Kitabı oku: «Indiana», sayfa 11
Sie hing sich mit dem Schrecken eines Kindes, das nicht allein gelassen sein will, an ihn und schleppte sich auf den Knien fort, um ihm zu folgen,
Er wollte die Tür verschließen; aber ehe er sie mit der Hand erreichen konnte, öffnete sie sich und Laura von Nangy trat ein. Sie schien weniger erstaunt als verletzt. Ohne ein Wort laut werden zu lassen, bückte sie sich ein wenig, um die Frau, die halb ohnmächtig zur Erde gesunken war, zu betrachten.
»Frau Delmare,« sagte sie mit einem kalten, verächtlichen Lächeln, »es hat Ihnen beliebt, drei Personen in eine sonderbare Lage zu versetzen; doch danke ich Ihnen, mir die am wenigsten lächerliche Rolle zugeteilt zu haben, und ich entledige mich ihrer, indem ich Sie bitte, sich zu entfernen.«
Der Unwille gab Indiana die Kraft wieder; sie erhob sich elastisch und sagte zu Raymon:
»Wer ist denn diese Frau und mit welchem Rechte gibt sie mir Befehle in deinem Hause?«
»Sie sind hier in meinem Hause, Frau Delmare,« erwiderte Laura.
»Aber sprechen Sie doch, mein Herr,« rief Indiana, krampfhaft den Arm des Unglücklichen schüttelnd, »sagen Sie mir doch, wer das ist.«
»Es ist meine Frau,« antwortete Raymon mit jammervoller Miene.
»Ich verzeihe Ihrer Unwissenheit,« sagte Frau von Ramière mit einem grausamen Lächeln. »Wären Sie an dem Orte geblieben, den die Pflicht Ihnen anweist, so hätten Sie bereits eine Verlobungskarte von Herrn von Ramière erhalten. Nun, Raymon,« fügte sie in einem Tone höhnischer Freundlichkeit hinzu, »deine Verlegenheit dauert mich, ich denke, du wirst jetzt einsehen, daß das Leben etwas mehr Klugheit erfordert. Ich überlasse dir die Sorge, dieser abgeschmackten Szene ein Ende zu machen. Ich würde darüber lachen, wenn du nicht so entsetzlich unglücklich deswegen aussähest.«
Mit diesen Worten zog sie sich zurück, sehr zufrieden mit der Würde, die sie bewahrt hatte, und insgeheim über die überlegene Stellung triumphierend, welche sie durch diesen Vorfall über ihren Gatten erlangt hatte.
Als Indiana wieder zum Bewußtsein kam, befand sie sich allein in einem verschlossenen Wagen auf dem Wege nach Paris.
* * *
Achtundzwanzigstes Kapitel
An der Barriere hielt der Wagen; ein Diener, den Indiana schon früher bei Raymon gesehen hatte, öffnete den Schlag und fragte, wohin er die gnädige Frau bringen sollte. Indiana nannte ihm mechanisch das Hotel garni, in welchem sie sich zuletzt aufgehalten hatte. Als sie dahin kam, sank sie auf einen Stuhl und blieb so bis zum nächsten Morgen, ohne daran zu denken, sich ins Bett zu legen. Sie wünschte zu sterben, war aber zu gebrochen, zu schwach, um sich töten zu können. Sie glaubte, es sei unmöglich, nach solch entsetzlichen Leiden weiterleben zu können und der Tod würde von selbst kommen, sie zu befreien. So blieb sie den ganzen folgenden Tag, ohne Nahrung zu sich zu nehmen, ohne die wenigen Dienstanerbietungen, die ihr gemacht wurden, zu beachten. Indiana befand sich in einer Lage, wie sie für eine verlassene Frau kaum schrecklicher gedacht werden kann. Tausende von Meilen von jedem teilnahmsvollen Herzen entfernt zu sein, sich ohne Geldmittel in dem großen Paris wie in einer wasserlosen Wüste zu finden, in dem ganzen vergangenen Leben nicht eine Erinnerung zu haben, die nicht vergiftet oder befleckt wäre, in der ganzen Zukunft nicht eine einzige Hoffnung vor sich zu sehen, welche über die furchtbare Gegenwart hinweghelfen könnte, – das ist der äußerste Grad des Elends und der Verlassenheit. Indiana versuchte nicht, gegen ein zerrissenes, vernichtetes Leben zu kämpfen, sie ließ Hunger, Fieber und Schmerz über sich ergehen, ohne eine Klage auszustoßen, ohne eine Träne zu vergießen, ohne einen Versuch zu machen, eine Stunde früher zu sterben, eine Stunde weniger zu leiden.
Am Morgen des zweiten Tages fand man sie starr vor Kälte, mit blauen Lippen, aufeinandergepreßten Zähnen und erloschenen Augen am Boden liegen; doch war sie nicht tot. Die Besitzerin des Hauses untersuchte die Schubfächer des Sekretärs, und als sie nur sehr wenig Geld darin fand, überlegte sie, ob sie diese Unbekannte, die gewiß die Kosten einer langwierigen, schweren Krankheit nicht aufbringen konnte, nicht lieber ins Hospital schicken sollte. Doch da sie eine sehr »menschenfreundliche« Frau war, ließ sie die Kranke zu Bette bringen und schickte nach einem Arzt, um zu hören, ob die Krankheit länger als zwei Tage dauern könnte. Es kam einer, den man nicht gerufen hatte.
Als Indiana die Augen öffnete, fand sie ihn an ihrem Bett. Sein Name braucht nicht erst genannt zu werden.
»Ach, bist du es? Bist du es?« rief sie und warf sich an seine Brust. »Du bist mein guter Engel! aber du kommst zu spät, ich kann dich nur noch sterbend segnen.«
»Du wirst nicht sterben, liebe Freundin,« antwortete Ralph bewegt, »das Leben kann dir noch lächeln. Die Gesetze, die sich bisher deinem Glücke entgegenstellten, werden jetzt deiner Neigung keinen Zwang mehr auferlegen. Wohl hätte ich gewünscht, den dämonischen Zauber zu zerstören, mit dem ein Mensch, den ich weder liebe noch achte, dich umgarnt hat; doch das steht nicht mehr in meiner Macht. Das Schicksal, das dich vereinsamt in meine Arme wirft, legt mir gegen dich die Pflichten eines Vormundes und Vaters auf. Ich komme, dir anzukündigen, daß du frei bist und dein Geschick mit dem des Herrn von Ramière vereinigen kannst. Delmare ist nicht mehr.«
Tränen rollten langsam über Ralphs Wangen, während er sprach. Indiana fuhr jäh empor und rang ihre Hände in Verzweiflung.
»Mein Gatte ist tot? Ich habe ihn getötet! Und du sprichst mit mir von Zukunft und Glück, als wenn es dies für ein Herz noch gäbe, das sich verabscheut und verachtet! Wisse denn, Gott ist gerecht und ich bin gerichtet! Herr von Ramière ist verheiratet.«
Sie sank erschöpft in die Arme ihres Vetters. Mehrere Stunden vergingen, ehe beide das Gespräch wieder aufnehmen konnten.
»Dein Bewußtsein ist getrübt,« sagte Ralph in sanftem Tone, »aber du kannst dich beruhigen. Delmare ist aus dem Schlummer nie wieder erwacht, in dem du ihn verließest, er hat deine Flucht nicht erfahren. Ein Schlagfluß hat ihn getroffen.«
»Dann waren die Worte, die er an mich richtete, seine letzten,« sagte Indiana. »Im Augenblick, wo ich ihn für immer verließ, sprach er im Schlafe und sagte: ›Dieser Mensch wird dich verderben.‹ Diese Worte werden hier fortleben,« fügte sie hinzu, indem sie die Hand auf ihr Herz legte.
»Als ich die Kraft hatte, meine Augen und meine Gedanken von dem Toten abzuwenden,« fuhr Ralph fort, »dachte ich an dich; an dich, Indiana, die jetzt frei war. Ich fürchtete die Wirkung einer zu plötzlichen Nachricht auf dich und wartete am Eingange des Hauses, in dem Glauben, du würdest bald von deinem Morgenspaziergang zurückkommen. Ich wartete vergebens. Ich will nicht von meiner Angst, nicht von meinen Nachforschungen, von meinem Schrecken sprechen, als ich Ophelia zerschmettert am Ufer fand, wohin die Wogen sie geworfen hatten. Ach, ich suchte lange in der Befürchtung, deine Leiche auch finden zu müssen, denn ich dachte, du hättest dir den Tod gegeben, und drei Tage glaubte ich, ich hätte nichts mehr zu lieben auf der Erde. Doch bald verbreitete sich in der Kolonie das Gerücht, daß du die Flucht ergriffen hättest. Ein Schiff, das in der Rhede einlief, war im Kanal von Mosambique der Brigg »«Eugène« begegnet; die Mannschaft war auf dein Schiff hinübergekommen. Ein Passagier hatte dich erkannt und in weniger als drei Tagen wußte die ganze Insel von deiner Flucht.
Ich verschone dich mit den abgeschmackten und kränkenden Gerüchten, zu denen das Zusammentreffen deiner Flucht mit dem Tode deines Gatten Anlaß gab. Mir blieb auf Erden nur noch die einzige Pflicht zu erfüllen, dir Hilfe zu bringen, wenn du sie brauchtest. Ich reiste kurze Zeit nach dir ab; aber die Überfahrt war sehr stürmisch und erst seit acht Tagen bin ich in Frankreich. Mein erster Gedanke war, zu Herrn von Ramière zu eilen, um mich nach dir zu erkundigen. Aber der Zufall führte mich mit seinem Diener zusammen, der dich eben hieher gebracht hatte. Ich fragte ihn nur nach deiner Wohnung und kam in der Überzeugung hieher, dich nicht allein zu finden.«
»Allein! Allein! Schändlich verlassen!« rief Indiana. »Aber sprechen wir nicht mehr von diesem Menschen! sprechen wir niemals mehr von ihm! Ich kann ihn nicht mehr lieben, denn ich verachte ihn; aber ich will auch nicht daran erinnert werden, daß ich ihn geliebt habe, das hieße, auf meine letzten Augenblicke Schande und Vorwürfe häufen. O, sei mein tröstender Engel, du, der in allen schweren Stunden meines verfehlten Lebens mir die Freundeshand reichte. Erfülle erbarmenvoll deine letzte Sendung, sprich Worte der Zärtlichkeit und der Verzeihung, damit ich ruhig sterbe.«
Sie hoffte wirklich, zu sterben; aber der Kummer stählt die Lebenskraft. Indiana war nicht einmal gefährlich krank, sondern versank nur in einen Zustand völliger Gleichgültigkeit.
Ralph suchte sie zu zerstreuen; er führte sie nach Touraine und umgab sie mit allen Annehmlichkeiten des Lebens. Als er aber alle Hilfsmittel erschöpft hatte, ohne daß er auf diesem düsteren, gleichgültigen Gesicht einen schwachen Strahl der Heiterkeit hervorlocken konnte, beklagte er die Ohnmacht seiner Tröstungen und warf sich bitter vor, wie ungeschickt er in seiner Liebe sei.
Eines Tages fand er sie niedergeschlagener als je. Er wagte nicht, mit ihr zu sprechen, und setzte sich in traurigem Schweigen zu ihr. Da sagte Indiana, zärtlich seine Hand drückend:
»Ich tue dir sehr weh, armer Ralph, und du mußt viel Geduld mit mir haben. Die unsinnigste Anforderung könnte von der Freundschaft nicht mehr verlangen, als du für mich getan hast. Jetzt überlaß mich meinem Schicksal und beflecke dein reines, heiliges Leben nicht durch die Berührung mit einem verfluchten. Suche anderwärts das Glück, das in meiner Nähe nicht zu finden ist.«
»Ich gebe es wirklich auf, dich zu heilen, Indiana,« antwortete er, »aber ich werde dich nie verlassen, selbst wenn du mir sagst, daß ich dir lästig bin, denn du bedarfst noch der Pflege. Doch höre mich. Ich habe dir ein Heilmittel vorzuschlagen, das ich für das äußerste Unglück aufgespart habe, das aber untrüglich ist.«
»Ich kenne nur ein Mittel gegen den Kummer,« antwortete sie, »es ist Vergessenheit. Wenn mein Wille allein ausreichte, dir für deine Aufopferung dankbar zu sein, so wäre ich schon jetzt heiter und ruhig, wie in den Tagen unserer Kindheit. Glaube mir, Freund, ich finde keine Lust daran, mein Übel selbst zu nähren und meine Wunde offenzuhalten; weiß ich denn nicht, daß alle meine Leiden auf dich zurückfallen? Ach, ich möchte vergessen, genesen können, aber ich bin nur eine schwache Frau, Ralph, sei geduldig und halte mich nicht für undankbar.«
Sie brach in Tränen aus.
»Höre mich an, teure Indiana,« entgegnete Ralph, ihre Hand ergreifend, »das Vergessen steht nicht in unserer Macht; ich kann geduldig leiden, aber dich leiden zu sehen, geht über meine Kräfte. warum aber wollen wir gegen ein eisernes Geschick ankämpfen? Der Gott, den wir, du und ich, anbeten, hat den Menschen nicht zu so viel Elend bestimmt, ohne den Trieb in ihn zu legen, sich diesem Elend zu entziehen. Hierin liegt das Mittel gegen alle Leiden, und dieses Mittel ist der Selbstmord.«
»Schon oft fühlte ich mich dazu versucht,« antwortete Indiana nach kurzem Stillschweigen, »aber ein frommes Bedenken hielt mich davon zurück. Inzwischen hat mich das Unglück eine andere Religion gelehrt, als die, welche Menschen lehren. Als du zu mir kamst, war ich entschlossen, Hungers zu sterben, aber du batest mich, zu leben, und ich hatte das Recht nicht, dir dieses Opfer zu, verweigern. Jetzt hält mich nur noch dein Leben, deine Zukunft, was sollst du allein auf der Erde, armer Ralph? Aber ich werde vielleicht genesen. Ja, Ralph, ich werde das Mögliche tun. Gedulde dich nur noch ein wenig, bald vielleicht werde ich lächeln können; ich will wieder ruhig und heiter werden, um dir dieses Leben zu widmen, das du dem Unglück abgerungen hast.«
»Nein, liebe Freundin,« erwiderte Ralph, »ich werde ein solches Opfer nie annehmen, warum solltest du dich an eine verhaßte Zukunft ketten? Nur, um sie mir angenehm zu machen? Glaubst du, ich wäre fähig, sie zu genießen, wenn ich fühle, daß dein Herz keinen Anteil daran nimmt? Nein, bis zu diesem Grade bin ich nicht Egoist. Seit langer Zeit schon bin ich des Lebens überdrüssig, ich habe nicht mehr die Kraft, es ohne Bitterkeit und ohne Gottlosigkeit zu ertragen, verlassen wir es gemeinsam, Indiana,, kehren wir zu Gott zurück, der uns in dieses Land der Prüfung, in dieses Tal der Tränen verbannt hat, aber uns gewiß nicht verstoßen wird, wenn wir wund und zerschlagen seine Gnade, sein Mitleid anflehen. Die Taufe des Unglücks hat unsere Seelen hinreichend geläutert; geben wir sie dem zurück, der sie uns geschenkt hat.«
Dieser Gedanke beschäftigte Ralph und Indiana mehrere Tage und nach Verlauf derselben beschlossen sie, sich gemeinsam den Tod zu geben, es handelte sich jetzt nur noch darum, auf welche Art.
»Das ist eine wichtige Frage,« sagte Ralph; »doch habe ich schon daran gedacht, was wir begehen wollen, ist nicht die Eingebung einer augenblicklichen Geistesverwirrung, sondern eine wohlüberlegte Tat. wir müssen sie mit der Sammlung vollziehen, wie der Katholik die Sakramente begeht. Für uns ist das Weltall der Tempel, wo wir Gott verehren. Hier, in diesem von lasterhaften Menschen wimmelnden Lande, im Schoße dieser Zivilisation, welche Gott leugnet oder ihn verketzert, würde ich mich stets beengt, zerstreut und niedergedrückt fühlen. Ich möchte freudig sterben, mit heiterer Stirn, die Augen zum Himmel erhoben. Ich will dir den Ort nennen, wo der Selbstmord mir in seiner edelsten, erhabensten Gestalt erschienen ist. Am Rande eines Abgrundes auf der Insel Bourbon, oberhalb jenes Wasserfalles, welcher sich durchsichtig in die einsame Schlucht von Bernica hinabstürzt, dort haben wir die seligsten Stunden unserer Kindheit zugebracht; dort habe ich später die bittersten Kümmernisse meines Lebens beweint; dort habe ich beten gelernt; dort möchte ich mich in einer jener schönen Nächte unseres Klimas in das reine Gewässer stürzen und in das frische, blumengeschmückte Grab steigen, welches aus der Tiefe des grünenden Schlundes heraufwinkt.«
»Ich willige ein,« antwortete Indiana, ihre Hand in die Ralphs legend. »Stets hat mich seit dem Tode meiner armen Noun eine unbesiegliche Macht zum Wasser hingezogen. Wie sie zu sterben, wäre die Buße für ihren Tod, den ich verschuldet habe.«
»Und dann,« sagte Ralph, »eine Seereise ist die beste Vorbereitung. Losgerissen von der ganzen Welt, immer bereit, furchtlos das Leben zu verlassen, werden wir mit entzücktem Auge dem Schauspiele der entfesselten Elemente zusehen. Komm, Indiana, schütteln wir den Staub dieses undankbaren Landes von unseren Füßen. Hier unter Raymons Augen sterben, das würde wie eine kleinliche, feige Rache erscheinen. Überlassen wir es Gott, diesen Menschen zu züchtigen, bitten wir ihn lieber, diesem undankbaren, vertrockneten Herzen die Schätze seines Erbarmens zu öffnen.«
Sie reisten ab. Die Goelette »La Nahandove« trug sie schnell und leicht in ihr bereits zweimal verlassenes Vaterland. Nie war eine Überfahrt glücklicher. Es schien, ein günstiger Wind sei gesandt, um diese beiden so lange auf den Klippen des Lebens herumgeworfenen Unglücklichen in den Hafen der Ruhe zu bringen, während der dreimonatlichen Fahrt befestigte die stärkende Seeluft Indianas geschwächte Gesundheit; die Ruhe zog wieder in ihr gequältes Herz. Sie vergaß ihr vergangenes Leben, ihre Stirn wurde wieder heiter und ein Strahl der Gottheit schien in ihre blauen, fast melancholischen Augen übergegangen zu sein.
Eine ähnliche Veränderung ging in Ralphs innerem und äußerem Wesen vor; dieselben Ursachen hatten bei ihm fast dieselben Wirkungen. Sein schon lange im Schmerz erkaltetes Herz erwärmte sich in der belebenden Glut der Hoffnung. Seine Worte nahmen das treue Gepräge seiner Gefühle an und erst jetzt lernte Indiana seinen wahren Charakter kennen. Die heilige, kindliche Vertraulichkeit, die sie einander näher brachte, nahm dem einen seine peinliche Schüchternheit, der anderen ihre ungerechten Vorurteile. Zu gleicher Zeit schwand in Indiana die schmerzliche Erinnerung an Raymon, sie erblich vor Ralphs bisher ungekannten Tugenden, vor seiner erhabenen Reinheit. Je mehr Ralph in Indianas Augen wuchs, desto tiefer sank Raymon in ihrer Meinung, bis endlich die fortdauernde Vergleichung dieser beiden Männer jede Spur ihrer blinden, unglücklichen Liebe in ihrem Herzen vernichtet hatte.
Neunundzwanzigstes Kapitel
An einem der ewigen Sommerabende, deren die Insel Bourbon sich erfreut, wanderten zwei Passagiere der Goelette »La Nahandove«, die vor drei Tagen angekommen war, der Schlucht von Bernica zu. Der Mond, kaum aus den dunklen Fluten des Ozeans aufgetaucht, zog einen langen Silberstreif auf dem Wasser, aber sein Licht drang noch nicht in die Schlucht und in dem See spiegelten sich nur zitternd einige Sterne. Die auf dem Abhange des oberen Gebirges zerstreuten Zitronenbäume waren noch nicht mit den bleichen Diamanten bedeckt, mit welchen der Mond ihre spröden, glatten Blätter besäet. Nur auf dem Wipfel einiger gigantischen Palmen, deren schlanke Stämme sich hundert Fuß über den Boden erhoben, versilberten sich die Blätter im Glanze des Mondlichtes.
Die Seevögel schwiegen in den Felsspalten, einige blaue Tauben, hinter den Gipfeln der Berge verborgen, ließen ihr lockendes Gurren hören. Schöne Käfer schwirrten wie lebendige Edelsteine in den Kaffeebäumen und das eintönige Brausen des Wasserfalles schien geheime Gespräche mit dem Echo der Ufer zu führen.
Die beiden einsamen Wanderer schritten einen Felsensteig empor und kamen endlich oberhalb der Schlucht an den Ort, wo der Bergstrom seine weiße, leichte Dunstsäule in den Abgrund stürzt. Sie befanden sich auf einer kleinen Plattform, die der Ausführung ihres Vorhabens besonders günstig war. Einige an Raphiastengeln hängende Lianen bildeten hier eine natürliche Laube, die sich über den Wasserfall neigte. Mit bewundernswürdiger Kaltblütigkeit schnitt Sir Ralph einige Äste hinweg, die den Sprung hätten hindern können, dann ergriff er Indiana bei der Hand und ließ sie auf einen bemoosten Felsen niedersitzen,
»Ich gedenke, diese große Stunde der Andacht und dem Gebete zu weihen,« nahm Ralph das Wort. »Ich sage nicht, daß wir uns mit dem Ewigen aussöhnen müßten, das hieße den Abstand unterschätzen, der uns von seiner erhabenen Macht trennt; aber wir sollten uns mit den Menschen versöhnen, die uns Leiden bereitet haben, und dem Abendwind, welcher nach Nordwesten weht, Worte der Verzeihung für diejenigen anvertrauen, welche dreitausend Stunden von uns entfernt sind.«
»Ich fühle, daß ich ohne Selbstüberwindung verzeihen kann,« sagte Indiana, »daß mein Herz weder Haß noch Liebe empfindet. Großer Gott, Du siehst in den geheimsten Grund meiner Seele; Du weißt, daß alle meine Gedanken Dir zugewendet sind.«
Ralph setzte sich jetzt zu Indianas Füßen und begann mit lauter Stimme zu beten. Der Todesstunde nahe, schüttete er sein ganzes Herz aus, die Fesseln, die es gedrückt hatten, lösten sich, die innere Glut, die er unter der Maske eisiger Kälte getragen, war jetzt kein Verbrechen mehr, der Schleier, welcher so viel Tugend, Seelengröße und Selbstverleugnung verborgen hatte, sank herab, und der Geist dieses Mannes erhob sich zur Höhe. Zum erstenmal gehorchte das Wort seinen Gedanken und der unbedeutende Mensch, der während seines ganzen Lebens kaum etwas gesprochen hatte, was sich über das Gewöhnliche erhob, entfaltete in seiner letzten Stunde eine überzeugende Beredsamkeit, wie Raymon sie nie besessen hatte. Für Ralph war jetzt der Augenblick da, er selbst zu sein, vor seinem Richter die Verkleidung abzulegen, welche die Menschen ihm aufgezwungen hatten. Der Ralph, den Indiana gekannt hatte, lebte nicht mehr, und der, den sie jetzt hörte, schien ihr ein Freund, den sie einst in ihren Träumen gesehen hatte, und der erst jetzt, am Rande des Grabes, für sie zur Wirklichkeit wurde. Sympathisch strömten die Gedanken und Empfindungen, die er aussprach, auf sie über, und Tränen frommer Begeisterung fielen aus ihren Augen auf Ralphs Locken.
Jetzt trat der Mond über die Wipfel der großen Palmbäume und sein Strahl fiel auf Indianas weißes Gewand und ihr langes, auf die Schultern herabfallendes Haar.
Ralph kniete vor ihr nieder.
»Jetzt, Indiana,« sagte er feierlich, »mußt du mir alles Leid verzeihen, das ich dir angetan habe, damit ich mir es selbst verzeihen kann.«
»Ach,« antwortete sie, »was habe ich dir denn zu verzeihen, armer Ralph? Muß ich dich nicht im Gegenteil in der letzten Stunde meines Lebens segnen?«
»Ich weiß nicht, bis zu welchem Grade ich strafbar war,« begann Ralph wieder, »aber während des langen und furchtbaren Kampfes mit einem Geschick war ich es gewiß oft genug, wenn auch wider meinen Willen.«
»Von welchem Kampfe sprichst du?« fragte Indiana.
»Das eben ist das Geheimnis meines Lebens,« antwortete er, »was ich dir, ehe ich sterbe, enthüllen muß. Waffne dich mit Geduld, denn ich habe eine lange Geschichte zu erzählen, Indiana, es ist die Geschichte meines Lebens.«
»Kenne ich sie denn nicht bereits? Lebten wir nicht immer beisammen?«
»Nein, du kennst sie nicht, du kennst keinen Tag, keine Stunde davon,« sagte Ralph traurig, »wann hätte ich sie dir denn erzählen können? Der Himmel wollte, daß der einzige Augenblick, der zu diesem Geständnis geeignet war, der letzte unseres Lebens sein solle. So höre denn, Indiana: Die Natur beging einen sonderbaren Fehler, als sie mir ein glühendes Herz gab; sie hatte auf mein Gesicht eine Steinmaske gedrückt und auf meine Zunge ein schweres Gewicht gelegt, sie hatte mir versagt, meine Empfindungen durch Blicke und Worte auszudrücken. Man beurteilte mich nach dem äußeren Scheine. Mit Abscheu entfernte meine Mutter mich von ihrem Busen, weil mein Gesicht ihr nicht zulächeln konnte. In dem Alter, wo man einen Gedanken kaum von unbewußtem Instinkt unterscheiden kann, wurde ich schon ein Egoist genannt.
»Da war es entschieden, daß niemand mich lieben würde, denn ich konnte niemandem meine Liebe ausdrücken. Man stieß mich fast aus dem väterlichen Hause und zwang mich, wie ein armer Vogel auf den Felsenklippen zu leben. Du weißt, Indiana, was für eine traurige Kindheit mir beschieden war. Jedoch der Himmel sandte mir einen Trost, eine Hoffnung. Du tratest in mein Leben, als wenn du für mich geschaffen worden wärest. Armes Kind! Du warst verlassen wie ich; ohne Liebe und ohne Schutz, schienst du mir bestimmt zu sein. Zehn Jahre lang warst du mein, ungeteilt mein! Damals wußte ich noch nicht, was Eifersucht sei. Ich machte aus dir meine Schwester, meine Gefährtin, meine Schülerin. Ich fing an, mich zu achten, da ich dir nützlich wurde. Nachdem ich deinetwegen die Last des Lebens auf mich genommen hatte, regte sich in mir die Hoffnung auf einen Dank. Ich gewöhnte mich an den Gedanken, daß du meine Gattin werden könntest; verzeihe mir dieses Wort, das ich auch jetzt nur mit Zittern auszusprechen wage. Meine Phantasie schmückte dich bereits mit allen Reizen der Jugend; ich war ungeduldig, dich zur Jungfrau heranwachsen zu sehen. Jeden Morgen forschte ich, welch eine Wirkung ein Tag mehr auf dich hervorgebracht hätte; denn ich war schon ein Jüngling von fünfzehn Jahren und du warst noch ein Kind. Schon glühten in meinem Busen Leidenschaften, deren Namen dir unbekannt waren, du erstauntest oft über mein trauriges Wesen und ich schien dir melancholisch und wunderlich. Dennoch liebtest du mich, wie ich war; jeder Augenblick meines Lebens war nur dir geweiht und meine Leiden machten dich meinem Herzen nur teurer. Ich lebte der Hoffnung, daß du bestimmt seiest, sie einst in Freuden zu verwandeln.
»Ach, verzeihe mir den verbrecherischen Gedanken; wenn es ein Frevel war, auf dich zu hoffen, so ist Gott allein strafbar, mir diesen Gedanken zum alleinigen Troste gegeben zu haben. Wovon konnte dieses gedrückte, verkannte Herz leben, von wem konnte es einen Blick, ein Lächeln der Liebe erwarten, wenn nicht von dir?
»Doch nie versündigte ich mich durch einen unreinen Gedanken an der Jungfräulichkeit deines Herzens. Meine Küsse waren die eines Vaters, und wenn deine unschuldigen, scherzenden Lippen den meinigen begegneten, so weckten sie nie das verzehrende Feuer des Verlangens. Nein, nicht in dich, das kleine Mädchen mit den blauen Augen war ich verliebt. So wie du damals warst mit deinem freundlichen Lächeln und deinen unschuldigen Liebkosungen, sah ich in dir nur mein Kind oder meine kleine Schwester; aber wenn ich in die Zukunft schaute, sah ich dich erwachsen vor mir und liebte in dir die Jungfrau.
»Oft habe ich, allein auf diesem Felsen sitzend, meine Hände gerungen und das unbekannte Glück der erträumten Zukunft angerufen. Aber sah ich dich unten auf dem Fußsteig, lachend und scherzend zu mir eilen, dann beruhigte sich mein Blut; in Gegenwart der siebenjährigen Indiana vergaß ich die fünfzehnjährige, von der ich eben geträumt hatte. Dennoch betrübte es mich, daß du noch so jung, so klein warst. Ich verglich dein Haar mit anderen Locken, die ich in früheren Jahren von deiner Stirn geschnitten hatte, und sah mit Lust die dunklere Färbung, die jeder Frühling brachte. Dann betrachtete ich an dem Stamme eines Dattelbaumes die Merkmale, die ich daran eingegraben hatte, um die Fortschritte deines Wachstums zu verfolgen. Der Baum trägt heute noch jene Einschnitte. Aber, ach! vergeblich bist du groß geworden, vergeblich hat deine Schönheit ihre Verheißungen erfüllt, vergeblich sind deine Haare schwarz geworden wie das Ebenholz, du bist nicht für mich groß geworden, nicht für mich haben sich deine Reize entwickelt, für einen andern schlug dein Herz zum erstenmal.
»Es war eine reine, eine tiefe und wahre Liebe, welche du mir damals schon einflößtest. Noun war mit zehn Jahren um einen ganzen Kopf größer als du; Kreolin in der ganzen Bedeutung des Wortes, war sie schon entwickelt, der Ausdruck ihres feuchten Blickes, ihre Haltung, ihr ganzes Wesen war das eines jungen Mädchens. Doch ich liebte Noun nur deinetwegen, deren Spiele sie teilte. Nie kam mir die Frage in den Sinn, ob sie schon schön sei, ob sie noch schöner werden würde. In meinen Augen war sie noch mehr Kind als du. Ich liebte eben nur dich. Ich rechnete auf dich, du warst die Gefährtin meines Lebens, der Traum meiner Jugend …
»Aber die Zukunft täuschte meine Hoffnungen. Der Tod meines Bruders zwang mich, seine Braut zu heiraten. Ich schweige über diese Zeit meines Lebens. Ich war der Gatte einer Frau, die mich haßte und die ich nicht lieben konnte. Ich war Vater und verlor meinen Sohn; ich wurde Witwer und erfuhr, daß du mir verloren warst.
»Als ich hieher zurückkam, als ich den Mann sah, mit dem man dich verheiratet hatte, … verzeih, Indiana, da wurde ich wirklich Egoist. In der Liebe liegt stets Egoismus, selbst in der meinigen herrschte er vor. Ich empfand, ich weiß nicht welche grausame Freude bei dem Gedanken, daß man dir in diesem Manne einen Herrn, aber keinen Gatten gegeben hatte. Du erstauntest über die Zuneigung, die ich ihm bezeigte; ich sah eben in ihm keinen Nebenbuhler. Ich wußte wohl, daß dieser Greis weder Liebe einflößen noch empfinden könne und daß dein Herz in diesem Ehebunde unberührt bleiben werde. Ich war ihm dankbar für deine Kälte und für deine Treue. Wäre er hier geblieben, so würde ich vielleicht sehr strafbar geworden sein; aber ihr wandtet euch nach Frankreich und ließet mich allein. Ohne dich zu leben, schien mir unmöglich. Ich versuchte, diese Liebe zu besiegen, die in aller ihrer Kraft wieder aufgelebt war, als ich dich wiederfand, wie ich dich in deiner Kindheit geträumt hatte. Aber die Einsamkeit schärfte nur mein Leid und ich gab dem Bedürfnis nach, dich zu sehen, unter demselben Dache zu leben, dieselbe Luft zu atmen. Ich begriff, daß ich mit der Gefahr nicht spielen dürfe, denn meine Leidenschaft war zu glühend. Ich fühlte, ich müsse eine dreifache Mauer von Eis um mich aufrichten, um mir dein Interesse und dein Mitgefühl zu entfremden, das mir verderblich geworden wäre und alle meine guten Vorsätze vernichtet haben würde. So habe ich denn den Vorwurf der Herzlosigkeit und des Egoismus auf mich genommen, den, Dank dem Himmel, du mir nicht erspart hast. Meine Verstellung gelang über mein Erwarten, du schenktest mir eine Art beschämenden Erbarmens, du sprachst mir Herz und Gemüt ab und ich hatte nicht das Recht, darüber in Zorn zu geraten, denn dadurch hätte ich dir gezeigt, daß ich ein Mann war.
»Ich beklage mich über die Menschen und nicht über dich, Indiana. Du warst stets gut und nachsichtig, du ertrugst mich unter der abstoßenden Hülle, die ich angenommen hatte, um in deiner Nähe zu weilen. Nächst dir bewies mir Delmare die größte Nachsicht. Du hast mich beschuldigt, ich hätte ihn dir vorgezogen, ich hätte dein Wohl meinem Egoismus aufgeopfert, da ich mich weigerte, in eure häuslichen Zwiste als Vermittler einzugreifen. Du hast nicht begriffen, daß ich die Stimme zu deinen Gunsten nicht erheben konnte, ohne mich zu verraten. Was wäre aus dir geworden, wenn Delmare mir die Tür gewiesen hätte? Wer hätte dich geduldig, schweigend, aber mit der ausdauernden Festigkeit einer unerlöschlichen Liebe beschützt? Raymon gewiß nicht! Und dann, ich gestehe es, ich liebte Delmare aus Dankbarkeit, diesen rohen, ungeschlachten Mann, der mir das einzige Glück, das mir blieb, entreißen konnte, und es doch nicht tat. Aber nun bin ich an den Punkt gekommen, wo ich von den entsetzlichsten Leiden meines Lebens sprechen muß, von jener Zeit, wo deine von mir so sehr ersehnte Liebe einem andern gehörte. Damals goß der Haß sein Gift in meinen Busen und die Eifersucht verzehrte den Rest meiner Kräfte. Damals hätte ich den verabscheuten Menschen im Grunde dieser Schlucht sehen mögen, um ihm mit Steinwürfen das Haupt zu zerschmettern. Ich wollte ihn nicht töten, weil du ihn beweint haben würdest.
»O, der Elende! Gott verzeihe ihm das Leid, das er mir angetan, aber er strafe ihn für das, welches er auf dein Haupt gehäuft hat! Schon bei seiner Geburt hätte ihm die Gesellschaft das Brandmal auf die Stirn drücken sollen; sie hätte ihn als den herzlosesten, verruchtesten Menschen aus ihrer Mitte stoßen sollen! Aber im Gegenteil, sie hat ihn im Triumph herumgetragen! O, daran erkenne ich die Menschen, die einem Scheusal, welches Glück und Ehre anderer mit Füßen tritt, auch noch ihre Verehrung darbringen.