Kitabı oku: «Ein tödliches Spinnennetz», sayfa 2
Als ich Vivien meine Entscheidung mitteilte, schüttelte sie den Kopf. Sie war sich sicher gewesen, dass ich genau das tun würde. Ich sah sie erstaunt an, denn eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass sie mich für völlig verrückt erklärte.
»Du kannst doch gar nicht anders. Es ist wie früher. Du wirst wieder öfter unterwegs sein. Gut, dass ich noch arbeiten muss, sonst würde ich jetzt allein zu Hause sitzen, mon chéri auditor.«
Ich schluckte, sagte aber nichts. Überhaupt, ich war mir gar nicht sicher, ob ich ihren Kommentar wirklich positiv verstehen sollte. Doch an diesem Abend sprachen wir nicht weiter über dieses Thema und genossen bei einem Glas Rotwein das TV-Programm. Die Entscheidung, was wir anschauen, war zu ihren Gunsten ausgefallen und so sahen wir einen Liebesfilm mit allerlei Verwicklungen. Mamma Mia, sah so das reale Leben aus?
DIE SAD-CONNECTION
Das war nun schon zwei Wochen her. Ich saß in einem Büro in der dritten Etage. Einmal in der Woche hatte ich eine Besprechung mit Maier, in der ich ihn über meine Fortschritte auf dem Laufenden hielt. Wenn ich in die zweite Etage ging, um ihn zu treffen, sah ich niemals eine andere Person, höchstens die Empfangsdame, die wie immer sehr reserviert war. Es war so, als gäbe es keine anderen Mitarbeiter. Alle dem Fall zuzuordnenden Ordner waren mir von der Dame in mein Büro gebracht worden. Man hatte mir einen Computer ins Büro gestellt, auf dem die Zugriffe auf den Firmenserver und eine Datenbank bereits eingerichtet waren. Aufzeichnungen außer Haus mitzunehmen war aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt. Heute nun sollte der versprochene junge Mitarbeiter kommen, der mir bei diesem Projekt helfen sollte. Ich war gespannt.
Auf meinem Tisch türmten sich inzwischen Unterlagen und Ordner. Als ich einen der Ordner aufschlagen wollte, fiel ein anderer zu Boden und die enthaltenen Papiere rutschten heraus. Ich ging auf die Knie, um den Ordner und die herausgerutschten Papiere zusammenzusammeln, da klopfte es. Die Tür ging auf und ich sah zuerst zwei lange Beine vor mir. Ich blickte nach oben und eine hübsche junge Frau lächelte mich an. Etwa eins fünfundsiebzig groß, blond, schlank, eine modische Hornbrille auf der Nase. Bevor ich mich aufrichten oder etwas sagen konnte, ging sie ebenfalls in die Hocke und half mir, die Papiere einzusammeln.
»Ich bin Lisa Schuster und soll Sie in Ihrer Analysearbeit unterstützen. Herr Maier schickt mich.«
Sie reichte mir lächelnd die Hand, die ich verdutzt ergriff.
»O. K., herzlich willkommen«, erwiderte ich etwas gedehnt. »Entschuldigen Sie, ich hatte einen jungen Mann erwartet und bin etwas überrascht, stattdessen eine so hübsche …«
»Schon in Ordnung«, meinte sie unbeirrt, »was kann ich denn für Sie tun?«
»Bitte nehmen Sie Platz«, forderte ich sie auf und legte den Ordner und die aufgesammelten Papiere auf den Tisch. »Ich schlage vor, Sie erzählen mir ein wenig über sich und dann erzähle ich Ihnen etwas über mich und über unsere Arbeit. Sind Sie einverstanden?«
Sie lächelte mich an und erklärte, es sei okay, auch wenn sie über mich schon informiert wäre.
Ups, was war das denn?, dachte ich leicht verärgert. Hatte Fritz Maier meine Vergangenheit bereits ausgebreitet? Nun gut, so bat ich sie, etwas über sich zu erzählen, damit ich wüsste, mit wem ich es zu tun habe.
Während sie sprach, sah ich Lisa Schuster an. Unbekümmert, offen, freundlich und mit einer angenehmen Stimme saß sie vor mir. Auf Letzteres legte ich besonderen Wert. Eine Frau mit einer Piepsstimme wäre mir auf die Dauer sicher mehr als nur unangenehm gewesen.
Nun war ich also im Bilde. Mit Lisa Schuster stand mir eine ausgebildete IT-Fachkraft mit Schwerpunkt Datenanalyse, Systeme sowie Datensicherheit zur Seite. Sie beherrschte außer Deutsch und Englisch auch fließend Französisch in Wort und Schrift. Sie war sechsundzwanzig Jahre jung und arbeitete seit ihrem Studium bei der EA. Ihre Gewandtheit in allem, was Informationstechnologien betraf, beeindruckte mich, ihre ausgeprägte Selbstsicherheit auch. Über ihre Wirkung auf das andere Geschlecht war sie sich sicher ebenfalls bewusst. Ich war gespannt, was da noch zutage kommen würde.
Nachdem wir das Persönliche geklärt hatten, stellte ich ihr dar, was ich in meiner bisherigen Analyse des Falles herausbekommen und den Akten entnehmen konnte. Die ersten Ordner enthielten vor allem Beiträge aus Zeitungen, Fachzeitschriften sowie TV-Nachrichten. Diese Quellen bestätigten lediglich, was ich in meiner kurzen Recherche vor Tagen bereits im Internet festgestellt hatte. Darüber hinaus gab es weitere Informationen wie die Namen von Firmen, die in Konkurs gegangen waren. Eine Pharmaziegroßhandlung in Deutschland war erst vor ein paar Monaten in die Zahlungsunfähigkeit geraten. Der geschäftsführende Gesellschafter beging vermutlich Selbstmord, nachdem die Firma ihre Gehälter nicht mehr bezahlen konnte. Die Frage, ob es sich tatsächlich um einen Selbstmord handelte oder ob der Mann durch Einwirkungen Dritter zu Tode gekommen war, konnte nicht ganz sicher beantwortet werden. Sein Vater hatte die Firma Anfang der 1950er mit einer kleinen Apotheke gegründet und er hatte am Ende einen Großhandel mit fast einhundert Mitarbeitern geleitet. Ein paar Details, viele Vermutungen, jedoch keine Fakten oder gar weitere Hinweise auf solche.
Ein paar Tage später hatten wir alles gesichtet. Allen Unterlagen war ein Stempel mit »EA – streng vertraulich!« aufgedrückt worden. Eines konnte man jedoch auf jeden Fall bereits nachweisen: Dass es sehr enge geschäftliche Beziehungen zwischen Lohr und der ConFi-IT Services in der Schweiz gab.
Als ich Fritz Maier von unseren Analysen berichtete, fragte ich ihn, woher all diese Unterlagen stammten. Darauf reagierte er mit einer Gegenfrage.
»Was wollen Sie nun tun? Sie haben nun fast drei Wochen an den Unterlagen gesessen. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«
Ich hörte deutliche Ungeduld aus seinen Worten, und offensichtlich wollte er meine Frage nicht beantworten.
»Nun«, begann ich, »die vielen Unterlagen waren zwar interessant, gaben aber letztlich nicht wirklich viel mehr her, als ich in einem Tag Internetrecherche herausgefunden hatte«, erklärte ich etwas gereizt. »Ein paar Zusammenhänge sind klarer geworden beziehungsweise bestätigt. Wir verfügen jedoch über keinerlei Fakten, die etwas von betrügerischen Aktivitäten beweisen würden. Deshalb benötigen wir eine andere Möglichkeit zu recherchieren, um zu einem Ergebnis zu kommen.«
»Die wäre?«, unterbrach mich Maier, diesmal fast schon mit ungehaltenem Ton, so ganz nach dem Motto »komm endlich auf den Punkt!«
»Wir müssen jemanden bei Lohr unterbringen, um Geschäftsbeziehungen und Geschäftsverläufe kennenzulernen, um an Dokumentationen heranzukommen, und um möglicherweise auf diesem Weg etwas über betrügerische Aktivitäten zu finden.«
Maier zog die Augenbrauen hoch.
»Aha, was stellen Sie sich vor? Wie wollen Sie das anstellen?«, hakte er nach.
»Ich dachte, wir könnten vielleicht Frau Schuster sich dort bewerben lassen. Mit ihren Kenntnissen könnte sie solche Recherchen vornehmen. Außerdem hätte sie sicher sehr gute Chancen, angestellt zu werden«, erklärte ich zurückhaltend.
»Frau Schuster also«, reagierte Maier lächelnd. »Warum nicht Sie selbst?«
Diese Frage hatte ich befürchtet. Mein Versuch, Maier die Idee auszureden, ging gründlich daneben.
»Soso«, Maier schmunzelte. »Ich denke, wir schicken Sie beide dorthin. Frau Schuster wird, wie von Ihnen vorgeschlagen, sich für IT und Sie sich als Berater für Prozessverbesserung und Compliance bewerben. Beides sucht Lohr derzeit, und wir sollten das unbedingt ausnützen. Machen Sie sich so schnell wie möglich auf den Weg. Bewerben Sie sich telefonisch und versuchen Sie für nächste Woche einen Termin in Berlin zu bekommen. Die Sache ist eilig! Es sollte Ihnen bei der Bewerbung niemand zuvorkommen!«, erklärte er in forderndem Ton.
Ich versprach, alles Erdenkliche zu tun, dachte aber insgeheim, dass das ohnehin nicht klappen würde. Doch wider Erwarten bekamen Lisa Schuster und ich bereits am darauffolgenden Montag einen Termin. Um 10 Uhr am Kurfürstendamm in der Zentrale der Lohr & Cie.
Vivien brachte mich zum Flughafen und wünschte mir viel Glück, obwohl sie absolut nicht beglückt darüber war, dass ich nun möglicherweise wochenweise in Berlin sein könnte. Ich spürte deutlich ihre Abneigung diesem Projekt gegenüber.
Der Flug ging um 6.25 Uhr, Ankunft in Tegel um 7.30 Uhr. Kurz vor 10 Uhr machten wir uns getrennt auf den Weg zu Lohr und vereinbarten, uns nach den Gesprächsterminen im Café Einstein an der Gedächtniskirche zu treffen. Den Weg zum Flughafen wollten wir wieder gemeinsam antreten. Mein Termin war um 10 Uhr, Frau Schusters Termin um 11 Uhr. Spätestens um 18 Uhr sollte wieder unser Flieger nach Stuttgart abheben.
Meine Gesprächspartner waren ein Vertreter der Personalabteilung und eine Anwältin der Kanzlei, die Lohr betreute. Das Gespräch verlief sachlich und freundlich. Wirkliches Interesse an meiner Person erkannte ich aus dem Gespräch nicht, während ich meines über Lohr natürlich deutlich unterstrich. Zu meinem eigentlichen Auftrag schwieg ich ebenso wie über mein Privatleben. Als ich Lohr verließ, ging ich nicht davon aus, dass ich die Anstellung erhalten würde. Gegen 14 Uhr saß ich wieder im Café Einstein und wartete auf Frau Schuster. Es wurde 15 Uhr und 16 Uhr. Allmählich wurde ich nervös. Doch dann kam sie. Sie sah müde aus.
»Lassen Sie uns gehen«, murmelte sie, packte mich am Ärmel und zog mich, etwas gequält lachend, unsanft mit.
Nebeneinander im Flugzeug sitzend, erklärte sie leise, wie ihr Bewerbungsgespräch abgelaufen war. Zu Beginn war es ein freundliches Vorstellungsgespräch gewesen. Doch dann wurde sie in die Abteilung geführt, in der sie zukünftig arbeiten sollte, eine Finanzabteilung, die auch für die Systemadministration zuständig war. Dort hatte man nicht nur detailliert ihr Wissen abgefragt, nein, sie wurde förmlich getestet und nebenbei auch über ihr Leben ausgefragt. Offenbar wollte man feststellen, ob sie war, was sie zu sein vorgab. Am Ende entschuldigte man sich für die Überziehung des Termins und offerierte ihr, dass sie bereits am nächsten Montag beginnen könne. Die angebotene Bezahlung bewegte sich im Rahmen dieser Art von Tätigkeit. Sie sollte bereits am nächsten Tag Bescheid geben, damit anderen Bewerbern abgesagt werden könnte.
»Und ich habe es auch noch versprochen!«, lachte sie laut auf, »obwohl ich ein komisches Gefühl dabei habe. Wie war es bei Ihnen?«
»Da bin ich lange nicht so gestresst worden. Ein typisches Vorstellungsgespräch, und man hat mich auf den nächsten Tag vertröstet.«
Am nächsten Morgen bot Lohr mir telefonisch einen Einjahresvertrag mit der Möglichkeit einer Verlängerung an. Die Bezahlung einschließlich eines Firmenwagens war in Ordnung. Ich versprach, dass ich möglichst bald meine Entscheidung mitteilen würde.
Im Büro angekommen, trafen wir Maier. Innerhalb von fünf Minuten war er informiert. Nebenbei ließ er uns wissen, dass wir natürlich keine Einbußen zu unseren EA-Gehältern haben würden. Lisa Schusters Erklärungen schienen ihm nicht zu gefallen, doch nach weiteren Überlegungen entschieden wir dennoch, dass wir uns alsbald in Berlin einnisten und deshalb unsere Zusage an Lohr noch heute Vormittag übermitteln würden.
Es wurden zwei Wohnungen über ein Maklerbüro im Auftrag der EA angemietet, die nicht weit voneinander in Berlin-Mitte lagen. Bereits am nächsten Tag erhielten wir zwei Adressen in der Nähe des Alexanderplatzes. Meine kleine Zweizimmerwohnung lag im dritten Obergeschoss, von wo aus ich gerade noch einen Blick auf den Alexanderplatz werfen konnte. Lisa Schusters Wohnung, keine fünf Minuten entfernt, befand sich in einem renovierten Altbau, ebenfalls im dritten Obergeschoss, mit Ausblick in einen begrünten Hinterhof. Ein Vorteil für uns war die Nähe zu öffentlichen Verkehrsmitteln. So musste ich mich nicht jeden Tag dem Verkehrschaos in der Stadt aussetzen.
Vivien war ganz und gar nicht erfreut, als ich ihr alles erzählte. Es sollte doch ruhiger werden und wir wollten mehr Zeit miteinander verbringen, auch wenn sie selbst ja noch arbeitete. Mit sarkastischem Ton nannte sie mich wieder »Monsieur Auditor«, was sie immer tat, wenn sie sich über mich ärgerte. Nach einem längeren Gespräch meinte sie, dass sie mich dann aber ab und zu in Berlin besuchen würde. Das half, den aufkommenden Konflikt zwischen uns zu entschärfen. Fürs Erste.
Berliner Luft
Montagmorgen, mein erster Arbeitstag bei Lohr. Ein Mann nahm mich in Empfang, der sich als mein Vorgesetzter vorstellte. Kurt Offermann, Hauptabteilungsleiter für »Interne Revision und Prozesse«. Geschätzte fünfundfünfzig bis sechzig Jahre alt, etwas korpulent, auffällige Tonsurglatze, seine Hautfarbe verriet, dass er vermutlich zu Bluthochdruck neigte. Sein Äußeres war korrekt und entsprach dem Klischee eines Büromenschen. Mir fiel auf, dass er immer, wenn er Hochdeutsch redete, in eine höhere Stimmlage wechselte. Und mir schien, als würde er sich damit selbst vergewaltigen. Sein Auftreten erweckte den Eindruck, als wäre er der wichtigste Mann im Haus. Ich war ihm als Compliance Officer zugeordnet. Außer mir als Abteilungsleiter berichteten noch fünf Revisoren direkt an ihn.
Keiner seiner Leute sagte irgendetwas zu mir, als wir das Großraumbüro betraten, weder ein »Willkommen!« noch ein »Hallo!«, einfach nichts.
In meiner Abteilung arbeiteten vier Vollzeitkräfte sowie eine Teilzeitkraft. Kurt Offermann stellte mich in aller Kürze und ohne weitere Erklärungen meinen neuen Mitarbeitern vor. Eine weitergehende Vorstellung sah er anscheinend als nicht erforderlich an. Eine Einweisung in meinen Job hielt er für überflüssig. Ich würde mich schon einfinden. Überhaupt hatte ich die ganze Zeit den Eindruck, als redete er vor allem mit sich selbst.
»Ich lasse Sie jetzt allein, wir treffen uns nachher alle beim Mittagessen in der Kantine. Ihre Leute werden Ihnen den Weg zeigen. Müller, Sie kümmern sich um Ihren neuen Chef!«, rief er einem der Anwesenden zu und verschwand. Müller, ein Mann im braunen Anzug, etwas mitgenommenen Ärmeln und leicht zerschundenen Schuhen, verzog keine Miene. Er wies mit der Hand auf ein Büro.
»Das ist Ihr Büro«, murmelte er, drehte sich um und verzog sich an einen der Schreibtische in dem größeren Büro nebenan. Na, das kann ja heiter werden, dachte ich und ging in den mir zugewiesenen Raum zu meinem neuen Schreibtisch.
»Mamma Mia! Per l’amor del cielo! Um des Himmels willen!« In Gedanken schlug ich die Hände über dem Kopf zusammen. »Das also ist mein großartiges Büro!« Ich sah mich in einen miesen Film oder in ein Büro einer ehemaligen DDR-Verwaltung der 1950er-Jahre zurückversetzt. Der Raum hatte die Größe einer besseren Besenkammer und es roch auch so danach. Staubig, abgestanden, muffig. Es standen darin ein metallener, grau lackierter Aktenschrank, ein Schreibtisch mit nicht mehr so ganz grauer Kunststoffplatte und eine Tischleuchte. Außerdem ein Drehstuhl mit abgewetzter Sitzfläche und eine Grünpflanze, die neben dem Schreibtisch stand und eindeutig schon bessere Zeiten gesehen hatte. An der Wand hing ein Bild, das die Gedächtniskirche bei Nacht zeigen sollte, jedoch so sehr verblasst war, dass man kaum noch etwas erkannte. Der Rahmen war inzwischen gelb wie Saharasand, die ursprüngliche Farbe ließ sich nur mehr erraten. Ohnehin passte das Bild nicht so recht zur Nüchternheit des Raumes. Neben dem Schreibtisch stand ein Papierkorb, der, wie auch der Aschenbecher auf dem Schreibtisch, schon seit Längerem nicht mehr geleert worden war. Der Ausblick aus dem Fenster zeigte die graue Rückwand eines anderen Bürokomplexes, an dessen Außenfassade der Putz in weiten Teilen abbröckelte. Die Tür und der Rahmen zu dem großen Büro meiner Mitarbeiter waren vermutlich irgendwann einmal weiß gewesen und rund um den Türgriff fehlte die Farbe komplett.
Ich öffnete das Fenster, schloss die Tür und setzte mich, um tief durchzuatmen. Das Büro, die Mitarbeiter, Offermann, auch seine Leute, sie alle passten zu dem Eindruck, den mein neues Büro auf mich machte. Verstaubt, überlebt, vertrocknet, ja verwelkt, wie die Pflanze neben mir. Ernüchtert zog ich eine der Schubladen auf.
Akten, schmale Personalakten. Müller, Schulze, Pasternak, Thun und noch mal Müller, diesmal mit einer »2« dahinter – Müller2. Ich las eine Akte nach der anderen – mit wachsender Fassungslosigkeit. Hier waren Personen angestellt, die man bei anderen Abteilungen nicht mehr haben wollte und denen trotzdem, aus für mich unerfindlichen Gründen, niemand kündigte. Sie wurden in dieser Abteilung geparkt wie alte Waggons auf einem dauerhaften Abstellgleis. Niemand hatte die Absicht, sie jemals wiederzuverwenden.
Ich war in einem Personalfriedhof gelandet. Die sogenannten Personalbeurteilungen waren durch die Bank negativ. Das wunderte mich, da alle eine gute bis sehr gute Ausbildung genossen hatten. Die Bewertungen stammten seltsamerweise von Offermann und nicht von meinem Vorgänger. Randnotizen wie »Schläfer«, »unbrauchbar« oder »faul« zeigten darüber hinaus, was er von den Leuten hielt.
Nach einigen Minuten Bedenkzeit rief ich meine neuen Mitarbeiter nach und nach zu mir. Was ich da zu sehen und zu hören bekam, erstaunte und frustrierte mich noch mehr. Die Leute waren unmotiviert, unlustig, uninteressiert und ihre Arbeit, die sie auf Geheiß von Offermann verrichteten, wollte niemand haben. Allein die Tatsache, dass sie mir erklären sollten, woran sie arbeiteten, verursachte ihnen sichtbares Unbehagen, das sich in erkennbarer Ablehnung mir gegenüber spiegelte. Frau Schulze, eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern, brachte es glasklar auf den Punkt. Diese Abteilung war unnötig und unsinnig, zu nichts nütze und von niemandem gebraucht. Sie hatte mich weder begrüßt, noch verabschiedete sie sich nach dem Gespräch. Sie verließ einfach wortlos mein Büro.
Nach diesen »Gesprächen« konnte ich mir zwar noch kein Urteil über meine neuen Mitarbeiter erlauben, doch ich dachte aufgrund ihrer Ausbildung, dass sie keineswegs unfähig oder dumm sein konnten. Aus unerfindlichen Gründen durften sie ihre Befähigung nicht unter Beweis stellen. Weshalb sollten sie also motiviert sein?
Müller kam, um mich zum Essen abzuholen. Ich atmete tief durch und folgte ihm, nicht jedoch ohne den vollen Aschenbecher in den ebenfalls vollen Abfalleimer zu werfen und diesen dann vor die Bürotür zu stellen, in der Hoffnung, dass er dann auch irgendwann einmal geleert werden würde. Für den Raum, der sich ab heute mein Büro nannte, musste ich auch dringend eine Reinigung organisieren.
Mit Kurt Offermann und seinen Mitarbeitern marschierten wir in die Kantine. Es gab zweierlei Essen, einen Eintopf oder Currywurst mit Pommes. Ich entschied mich für Letzteres, da hier die Identifikation, was sich tatsächlich auf dem Teller befand, noch möglich war. Die Konversation verlief flach und hatte wenig Interessantes zu bieten. Man sprach über das Wetter oder über das letzte Spiel der Hertha, in Berlin nur »Alte Dame« genannt. Das war abgeleitet von dem zur Gründerzeit populären Vornamen Hertha. Dabei unterhielten sich vor allem Offermanns Leute miteinander. Es war unübersehbar, dass sie auf meine Mitarbeiter herabschauten, und die eine oder andere aus meiner Sicht unnötige herablassende Bemerkung von Offermann unterstrich diesen Eindruck.
Es verwunderte mich deshalb nicht, dass nach dem Essen keine weitere Unterhaltung zustande kam und alle auseinanderstrebten. Offermann bot mir an, mich zu einem Kaffee in die Cafeteria nebenan einzuladen. Ich dankte und begleitete ihn. Er redete die ganze Zeit und das Ergebnis ernüchterte mich noch mehr. Stolz erklärte er mir, dass er doch tatsächlich überlegt hatte, meine Abteilung zu schließen. Dann aber hätte er nur noch seine eigenen fünf Mitarbeiter gehabt und damit im Vergleich zu anderen Managern deutlich weniger Leute, die an ihn berichteten. Die Gefahr hätte bestanden, dass seine Abteilung einer anderen Ebene zugeschlagen würde. Deshalb hätte er die Neubesetzung meines Jobs durchgesetzt.
Ich sah ihn ungläubig an. Dieser Mann hatte mir eben erklärt, dass er sich meine Leute, meine Abteilung, nur als Rechtfertigung für seine eigene Position hielt. War seine Geltungssucht so groß, dass er noch nicht einmal Hemmungen hatte, sich mir gegenüber zu erklären oder war ihm das einfach nur egal, was ich davon hielt?
Zurück in meinem Büro, saß ich erst mal einige Minuten vor dem Schreibtisch, blickte aus dem Fenster und starrte auf die brüchige Hauswand gegenüber. Eigentlich müsste mich das alles nicht weiter berühren. Für niemanden da draußen trug ich eine Verantwortung. Doch ohne diese Leute würde ich hier wenig erreichen. Ich musste sie also gewinnen, irgendwie und das bald. Kurz darauf erhielt ich mit der Erklärung, dass mein Dienstwagen in der Tiefgarage stehen würde, einen Autoschlüssel und die Papiere dazu. Ich sah mir den Kfz-Schein an und staunte. Sie hatten mir einen neuen 3er-BMW zur Verfügung gestellt. Na, wenigstens etwas. Ich schob den Anfangsfrust zur Seite und überlegte, was zu tun sei.
Meine Idee war, möglichst schnell in verschiedene Abteilungen hineinzukommen, um deren Abläufe und Verantwortlichkeiten kennenzulernen. Nach allem, was ich nun wusste, sollten sich meine Mitarbeiter ja gemäß den eigenen Erklärungen gut auskennen. Nur, wie sollte ich das hinbekommen?
Gegen Abend sah ich durch meine offenstehende Bürotür, dass einer nach dem anderen meiner Leute das Büro verließ. Keiner sah zu mir hinüber, niemand sagte ein Wort. Sie gingen einfach und ich sah ihnen wortlos nach. Das musste anders werden.
Am nächsten Morgen betrat ich das Großraumbüro, begrüßte jeden Einzelnen und erkundigte mich nach dessen Befinden. Erstaunt sahen sie mich an. Ihre Reaktion war jedoch zurückhaltend bis abweisend. Sie vermieden, mich anzusehen, geschweige denn zu antworten. Nur Frau Schulze sah mich an. Ihr Blick war fragend hart, doch sie sagte genauso wenig wie die anderen. Ein paar Stunden später hatte ich einen Termin bei Offermann. Mein Versuch, ihm einen Vorschlag über den zukünftigen Einsatz meiner Leute, natürlich behutsam, zu unterbreiten, scheiterte kläglich. Als ich ihm erklärte, dass sie damit die Betriebsabläufe für Lohr verbessern könnten, lief sein Gesicht dunkelrot an und seine Stimme wurde schrill. Und er wurde laut, sehr laut. Dabei griff er sich mit beiden Händen an sein Revers und wippte auf den Füßen vor und zurück. Von Veränderungen wollte er nichts hören und ließ auch keinen Zweifel daran, dass er solche Bestrebungen zu verhindern wisse. Stattdessen erzählte er mir, dass in den nächsten Tagen ein Firmenfest stattfinden würde und ich solle mir den Abend dafür freihalten. Seine Ausführungen beendete er mit einer sanften Drohung. Meine Leute seien nur Zahlen in einer Statistik, und das sollte auch so bleiben. Eine Änderung des »Status quo« sei inakzeptabel und ich sollte möglichst schnell erkennen, dass jede andere Vorgehensweise für mich persönlich die Zukunft bei Lohr sehr übersichtlich darstellen würde.
Ich erkannte, dass er den Vorschlag wie eine persönliche Gefährdung empfand. Doch wenn ich etwas erreichen wollte, musste ich dranbleiben. So ging ich zurück und überarbeitete mein Vorhaben. Der weitere Tag verlief vergleichsweise unspektakulär, und ehe ich mich versah, saß ich wieder allein im Büro.
Um mich ein bisschen abzulenken, fuhr ich am Abend mit dem neuen Wagen hinaus aus der Stadt und machte einen Spaziergang am Wannsee. Ich nahm mir vor, zu einem späteren Zeitpunkt, wenn mich Vivien besuchen würde, mit ihr über die Kanäle durch die Stadt zu schippern.