machte ich mich auf den Weg, um den echten Pilgerstatus zu erreichen (100 gelaufene Kilometer sind dafür die Voraussetzung). Anscheinend wusste jede und jeder außer mir, dass man auf dem Camino den Hinweisschildern – einer stilisierten Jakobsmuschel – in Richtung der gelben Strahlen folgt. Ich lief zunächst entgegengesetzt. Am ersten Morgen um 6 Uhr früh bei Regen gestartet, um sieben durchnässt wieder am Ausgangspunkt angelangt, wollte ich bereits frustriert aufgeben.

Ziemlich dumm waren auch die neuen Wanderschuhe – teuer und funktional, aber eben nicht eingelaufen; meine Schmerzen durch die fetten Blasen an den Füßen werden mir hoffentlich vom Fegefeuer abgezogen. Vor allem jedoch trug ich im Rucksack für eine Woche mehr als 15 Kilo Gepäck mit mir herum: sieben T-Shirts, ebenso viel Unterwäsche und Sockenpaare, außerdem mehrere Pullover und Hosen, dazu drei Bücher (von denen ich lediglich ein einziges auf dem Hinflug mal in der Hand hatte, sonst war ich zu erschöpft zum Lesen). Auf dem Pilgerweg erfuhr ich dann von anderen, wie man es richtig macht: mit Funktionswäsche, die über Nacht trocknet; zwei Garnituren genügen also, eine am Leib, eine andere zum Wechseln nach dem Duschen.

Falsch gedeutete Zeichen, schlechtes Schuhwerk, Umwege, viel zu viel Gepäck – obendrein meine Naivität, ich könne ja notfalls ein Taxi rufen, das mich zur nächsten Herberge bringt … wo doch über weite Strecken überhaupt kein Handyempfang möglich war und erst recht kein Fahrdienst bereitstand.

Ich lief schlecht vorbereitet. Aber ich lief. Und kam an.

Es wurde dann eine Woche mit wunderbaren Begegnungen; Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen waren unterwegs. Die Gespräche mit der Finanzspezialistin aus der Schweiz, der Krankenschwester aus England, dem Lehrer aus Polen und vielen anderen, bei Pausen, in der Herberge, abends beim Essen dienten der Völkerverständigung und dem Bewusstsein, wir alle sind fragile Wesen in Bewegung.

Als ich mir in Santiago das Pilgerzertifikat ausstellen ließ, musste ich in einer Liste meinen Namen und meine Motivation eintragen. Hatte ich mich aus religiösen, sportlichen oder anderen Gründen auf den Weg gemacht? Ich war an diesem Tag der Erste, der „religiös“ ankreuzte. Für sportliche Aktivitäten muss ich nicht nach Spanien reisen. Ich wollte Gott begegnen. Und begegnete mir selbst: Die Erfahrung von Erschöpfung und Kraftlosigkeit zeigte mir meine engen Grenzen auf; an einem Tag konnte ich kaum sprechen, nur still den Rosenkranz beten. Aber es gab eben auch den Drang durchzuhalten, nicht aufzugeben und schließlich die Tränen des Glücks, das Ziel erreicht zu haben, in der Kathedrale die Messe zu feiern, die Reliquien des heiligen Jakobus zu verehren und mit Körper, Seele und Geist zu spüren: „Ich hab’s geschafft!“

Ich bin auf mich selbst gestoßen bei dieser Tour, und das war eine sehr religiöse Erfahrung. Mir war auch vorher bewusst, Gott ist in Santiago nicht näher als an meinem Wohnort zu Hause. Aber ich bin pilgernd ein anderer. Aus dem Kopf ist diese Erkenntnis in den Bauch gerutscht: Gott ist in mir. Ich bin in Gott. – Keine Frucht des Denkens, sondern des Laufens.

Die Wanderung ist von alters her ein Bild für den Glauben. Abraham (damals noch Abram genannt) wird von Gott zur Auswanderung aus seiner Heimat aufgerufen, nicht einmal wissend, wohin die Reise geht: „Der HERR sprach zu Abram: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!“ (1 Mose / Genesis 12,1). Abraham, schon 75 Jahre alt, hört, was Gott zu ihm spricht. Er hört, er horcht, und weil er und Gott zusammengehören, gehorcht er dem Befehl: „Da ging Abram, wie der HERR ihm gesagt hatte“ (1 Mose / Genesis 12,4). Er geht zuversichtlich los und wird dadurch eine Symbolfigur des Gottvertrauens.

Das Gottvertrauen des Volkes Israel wurde später ziemlich auf die Probe gestellt. Denn nach ihrem erfolgreichen Auszug aus der Knechtschaft Ägyptens zog sich der Weg der Israeliten in die Freiheit in die Länge. 40 Jahre dauerte die Wanderung ins Gelobte Land. Unterwegs durch die Wüste gab es zu wenig Wasser, zu wenig Essen, dafür zu viel Konflikte, zu viel Enttäuschung. Das anfängliche Vertrauen ging verloren. Und wer blieb überhaupt so lange am Leben und kam an?

Die Zahl 40 ist im biblischen Erzählen ein Sinnbild für den Übergang. Wenn ich mit meinen nun 57 Lebensjahren 40 Jahre zurückdenke, so sehe ich Kontinuitäten und Unterschiede zu meinem damaligen Glauben als Jugendlicher. Ich bin immer noch unterwegs, aber als ein anderer, der sich doch in vielem gleichgeblieben ist. Schleppe ich als Glaubenswanderer nicht nach wie vor zu viel Glaubensgepäck mit mir herum? Wäre es nicht sinnvoll, mich von manchem nun endlich zu trennen? Damit der Weg leichter wird. Damit meine Kräfte nicht von einem „Für-wahr-halten-Glauben“ absorbiert werden?

Wer wie ich von klein auf christlich sozialisiert wurde, hat viele Glaubensinhalte verinnerlicht. Wir können Gebete und Lieder auswendig, orientieren uns am Kirchenjahr, sind mit biblischen Texten vertraut, wissen um theologische Wahrheiten und verfügen über Grundkenntnisse der Kirchengeschichte. Das ist ein großer Schatz.

Aber darin liegt auch die Gefahr der Erstarrung. Wir bleiben in den (Er)Kenntnissen unserer Kindheit und Jugend stecken. Machen es immer so weiter, wie wir es gelernt haben. Die Macht der Gewohnheit ist gewaltig. Sollten wir dennoch spüren, das passt ja gar nicht mehr zu mir und meiner Zeit, dann kann es sein, dass wir nicht nur Einzelheiten verändern, sondern den ganzen alten Zopf auf einmal abtrennen. Es gibt heute zahlreiche Menschen, die im fortgeschrittenen Alter ihre Kirchenmitgliedschaft aufkündigen. Das mag spezielle Gründe haben, doch meistens geht dem auch eine lange Phase der Entfremdung vom Glauben voraus. Da ist der Glaube nicht mitgewachsen, konnte nicht erwachsen werden.

Mein Glaube ist durch meine Herkunft geprägt, durch die Zeit, in der ich groß wurde, wie seinerzeit eben Familie, Kirche, Schule und Gesellschaft strukturiert waren und organisiert wurden. Ich hatte das Glück (oder, in der Sprache des Glaubens, mir wurde die selige Fügung zuteil), eine Mutter zu haben, die zwar traditionell im Ausdruck, aber liberal im Herzen war. Sie ermutigte mich, meinen eigenen Weg zu suchen und zu gehen. Auch in Sachen Religion. Mit 16 mochte ich den Satz im Glaubensbekenntnis, „geboren von der Jungfrau Maria“, nicht mitsprechen, er schien mir im wahrsten Sinne unglaublich zu sein. (Dank eines lyrischen Verständnisses des Credos habe ich heute keine Probleme mehr damit.) Und wenn früher beim Beichten der Herr Pastor fragte, ob es da noch Dinge gebe, die ich vor Scham nicht wagen würde auszusprechen (offensichtlich spielte er auf sexuelle Themen an, die ich in der Tat nie erwähnte, obwohl sie mich bewegten, weil damals ja alles verboten war), dann schüttelte ich sachte den Kopf. Diese innere Freiheit besaß ich bereits, manches ging nur Gott und mich direkt an.

Der Glaube schenkte mir Kraft und Selbstvertrauen. Doch ich benutzte Gott auch für meine Bedürfnisse nach Geborgenheit und Zugehörigkeit. Das musste früher oder später zu Spannungen führen. Mit der Kirche, die mich ihre Sicht auf Gott gelehrt hatte. Aber auch mit Gott selbst, weil ich zunächst meine kindliche Haltung als rundum versorgter Nesthocker nicht aufgeben wollte. Im Prozess des Erwachsenwerdens zeigte sich: Der „liebe“ Gott hat ausgedient. Der überkommene Glaube war überfordert, mir angemessene Antworten auf meine Fragen zu geben. Oder er gab Antworten auf Fragen, die ich nicht stellte.

Es scheint nahezuliegen, dass ich deswegen den Weg der vergleichenden Religionswissenschaft und Theologie einschlug. Ich wollte mehr wissen. Wissen eröffnet Horizonte. Es brauchte eine Zeit, bis ich wusste: Wissen allein bringt mich nicht zu Gott. Ich suchte Gott. Doch wo soll man suchen? In Büchern? Im Gottesdienst? Im Gespräch mit Glaubenden? In der Stille? In der Natur? In der Musik und der Kunst? In der leidenden Kreatur? Suchen kann man dort, vielleicht sogar finden. Heute ist mir klar: Wer sucht, verliert. Es geht weniger ums Finden als vielmehr ums Gefunden-Werden. Nicht ich habe Gott gefunden, sondern Gott mich. Auf meiner Glaubenswanderung bin ich oft in die entgegengesetzte Richtung gelaufen. Oder ganz vom Weg abgekommen. Ich dehnte Gelegenheiten zur Rast über Gebühr aus und trat auf der Stelle. Aus Versehen. Weil ich verpeilt bin. Weil ich vor Gott fortlief wie Jona. Ich kam nicht voran, weil mir das Ziel so unendlich weit entfernt erschien. Weil es mir am Vertrauen mangelte, das Abram mutig losziehen ließ. Und ich kam nicht recht vom Fleck, weil mein Glaubensrucksack zu schwer wog. Zu vieles, was wichtig und richtig und unaufgebbar sein wollte. Das musste sich ändern.

Denn nach wie vor lodert in mir die Sehnsucht nach Gott. Inmitten meiner seltsamen Diesseitigkeit hungere ich nach Transzendenz. Ich wünsche, alles, was mich hier bindet, zu überwinden. Ich dürste nach dem Himmel – gerade weil ich manchmal gewahr werde, ich bewege mich bereits darin. Diese Empfindung habe ich in einem kleinen Text für ein Kinderlied des Liedermachers Robert Haas versucht in Worte zu fassen:

Wie der Fisch im Wasser schwimmt, leben wir in dir.

Wie die Wolke oben schwebt, hängen wir an dir.

Sehen können wir dich nicht, dennoch wissen wir:

Du bist überall, du bist hier.

Hätte ich mehr Mystik gewagt, hieße es am Schluss nicht nur „du bist hier“, sondern „du bist in mir“. Gott in mir – das klingt so anders als die religiösen Sätze, die ich als Kind und Jugendlicher zu Hause, in der Kirche oder in der Schule gehört habe. Es klingt auch anders als die Inhalte meines theologischen Studiums. Anders als die Predigten, die ich in den Gottesdiensten hörte und höre, wenn ich sie als Teilnehmer besuche. Anders als die Predigten, die ich selbst halte.

Als Pfarrer versuche ich die große Tradition des Christentums mit meiner persönlichen Gotteserfahrung und der konkreten Situation, in die ich hineinspreche, übereinzubringen; ich bemühe mich, das in verständliche Worte und Zeichen zu übersetzen, um so Glauben für andere fruchtbar zu machen oder, wie es in der evangelischen Kirche heißt, das „Evangelium zu kommunizieren“. Diese Herausforderung überfordert mich aus Prinzip. Karl Barth brachte das schon vor 100 Jahren auf den Punkt: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.“

Viel radikaler hat das fast 600 Jahre zuvor der Dominikanerpater Johannes Tauler formuliert: „Denn Gott ist nichts von alledem, was du von ihm aussagen kannst. Er ist jenseits aller menschlichen Vorstellung von Form, Wesen oder Gut.“

Damit verbieten sich per definitionem alle Aussagesätze über Gott. Schweigendes Gegenwärtigsein wäre angemessen. Aber wir wollen eben auch singen und beten und die Bibel lesen und Predigten hören und über Gott nachdenken und uns austauschen. Das ist auch nicht unnütz, schon gar nicht verboten, doch wir müssen uns klarmachen: Wir befinden uns im Zustand des Herantastens. Wir ahnen, aber wissen nicht. Wir gehen über dünnes Eis.

Für diese Wanderung möchte ich mich besser zurüsten als für meine Santiago-Pilgerreise. Ich kann jetzt die Zeichen besser deuten, ich fürchte keine Umwege mehr, meine Schuhe sind eingelaufen, aber der Rucksack ist noch immer zu schwer. Aus Pietät und Furcht habe ich manches über lange Strecken mit mir herumgeschleppt. Davon will ich mich nun trennen. Die etwas großspurige Formulierung für dieses Ansinnen ist der Titel dieses Buches: „Requiem für meinen Glauben. Was ich getrost begraben darf und dadurch an Leben gewinne.“

Requiem ist natürlich ein überdimensioniertes Wort, es meint ja die Messe für Tote; doch die etwas pathetische Formulierung verdeutlicht den Ernst der Sache. Feierlich muss es gar nicht zugehen, aber mit Abschied hat es tatsächlich zu tun. Ich mag Beerdigungen, habe selbst an die anderthalbtausend als Trauerredner oder Geistlicher geleitet. Sie haben etwas schwer Erträgliches, aber auch beruhigend Endgültiges an sich. Da ist ein Leben zum Abschluss gekommen, das dennoch oft genug weiterwirkt. Wir bleiben ja von den Verstorbenen geprägt, so oder so, und auf unbeschreibliche Art bleiben wir auch mit ihnen verbunden. Aber tot sind sie eben doch!

Das Requiem für meinen Glauben bestattet nicht mein Vertrauen auf Gott, sondern es begräbt ein paar Sätze, die mir den Glauben erschweren. Auch diese Sätze wirken noch weiter. Um einige trauere ich sogar, muss aber anerkennen: Es ist vorbei. Es gibt Beerdigungen, von denen man erleichtert heimgeht. Andere lassen einen mit Bitterkeit zurück.

Früher hieß es in der Trauerbegleitung, man müsse die Verstorbenen loslassen. Das sagen wir schon lange nicht mehr, denn sie gehören dennoch zu uns. So ist es auch nicht ganz leicht, sich von Glaubenssätzen zu trennen. Aber es ist notwendig.

Wem nahegelegt wurde: „Du kannst das nicht“ oder „Das ist nichts für dich“, der muss sich von diesen Botschaften lösen und sie begraben unter zwei Metern Erde, sonst kann er sich als Mensch nicht entfalten. Auch in meinem Glauben gab es Botschaften, die mich auf der Wanderung zu Gott nicht förderten, sondern hinderten. Sie darf ich getrost begraben. Hiermit werfe ich ein paar Blumen nach.

„Wie du warst vor aller Zeit, so bleibst du in Ewigkeit.“ Diese Zeile aus dem Lied „Großer Gott, wir loben dich“ schmettere ich an Festtagen inbrünstig mit. Aber sie trifft nicht zu. Das heißt, kann sein, Gott ist tatsächlich so unwandelbar, aber ich bin es nicht. Ich verändere mich dauernd, nicht nur mein alternder Körper, sondern auch meine Lebenseinstellung, meine Träume, Wünsche, Sorgen, mein Glauben, meine Beziehung zu Gott.

Vielleicht kennen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, all das, was ich hier beschreibe. Dann sind Sie herzlich eingeladen, mich auf der Wanderung über den Friedhof meiner toten Glaubenssätze zu begleiten. Es ist ein Ort der Auferstehung! Auferstehung bedeutet: Alles wird verwandelt. Leben und Glauben sind möglich, hier und jetzt, weit über das hinaus, was wir üblicherweise als Leben und Glauben bezeichnen. Mitunter wird manche Wegstrecke unangenehm. Ich dämpfe meine Angst, denn ich vertraue: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich“ (Psalm 23,4).

Existiert in Wirklichkeit, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann?
Den Zweifel integrieren statt eliminieren

Angenommen

da wäre kein Himmel, kein Gott,

keine Ewigkeit,

obwohl vom Menschen besungen, bedichtet,

da wären nur die Erde, ein Du und die Zeit.

Angenommen, es wölbte sich um uns

das Nichts,

die Gebete zielten ins Leere,

wir gäben jemand die Ehre, der nicht existiert.

Eine Idee, immerhin, tröstliche Phantasie.

Angenommen also, was bliebe?

Na, Glaube, Hoffnung

und Liebe.

Glaube, dass Glück gelingen kann,

wenn auch nur für Momente.

Hoffnung auf eine gerechte Welt, obwohl

die Erfahrung dagegen spricht.

Liebe schließlich, ich hab sie gespürt.

Es blieben dein Schoß, Gedichte und Wein,

es blieben Blumen und Sonnenschein,

es blieben freilich Krieg und Gewalt,

Naturkatastrophen, Krankheit und Tod.

Die Übel nimmt nämlich jener nicht weg,

der – angenommen – alles erschuf.

Er schweigt.

Wir müssen hier durch, mit oder ohne Segen

von oben. Tun wir so, als wäre da niemand.

Mühen wir uns, edel, hilfreich und gut.

Wenn doch, gibt’s am Ende

eine schöne Überraschung.

Was haltet ihr davon?

Dafür? Dagegen? Enthaltungen? Also:

Angenommen.

Manchmal … da überkommt mich dieses unangenehme Gefühl wie ein seelischer Schüttelfrost: „Mach dir nichts vor, Georg, du betuppst dich selbst: Da ist kein Gott! Nirgends!“

Immerhin, ich darf annehmen, der Zweifel hat den Glauben immer schon begleitet. Er kann nicht ein für allemal überwunden werden. Anselm von Canterbury, Mönch, Bischof und als Philosoph ein exzellenter Denker, wollte im 11. Jahrhundert, mitten im „dunklen Mittelalter“, Gott logisch beweisen. Er formulierte einen sogenannten Gottesbeweis. Dessen Spitzenaussage (hergeleitet aus wirklich beeindruckend tiefschürfenden Überlegungen) lautet: „Das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, existiert in Wirklichkeit.“

Anselms Ansinnen ist anerkennenswert, aber seine Methode ist unpassend. Er spricht vom „Glauben, der nach Einsicht sucht“. Anselms Formel, die in der Theologie bis heute Bestand hat, lautet: „Credo, ut intelligam“ – „Ich glaube, damit ich verstehe.“ Wir drehen das üblicherweise um, wir wollen verstehen, um glauben zu können. Aber daran hindert uns dann der Zweifel.

Zweifel ist ein natürlicher Impuls, eine kritische Reflexion, ob eine Sache plausibel ist, also mit unserem Wissen und unserer Erfahrung übereinstimmt. Im „weltlichen“ Bereich ist der Zweifel völlig normal: Ich habe eine Stunde Zeit eingeplant für die Strecke von Bonn nach Düsseldorf, aber ich bezweifle, dass sie reichen wird. Mir erzählt ein Kind, es habe ein Raumschiff am Himmel gesehen – aber war es nicht doch eher eine Wolke oder eine Luftspiegelung? Ein Gemeindeglied behauptet, spontan von einem Krebsleiden geheilt worden zu sein; war die Diagnose wirklich sicher? Beziehungsweise: Ist das Leiden tatsächlich überwunden? Ich bezweifle das. Man kann an der Treue des Ehepartners, an der Glaubwürdigkeit der Zeugin vor Gericht, an der Ehrlichkeit des Angestellten zweifeln. Wer an sich selbst zweifelt, nimmt bestimmte Defizite an seiner eigenen Person wahr; das kann an mangelndem Selbstbewusstsein liegen, jedoch auch der durchaus angemessene Versuch sein, sich selbst objektiv einzuschätzen.

In der Corona-Krise zweifelten auf einmal viele Leute das ganze System unserer Gesellschaftsordnung an. Ihnen schienen krude Verschwörungstheorien glaubwürdiger zu sein als die schlichte Erkenntnis, dass die Natur böse Überraschungen parat hält (wie eben ein Virus), was dann Regierungen zeitweilig überfordern kann. Und solche, die zuvor selbstverständlich von den Erkenntnissen der Medizin profitierten (sich den Blinddarm herausoperieren, einen Stent in die Adern einsetzen oder an das Dialysegerät legen ließen), die zweifelten nun an der gesamten Wissenschaft. Und das nur, weil auch die Wissenschaft nicht immer mit einer Stimme spricht, sondern den Streit der Deutungen kennt.

Unser Alltagszweifel soll uns vor Enttäuschung und falscher Einschätzung einer Lage bzw. Person bewahren. Wir wollen vertrauen können, wollen wissen, wo wir wirklich dran sind. Lässt sich der Zweifel nicht ausräumen, wirkt er verunsichernd.

Das gilt umso mehr für Glaubenszweifel. Muss ich glauben, dass Maria durch den Heiligen Geist schwanger wurde – und nicht durch Josef? (Mindert eine menschliche Vaterschaft die Bedeutung des Christus?) Ist es eine Sünde, daran zu zweifeln, dass Jesus übers Wasser ging, obwohl es so im Evangelium steht? Was Christinnen und Christen auch tun, es geht immer nur um das Reich Gottes – sind an dieser Behauptung Zweifel erlaubt?

Bereits um das Jahr 1200 berichtet der englische Priester Giraldus Cambrensis, viele Geistliche seiner Zeit glaubten selbst nicht, was sie dem Volk predigten. Der österreichische Historiker Peter Dinzelbacher hat bei Giraldus gelesen, was damals ein Amtsbruder seinen Kollegen spöttisch fragte, „ob dieser denn tatsächlich glaube, dass aus Brot und Wein Fleisch und Blut werde, der Schöpfer Mensch geworden sei, eine Frau ohne Geschlechtsverkehr empfangen habe und nach der Geburt auch noch Jungfrau geblieben sei“. Giraldus zitiert diesen anonymen Zweifler wörtlich: „Das ist doch alles Täuschung, was wir da tun. Unsere Vorfahren haben sich das ja schlau ausgedacht, um den Menschen Angst einzujagen und sie von vorwitzigen Anmaßungen zurückzuhalten.“ Giraldus stellt außerdem fest, „unter uns Geistlichen gäbe es viele, die im Geheimen ebenso dächten“.

Wohlgemerkt, das war vor 800 Jahren! Damals konnten sich allenfalls Kleriker solche Zweifel erlauben, nicht das gemeine Volk. Bei uns heute, mehr als 200 Jahre nach der Aufklärung, ist der Zweifel Allgemeingut geworden. Die ganze Religion steht unter dem Verdacht, Lüge und Betrug zu sein, mindestens eine Art Märchenwelt. Lieber tauchen einige Zeitgenossen in Fantasyuniversen ein, erfüllt von Zauberei und Magie, als dem überlieferten Glauben des Christentums zu vertrauen.

Historiker halten es für eher unwahrscheinlich, dass es im Mittelalter einen echten Atheismus gegeben habe. Der Zweifel habe sich auf Inhalte des Glaubens bezogen, nicht jedoch auf das Fundament, sprich: die Existenz Gottes. Da wären wir wieder bei Anselm von Canterbury, der uns genau diese beweisen wollte. Doch wen kann er damit heute noch überzeugen? Mich nicht.

Mit meinem mystischen Zugang zum Glauben kann ich vieles aus der Bibel, der Theologie, der kirchlichen Praxis und Geschichte als Tradition und Folklore akzeptieren; ich muss es nicht „für wahr halten“, kann damit umgehen, auch wenn ich meine Zweifel hege. Doch wenn ich daran zweifle, ob es Gott überhaupt gibt, geht es ums Ganze.

Ohne Gott ist alles sinnlos, durchfährt es mich spontan. Niemand hört mich. Niemand antwortet. Das Leben hat kein Ziel, nichts reicht über meine Erdentage hinaus. Hier und Jetzt, das ist alles, und was da nicht zum Zuge kommt, hat eben Pech. Was wir „Leben“ nennen ist höchst ungerecht, im besten Fall gedämpft von den Anstrengungen der Gesellschaft, einen sozialen Ausgleich zu suchen und auch den Verlierern Chancen zu eröffnen. Aber die meisten Exemplare des Homo sapiens bleiben auf der Strecke. Das alles bestimmende Prinzip heißt eben Zufall. Und ich frage mich, wozu ich morgens aufstehen soll.

Dabei ist mir durchaus bewusst, wie viele Menschen ein erfülltes Leben führen, ohne an Gott zu glauben – und dabei durchaus glücklich sind. Sie finden Erfüllung in der Familie, dem Beruf, ihrem Hobby, genießen ihr Dasein, sie feiern, haben Sex, machen Urlaub, akzeptieren ihre Endlichkeit und haben ein Problem weniger zu lösen als ich, den die Gottesfrage umtreibt.

Gott ist für mich so selbstverständlich da, wie die Luft, die ich atme. Ganz gleich, wo ich bin, ganz gleich, was ich tue, ich befinde mich in seiner Gegenwart. Ich bin in Gott, Gott ist in mir … in dieses Grundgefühl bin ich im Laufe meiner Glaubenswanderung hineingewachsen. Das klingt vielleicht anmaßend, als wäre ich ein begnadeter Heiliger, was Kokolores ist. Ich habe leider keine passenderen Worte für das Verhältnis von Gott und mir. Gott ist „groß“, ich bin „klein“, Gott macht sich „klein“, das macht mich „groß“ – alle Worte und Bilder bleiben schief.

Doch manchmal, unvermittelt, werde ich aus dieser selbstverständlichen Nähe hinauskatapultiert. Dann ist alles weg. Meine kleine Welt wird zum Vakuum. Alles scheint mir absurd. Alles nur schöner Schein, ach, nicht einmal schön ist er. Dann wird mir angst und bange.

Meine Furcht, Gott könne nur Einbildung sein, ist nun wirklich kein hinreichender Grund für seine Existenz, nach dem Motto: Weil ich Gott brauche, muss es Gott auch geben. Die Argumente der Religionskritiker sind das Ergebnis einer auf der Hand liegenden Überlegung. Feuerbach, Freud, Nietzsche und wie sie alle heißen, haben Recht. Religion hat etwas mit dem Schwanken zwischen kindlicher Bedürftigkeit und menschlicher Selbstüberhöhung zu tun. Eine Welt ohne Gott empfinde ich als kalt, aber ich werde mich schon dran gewöhnen und mich wärmer anziehen. Die Vertröstungsmechanismen funktionieren also weiter.

Ob Gott wirklich ist – diese Frage ist keine Sünde und kein Gedanke des Satans, sondern eine aufrichtige Frage. Ein Blick in den Weltraum macht die Formulierung „Gott wohnt im Himmel“ obsolet. Wenn, dann muss Gott auf andere Art da sein. Sollte die Schöpfung Gottes Werk sein, dann stellt sich die Frage, ob er sein Handwerk beherrscht, denn vollkommen ist das Dasein hier auf der Erde nicht gerade. Kurzum, der Verdacht liegt nahe, dass die gesamte Gotteskonstruktion eine Erfindung sein könnte. „Könnte“ ist Konjunktiv, die Möglichkeitsform. Dass Gott nur eine Idee sein könnte, ist so möglich wie seine Existenz.

Die irisch-englische Schriftstellerin Iris Murdoch schrieb 1970 in ihrem Essay „Das Gute überragt alle anderen Begriffe“ gar nicht zweifelnd: „Wir sind das, was wir zu sein scheinen: vorübergehende, sterbliche Kreaturen, der Notwendigkeit und dem Zufall unterworfen. Das heißt, daß es meiner Ansicht nach keinen Gott im traditionellen Sinn dieses Begriffs gibt; und der traditionelle Sinn ist vielleicht der einzige. Wenn Bonhoeffer sagt, Gott möchte, daß wir so leben, als gebe es keinen Gott, mißbraucht er vermutlich Worte. Ebenso sind die vielen metaphysischen Ersatzbegriffe für Gott – Vernunft, Wissenschaft, Geschichte – falsche Gottheiten. Unser Schicksal kann untersucht werden, aber weder gerechtfertigt noch vollständig erklärt. Wir sind einfach da. Und wenn es irgendeinen Sinn oder ein einheitliches Prinzip im menschlichen Leben gibt – der Traum davon geht uns unablässig im Kopfe herum –, dann ist es von anderer Art und muss innerhalb der menschlichen Existenz gesucht werden, außerhalb deren es nichts [anderes] gibt.“

Diese Klarheit hätte ich gern …, aber ich habe sie nicht. Ich kann nicht behaupten, ich wüsste, Gott ist nur ein philosophisches Konstrukt, um dem Dasein Sinn und Farbe zu verleihen. Ich zweifle am Glauben – und ich zweifle am Zweifel.

Wer seine Vernunft gebraucht, zweifelt. Der Verstand ist eine Gabe Gottes. Abraham Geiger, im 19. Jahrhundert führender Vertreter des liberalen Judentums, sagte einmal: „Durch Erforschung des Einzelnen zur Erkenntnis des Allgemeinen, durch Kenntnis der Vergangenheit zum Verständnis der Gegenwart, durch Wissen zum Glauben.“ Den Verstand – in Glaubensdingen – ungenutzt zu lassen wäre eine Zurückweisung von Gottes Großzügigkeit. Gott hat uns das Leben auf diesem Planeten anvertraut, dafür müssen wir unsere Intelligenz nutzen. Vertrauen macht verletzlich, das ist in jeder liebevollen Beziehung so. Gott macht sich angreifbar.

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