Kitabı oku: «Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes», sayfa 2

Yazı tipi:

»Was ist da passiert?«

»Zwei, dreimal ist es später geworden … Einmal – am Mittwoch – hat er mich um vier in der Früh aus dem Bett geklingelt …«

Mittwoch war der Tag des Verbrechens in Saint-Cloud. Laut Pathologie war der Tod der beiden Frauen gegen zwei Uhr nachts eingetreten.

Und sprachen nicht unwiderlegbare Beweise gegen Heurtin, die er, Maigret, größtenteils selbst zusammengetragen hatte?

Die Villa stand an der Route de Saint-Germain, kaum einen Kilometer vom Pavillon Bleu entfernt. Dieses Lokal hatte Heurtin um Mitternacht betreten, allein, und hintereinander vier Gläser Grog getrunken. Beim Zahlen war ihm eine Karte für eine Fahrt dritter Klasse von Paris nach Saint-Cloud aus der Tasche gefallen.

Mrs. Henderson, die Witwe eines amerikanischen Diplomaten mit guten Beziehungen zu einigen bedeutenden Familien des Geldadels, lebte allein in dem Haus, dessen Erdgeschoss seit dem Tod ihres Mannes leer stand.

Ihre einzige Angestellte, Élise Chatrier, eine Französin, die ihre Kindheit in England verbracht und eine ausgezeichnete Erziehung genossen hatte, war mehr Gesellschaftsdame als Haushälterin.

Zweimal die Woche kümmerte sich ein Gärtner aus Saint-Cloud um den Garten.

Besuch gab es nur selten. Ab und zu kam William Crosby, der Neffe der alten Dame, mit seiner Frau.

In jener Nacht – es war der 7. Juli – herrschte der übliche Verkehr auf der Landstraße nach Deauville.

Um ein Uhr früh schlossen das Pavillon Bleu und alle anderen Restaurants und Tanzlokale.

Ein Autofahrer gab später an, er habe gegen halb drei Licht im ersten Stock der Villa gesehen und Schatten, die sich merkwürdig bewegten.

Um sechs Uhr kam der Gärtner, es war sein Tag. Normalerweise öffnete er geräuschlos das Gartentor und wurde dann um acht von Élise Chatrier zum Frühstück ins Haus gerufen.

Diesmal hörte er keinen Ton. Um neun waren die Türen der Villa noch immer verschlossen. Er machte sich Sorgen und klopfte. Als er keine Antwort erhielt, lief er zur nächsten Kreuzung und sagte dem Polizisten, der dort Dienst tat, Bescheid.

Kurz darauf wurde die Tragödie entdeckt. Auf dem Bettvorleger im Schlafzimmer lag Mrs. Hendersons Leiche, das Nachthemd blutgetränkt, die Brust von einem Dutzend Messerstichen durchbohrt.

Élise Chatrier hatte dasselbe Schicksal ereilt, im Nebenzimmer, wo sie auf Wunsch ihrer Herrin schlief, weil diese Angst hatte, dass ihr nachts schlecht werden könnte.

Ein barbarischer Doppelmord, vermutlich aus niedrigen Beweggründen, wie die Juristen sagen, und ziemlich scheußlich dazu.

Überall Spuren: Tritte, blutige Fingerabdrücke auf den Vorhängen.

Es folgten die üblichen Formalitäten: Lokaltermin, Ankunft der Experten vom Erkennungsdienst, Analysen und Autopsien.

Maigret wurde mit der Leitung der polizeilichen Ermittlungen betraut, und er brauchte keine zwei Tage, um Heurtins Fährte aufzunehmen.

Sie war unübersehbar! In den Fluren der Villa lag nirgends ein Teppich, und das Parkett war gebohnert.

Ein paar Fotos genügten, um außerordentlich deutliche Trittspuren festzuhalten.

Sie stammten von nagelneuen Schuhen mit Gummisohlen. Diese waren, um sie rutschfest zu machen, auffällig gerillt, und in der Mitte konnte man sogar noch den Namen des Herstellers und eine Seriennummer entziffern.

In einem Schuhgeschäft am Boulevard Raspail erfuhr Maigret, dass in den letzten zwei Wochen nur ein einziges Paar in der gesuchten Größe – 44 – verkauft worden war.

»Und zwar an einen Laufburschen mit einem Lieferdreirad. Den sehen wir oft hier im Viertel …«

Ein paar Stunden später befragte der Kommissar Monsieur Gérardier, den Blumenhändler in der Rue de Sèvres, und entdeckte die fraglichen Schuhe an den Füßen des Laufburschen Joseph Heurtin.

Blieb nur noch der Abgleich der Fingerabdrücke. Die Prozedur fand in den Räumlichkeiten des Erkennungsdienstes im Palais de Justice statt.

Mit gezückten Instrumenten beugten sich die Experten darüber und kamen zu einem eindeutigen Ergebnis:

»Er war es!«

»Warum hast du es getan?«

»Ich hab sie nicht umgebracht.«

»Woher hast du die Adresse von Mrs. Henderson?«

»Ich hab sie nicht umgebracht.«

»Was wolltest du um zwei Uhr früh in der Villa?«

»Weiß nicht!«

»Wie bist du aus Saint-Cloud zurückgekommen?«

»Bin ich nicht.«

Er hatte ein großes, fahles, schrecklich zerbeultes Gesicht. Und rot geränderte Augen, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen.

In seinem Zimmer in der Rue Monsieur-le-Prince wurde ein blutiges Taschentuch gefunden, und die Chemiker bestätigten, dass es menschliches Blut war, ja sie fanden sogar Bakterien, die sie im Blut von Mrs. Henderson festgestellt hatten.

»Ich hab sie nicht umgebracht.«

»Wen willst du als Anwalt?«

»Gar keinen.«

Ein Pflichtverteidiger wurde ihm beigeordnet, Maître Joly, der erst dreißig war und sehr bemüht.

Sieben Tage lang stand Heurtin unter psychiatrischer Beobachtung. Im Gutachten war zu lesen:

Keine geistige Beeinträchtigung. Trotz akuter Depression infolge des seelischen Schocks voll schuldfähig.

Dann begannen die Gerichtsferien. Eine andere Untersuchung führte Maigret nach Deauville. Für Richter Coméliau lag der Fall ziemlich klar, und die Strafkammer bejahte die Schuldfrage.

Trotzdem: Heurtin hatte weder etwas gestohlen noch ein erkennbares Interesse am Tod von Mrs. Henderson und ihrer Haushälterin gehabt.

Maigret hatte das Leben des Beschuldigten so weit wie möglich zurückverfolgt. Er kannte ihn in jedem Alter, innerlich und äußerlich.

Joseph Heurtin war in Melun zur Welt gekommen. Sein Vater arbeitete damals als Kaffeekellner im Hôtel de la Seine, seine Mutter als Wäscherin.

Drei Jahre später übernahmen die Eltern ein Bistro in der Nähe der Strafanstalt, das aber schlecht lief, und so versuchten sie es dann mit einem Gasthof in Nandy im Département Seine-et-Marne.

Seine Schwester Odette wurde geboren, als er sechs war.

Aus der Zeit gab es ein Foto von ihm: Im Matrosenanzug hockte er vor einem Bärenfell, auf dem ein rundliches Baby strampelte.

Mit dreizehn versorgte er die Pferde und half seinem Vater beim Bedienen der Gäste.

Mit siebzehn wurde er Kaffeekellner in einem eleganten Restaurant in Fontainebleau.

Nach dem Militärdienst kam er einundzwanzigjährig nach Paris, zog in die Rue Monsieur-le-Prince und begann für Gérardier Blumen auszuliefern.

»Er hat immer viel gelesen«, sagte der Blumenhändler.

»Seine einzige Unterhaltung war das Kino«, behauptete die Zimmerwirtin.

Es gab keinerlei Verbindung zwischen ihm und der Villa in Saint-Cloud.

»Warst du früher schon einmal in Saint-Cloud?«

»Nie!«

»Was hast du am Sonntag gemacht?«

»Gelesen.«

Mrs. Henderson war keine Kundin des Blumenladens. Nichts machte ihre Villa im Verhältnis zu den Nachbarhäusern besonders anziehend für Einbrecher. Außerdem war ja auch gar nichts gestohlen worden.

»Warum redest du nicht?«

»Ich hab nichts zu sagen.«

Maigret hatte einen ganzen Monat in Deauville zu tun, wo er einer internationalen Betrügerbande auf der Spur war.

Im September besuchte er Heurtin in seiner Zelle. Und fand ein Wrack vor.

»Ich weiß von nichts! Ich hab sie nicht umgebracht!«

»Aber du warst in Saint-Cloud …«

»Lasst mich doch einfach in Ruhe!«

»Ein klarer Fall!«, befand die Staatsanwaltschaft. Und verschob den Prozess.

Am 1. Oktober trat das Gericht nach den Ferien zum ersten Mal wieder zusammen und eröffnete die Sitzungsperiode mit dem Prozess Heurtin.

Maître Joly war keine bessere Verteidigungsstrategie eingefallen, als ein Gegengutachten zum Geisteszustand seines Mandanten einzuholen. Der Psychiater konstatierte verminderte Schuldfähigkeit.

»Nein, es war Mord aus niedrigen Beweggründen!«, widersprach der Staatsanwalt. »Heurtin hat nur deshalb nichts gestohlen, weil er durch bestimmte Umstände daran gehindert wurde … Er hat insgesamt achtzehnmal zugestochen …«

Angewidert stießen die Geschworenen die herumgereichten Fotografien der Opfer von sich.

»Schuldig in allen Anklagepunkten!«

Da war das Todesurteil! Am nächsten Tag wurde Joseph Heurtin zusammen mit vier anderen Todeskandidaten in den Überwachungstrakt der Santé überstellt.

Maigret haderte mit sich.

»Hast du mir nichts zu sagen?«, fragte er, als er Heurtin besuchte.

»Nein.«

»Du weißt, dass man dich hinrichten wird?«

Heurtin begann zu weinen. Die Augen in seinem bleichen Gesicht waren gerötet.

»Wie heißt dein Komplize?«

»Hab keinen.«

Obwohl der Fall offiziell abgeschlossen war, besuchte Maigret ihn täglich.

Und jedes Mal wirkte Heurtin noch ein wenig schwächer, aber gefasst, er zitterte nicht, manchmal blitzte sogar Spott in seinen Augen auf.

Bis zu dem Morgen, an dem er in der Nebenzelle erst Schritte, dann gellende Schreie hörte.

Da wurde Nummer 9, ein Vatermörder, abgeholt und zum Schafott geführt.

Am nächsten Tag weinte Heurtin, der zur Nummer 11 geworden war. Aber er redete nicht. Er lag mit dem Gesicht zur Wand auf seiner Pritsche und klapperte mit den Zähnen.

Wenn Maigret sich etwas in den Kopf setzte, war es dort längere Zeit fest verankert.

»Der ist entweder verrückt oder unschuldig!«, sagte er zum Untersuchungsrichter.

»Das kann nicht sein!«, widersprach Coméliau. »Außerdem ist er rechtskräftig verurteilt.«

Doch Maigret, eins achtzig groß, breit und schwer wie ein Lastenträger in den Pariser Markthallen, ließ sich nicht beirren.

»Erinnern Sie sich daran, dass wir nicht herausfinden konnten, wie er von Saint-Cloud wieder nach Paris gekommen ist! Er hat nicht den Zug genommen, das ist erwiesen. Er ist nicht Straßenbahn gefahren. Und zu Fuß war er auch nicht unterwegs!«

Den Spott, den er kassierte, nahm er hin.

»Wollen wir ein Experiment wagen?«

»Das kann nur der Minister entscheiden.«

Gewichtig und beharrlich sprach Maigret auch im Justizministerium vor. Und entwarf eigenhändig den Brief mit dem Fluchtplan.

»Hören Sie! Entweder hat Heurtin Komplizen und glaubt, dass die Nachricht von ihnen stammt, oder er hat keine und wird misstrauisch, weil er eine Falle wittert. Ich bürge für ihn. Und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass er uns auf keinen Fall entkommt.«

Man hätte das undurchdringliche, ruhige und dennoch harte Gesicht des Kommissars dabei sehen müssen!

Es dauerte drei Tage. Maigret beschwor das Schreckgespenst eines Justizirrtums herauf und den Skandal, den dieser früher oder später nach sich ziehen würde.

»Aber Sie haben ihn doch selbst verhaftet!«

»Weil ich als Polizeibeamter verpflichtet bin, aus handfesten Beweisen logische Schlüsse zu ziehen.«

»Und als Mensch?«

»Warte ich auf psychologische Beweise.«

»Das heißt?«

»Dass er verrückt oder unschuldig ist.«

»Und warum redet er nicht?«

»Das Experiment, das ich vorschlage, wird es uns verraten.«

Es folgten zahllose Telefonate und Konferenzen.

»Sie setzen Ihre Karriere aufs Spiel, Kommissar! Überlegen Sie es sich!«

»Hab ich schon.«

Als der Häftling den Brief erhielt, zeigte er ihn niemandem, aß aber mit größerem Appetit.

»Es überrascht ihn also nicht!«, stellte Maigret fest. »Also hat er auf so etwas gewartet. Also hat er wahrscheinlich Komplizen, die ihm die Freiheit versprochen haben.«

»Oder er stellt sich nur dumm! Und kaum ist er draußen, entwischt er Ihnen … Es geht um Ihre Stellung, Kommissar …«

»Und um seinen Kopf …«

Maigret lümmelte im Ledersessel vor dem Fenster seines Hotelzimmers. Ab und zu beobachtete er durch das Fernglas das Citanguette, wo die Schauerleute und Flussschiffer auf ein Glas vorbeischauten.

Inspektor Janvier stand gelangweilt am Ufer und bemühte sich, unbeteiligt zu wirken.

Dufour hatte – so genau konnte Maigret alles sehen – Andouillette mit Kartoffelpüree gegessen und einen Calvados bestellt.

Das Fenster gegenüber war noch immer geschlossen.

»Geben Sie mir das Citanguette, Mademoiselle!«

»Die Leitung ist besetzt.«

»Ist mir egal! Unterbrechen Sie die Verbindung!«

Dann:

»Bist du das, Dufour?«

»Schläft noch«, war die lakonische Antwort.

Es klopfte. Gleich darauf bekam Wachtmeister Lucas in dem verrauchten Zimmer einen Hustenanfall.

3 Die zerrissene Zeitung

»Was Neues?«

Lucas gab dem Kommissar die Hand und setzte sich erst einmal aufs Bett.

»Ja, aber nichts Berühmtes: Der Chefredakteur hat mir dann doch den Brief zu der Geschichte in der Santé ausgehändigt, der heute Morgen um zehn beim Sifflet angekommen ist …«

»Gib her!«

Der Wachtmeister reichte ihm ein ziemlich verschmutztes und mit blauem Stift bekritzeltes Papier. Man hatte nur an ein paar Stellen gekürzt und den Rest der Sätze wieder zusammengeflickt, bevor der Brief in Satz ging.

Außerdem standen noch ein paar typographische Angaben auf dem Papier und die Initialen des zuständigen Setzers.

»Jemand hat das Blatt oben abgeschnitten, vermutlich um den Briefkopf zu entfernen«, bemerkte Maigret.

»Klar! Das hab ich mir auch gleich gedacht! Und dass der Brief vielleicht in einem Café geschrieben wurde. Ich habe mit Moers gesprochen, der behauptet, das Briefpapier der meisten Pariser Cafés zu kennen.«

»Und? Hat er was rausgefunden?«

»Er hat keine zehn Minuten gebraucht. Es ist aus dem Coupole am Boulevard Montparnasse. Da komme ich grade her … Leider haben sie dort jeden Tag gut tausend Gäste, und mehr als fünfzig wollen was zum Schreiben.«

»Und was sagt Moers zur Schrift?«

»Noch nichts. Um das Ganze nach allen Regeln der Kunst zu analysieren, braucht er den Brief wieder. Inzwischen kann ich ja, wenn Sie wollen, noch mal ins Coupole gehen.«

Maigret behielt das Citanguette gegenüber im Blick. Die Fabrik nebenan öffnete ihre Tore, und zahllose Arbeiter verschwanden, zumeist per Fahrrad, im Dämmergrau.

Im Erdgeschoss ging eine einzelne Glühbirne an, sodass der Kommissar das Kommen und Gehen verfolgen konnte.

An der Zinntheke stand ein halbes Dutzend Gäste, einige betrachteten Dufour mit einem gewissen Misstrauen.

»Was macht der denn da?«, rief Lucas, als er in der Ferne seinen Kollegen erblickte. »Und dort steht Janvier und schaut dem Wasser beim Fließen zu!«

Doch Maigret hörte nicht hin. Von seinem Platz aus konnte er die Wendeltreppe sehen, die hinter dem Tresen endete. Nun waren dort Beine aufgetaucht. Sie blieben kurz stehen, dann näherte sich eine Gestalt den Gästen. Das bleiche Gesicht Joseph Heurtins erschien im vollen Licht.

In diesem Augenblick wurde eine Abendzeitung auf einen Tisch gelegt.

»Sag mal, Lucas, haben eigentlich auch andere Blätter die Meldung des Sifflet aufgegriffen?«

»Ich hab noch nichts gelesen. Aber das machen die sicher, schon um uns zu ärgern …«

Maigret griff zum Hörer.

»Das Citanguette, Mademoiselle … Es eilt!«

Zum ersten Mal an diesem Tag wurde Maigret nervös. Am anderen Ufer sprach der Wirt mit Heurtin, wahrscheinlich fragte er ihn, was er trinken wolle.

Würde man, wenn man gerade aus dem Gefängnis geflohen war, nicht als Erstes die Zeitung überfliegen, die dort herumlag?

»Hallo! … Hallo, ja …«

Dufour war aufgestanden und zur Telefonkabine gegangen.

»Pass auf! Da liegt eine Zeitung auf dem Tisch. Er darf sie nicht lesen … auf keinen Fall!«

»Was soll ich …«

»Schnell! Jetzt hat er sich hingesetzt. Die Zeitung liegt direkt vor ihm …«

Angespannt stand Maigret am Fenster. Wenn Heurtin den Artikel las, war das hart erkämpfte Experiment gescheitert.

Der Sträfling hatte sich auf die Bank an der Wand fallen lassen, die Ellbogen aufgestützt, den Kopf in den Händen.

Der Wirt stellte ein Glas Schnaps vor ihn hin.

Gleich würde Dufour wieder hereinkommen und die Zeitung an sich nehmen.

Lucas, der nicht über alle Einzelheiten des Falls im Bilde war, ahnte etwas und beugte sich aus dem Fenster. Ein Lastkahn, der weiße, grüne und rote Lichter gesetzt hatte, begann wie wild zu tröten und nahm ihnen einen Moment lang die Sicht.

»Das war’s!«, murmelte Maigret, als Inspektor Dufour wieder den Gastraum betrat.

Heurtin hatte gerade nachlässig die Zeitung aufgeschlagen. Stand die Meldung, die ihn betraf, auf der Titelseite? Konnte er sie auf den ersten Blick sehen?

Würde Dufour schnell genug reagieren, um die Gefahr abzuwenden? Aber nein, erst einmal drehte er sich um und schaute über die Seine, zu dem Fenster, hinter dem er seinen Chef vermutete. Das war wieder typisch für ihn.

So klein und fein, wie er da zwischen den harten Kerlen stand, machte er auch nicht den Eindruck, der Situation gewachsen zu sein.

Dennoch trat er auf Heurtin zu, streckte die Hand nach der Zeitung aus und sagte wahrscheinlich so etwas wie:

»Pardon, Monsieur, die gehört mir!«

Die Männer am Tresen drehten sich um. Heurtin schaute verblüfft zu dem Mann auf, der ihn angesprochen hatte.

Dufour ließ nicht locker, er beugte sich über den Tisch und versuchte, Heurtin die Zeitung wegzunehmen.

Das war zu viel. Die Situation begann zu kippen.

Von Lucas, der neben Maigret stand, kam ein bedenkliches »Hm, hm«.

Heurtin erhob sich langsam, als wüsste er noch nicht, was er tun würde.

Mit der linken Hand hielt er die Zeitung fest, an der Dufour zerrte.

Dann nahm er mit der rechten die schwere Wasserflasche vom Nebentisch und zog sie dem Inspektor über den Kopf.

Janvier stand keine fünfzig Meter entfernt am Quai, hörte aber nichts.

Dufour wankte und fiel gegen den Tresen, zwei Gläser zerbrachen.

Drei Männer stürzten sich auf Heurtin. Zwei andere packten den Inspektor an den Armen.

Offenbar drang der Tumult nun doch bis nach draußen, denn Janvier riss sich endlich von den Spiegelungen des Flusses los, drehte sich um, machte ein paar Schritte Richtung Bistro und begann zu laufen.

»Nimm dir einen Wagen und fahr hin, schnell!«, befahl Maigret.

Lucas gehorchte lustlos. Er wusste, dass er zu spät kommen würde.

Außerdem war Janvier doch schon dort.

Heurtin schlug um sich, schrie etwas. Beschuldigte er Dufour, bei der Polizei zu sein?

Jedenfalls lockerten die drei Männer kurz ihren Griff, was er dazu nutzte, die Wasserflasche, die er noch immer in der Hand hielt, nach der Glühbirne zu schleudern.

Der Kommissar stand reglos am Fenster und umklammerte mit beiden Händen die Stange davor. Auf dem Quai unter ihm startete ein Taxi. Im Citanguette flammte ein Streichholz auf und erlosch gleich wieder.

Trotz der Entfernung war Maigret fast sicher, dass drüben ein Schuss gefallen war.

Endlose Minuten vergingen. Das Taxi hatte die Brücke überquert und holperte langsam den ausgefahrenen Uferweg entlang.

Zweihundert Meter vor dem Bistro sprang Lucas aus dem Wagen und rannte los. Hatte er den Knall gehört?

Ein gellender Pfiff. Lucas oder Janvier riefen Hilfe herbei.

Hinter den schmierigen Fensterscheiben, über denen in Emailbuchstaben stand: Eigenes Essen mitbringen erlaubt – ein E und ein N fehlten allerdings –, flammte eine Kerze auf, in deren Licht Schemen zu sehen waren, die sich über einen Körper beugten.

Aber das Bild war nicht klar. Auf die Entfernung und bei der schlechten Beleuchtung konnte man nichts Genaueres erkennen.

Ohne seinen Platz am Fenster zu verlassen, telefonierte Maigret mit gedämpfter Stimme.

»Hallo? Kommissariat Grenelle? … Schicken Sie sofort ein paar Leute mit Wagen zum Citanguette … Falls sie einen großen, bleichen Kerl mit Riesenschädel sehen, der flüchten will: Sofort verhaften! … Und verständigen Sie einen Arzt!«

Lucas war angekommen. Das Taxi stand vor einem Frontfenster und versperrte die Sicht.

Der Wirt war auf einen Stuhl geklettert und schraubte eine neue Glühbirne ein, die den Gastraum gleich darauf in grelles Licht tauchte.

Das Telefon klingelte.

»Hallo? … Sind Sie das, Kommissar? … Hier Richter Coméliau … Ja, ich bin zu Hause. Ich habe Gäste zum Abendessen und wollte mich nur vergewissern …«

Maigret schwieg.

»Hallo! Nicht trennen! … Sind Sie noch dran?«

»Hallo, ja …«

»Und? … Sie sind kaum zu verstehen … Haben Sie die Abendzeitungen gelesen? Alle verbreiten die Enthüllungen des Sifflet. Ich glaube, es wäre gut …«

Janvier kam aus dem Lokal gestürzt und rannte nach rechts, ins dunkle Gelände.

»Und wie läuft’s sonst?«

»Gut!«, schrie Maigret und legte auf.

Er war schweißüberströmt. Seine Pfeife war zu Boden gefallen, und der glühende Tabak sengte den Teppich an.

»Hallo, Mademoiselle! Das Citanguette …«

»Dorthin habe ich Sie doch gerade verbunden!«

»Das Citanguette, sage ich, verstanden?«

An der plötzlichen Bewegung im Bistro erkannte er, dass dort das Telefon klingelte. Der Wirt wollte drangehen. Doch Lucas kam ihm zuvor.

»Hallo, ja … Kommissar?«

»Ja«, sagte Maigret mit müder Stimme. »Er ist weg, oder?«

»Klar!«

»Und Dufour?«

»Nicht so schlimm, glaub ich. Nur ein Stück Kopfhaut fehlt … Er ist nicht einmal ohnmächtig geworden.«

»Die Polizei von Grenelle ist unterwegs.«

»Das wird nichts bringen. Sie kennen ja die Gegend. Die vielen Baustellen, die Materialhaufen, die Fabrikgelände und die schmalen Gassen von Issy-les-Moulineaux …«

»Hat da gerade jemand geschossen?«

»Ja, aber ich weiß nicht, wer. Hier sind alle ganz zahm, wie belämmert. Man hat nicht den Eindruck, dass sie begriffen haben, was passiert ist.«

Ein Auto bog um die Ecke, setzte zwei Polizisten ab, und hundert Meter weiter noch einmal zwei.

Vier Beamte stiegen vor dem Bistro aus, einer davon ging, den Regeln der Polizeiarbeit entsprechend, um das Gebäude herum, um den Hinterausgang zu sichern.

»Und was soll ich jetzt machen?«, fragte Lucas nach einer Pause.

»Nichts … Du organisierst die Fahndung, für alle Fälle … Ich komme gleich.«

»Ist ein Arzt verständigt?«

»Schon geschehen.«

Die Telefonistin, die auch für den Empfang zuständig war, zuckte zusammen, als plötzlich ein riesiger Schatten vor ihr auftauchte.

Mit seiner Ruhe, seiner Kälte und dem verschlossenen Gesicht wirkte Maigret wie ein Wesen von einem anderen Stern.

»Was macht das?«

»Sie reisen ab?«

»Was macht das?«

»Da muss ich erst den Geschäftsführer fragen. Wie viele Telefonate haben Sie geführt? … Warten Sie …«

Als sie aufstehen wollte, nahm der Kommissar sie am Arm, zwang sie, sich wieder hinzusetzen, und legte einen Hundert-Franc-Schein auf den Tresen.

»Reicht das?«

»Ich denke schon, aber …«

Seufzend verließ er das Hotel, ging langsam den Bürgersteig entlang und überquerte die Brücke, ohne seinen Schritt zu beschleunigen.

Irgendwann tastete er seine Taschen nach seiner Pfeife ab, fand sie nicht und sah darin wohl ein böses Omen, denn ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen.

Ein paar Schiffer standen vor dem Citanguette, aber ihre Neugier hielt sich in Grenzen. In der Woche davor hatten sich dort zwei Araber gegenseitig umgebracht. Und vor einem Monat hatte man an einem Bootshaken einen Sack mit den Beinen und dem Rumpf einer Frau aus dem Wasser gezogen.

Am anderen Ufer verstellten die pompösen Villen von Auteuil den Horizont. Metro-Züge ratterten über eine nahe Brücke.

Es nieselte. Uniformierte Beamte liefen überall herum, umtanzt von den fahlen Lichtkegeln ihrer Taschenlampen.

Lucas stand als Einziger im Lokal, während die Teilnehmer und Zuschauer der Schlägerei aufgereiht an der Wand saßen.

Der Wachtmeister ging von einem zum anderen, um die Papiere zu überprüfen, und erntete dafür böse Blicke.

Dufour lag im Polizeiwagen, der jetzt ganz vorsichtig anfuhr.

Maigret hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben und sagte kein Wort. Sein Blick lastete unendlich schwer auf allem, als er sich langsam umsah.

»Kommissar, ich schwöre Ihnen, wenn …«

Maigret schnitt dem Patron mit einer Geste das Wort ab und näherte sich einem Nordafrikaner, dessen Gesicht die Farbe von Lehm annahm, als er von Kopf bis Fuß gemustert wurde.

»Hast du gerade Arbeit?«

»Ja, bei Citroën. Ich …«

»Und wie lange hast du hier noch Aufenthaltsverbot?«

Maigret gab einem Polizisten den Wink, ihn mitzunehmen.

»Ich kann das alles erklären, Kommissar!«, rief der Mann, als er zur Tür gestoßen wurde. »Ich habe nichts getan …«

Doch Maigret hörte nicht mehr zu. Die Papiere eines Polen waren nicht ganz ordnungsgemäß.

»Abführen!«

Und das war’s auch schon. Dufours Revolver und eine leere Patronenhülse lagen auf dem Boden. Überall Glassplitter von der Wasserflasche und der Glühbirne. Auf der zerfetzten Zeitung waren zwei Blutspritzer.

»Was machen wir mit denen?«, fragte Lucas, nachdem er die restlichen Gäste überprüft hatte.

»Laufen lassen!«

Janvier kehrte erst eine Viertelstunde später zurück, schlammbespritzt und mit dunklen Flecken auf seinem Trenchcoat. Maigret saß zusammengesunken in einer Ecke des Bistros, Lucas neben ihm.

Janvier setzte sich dazu. Ihm war nicht nach Reden zumute.

Maigret sah aus, als würde er an etwas ganz anderes denken, während er seinen Blick zerstreut über den Tresen wandern ließ. Der Wirt dahinter machte ein zerknirschtes, unterwürfiges Gesicht.

»Rum!«, verlangte der Kommissar.

Und tastete wieder nach seiner Pfeife.

Schließlich bat er seufzend:

»Gib mir eine Zigarette!«

Janvier hätte gern etwas erwidert. Aber er war so erschüttert vom Anblick seines Chefs, wie er mit hängenden Schultern dasaß, dass er schlucken musste und den Kopf abwandte.

Richter Coméliau hatte zu einem Diner für zwanzig Personen mit anschließendem Tanz in seine Wohnung am Champ-de-Mars geladen.

Inspektor Dufour lag auf dem Stahltisch eines Arztes in Grenelle, der gerade in seinen weißen Kittel schlüpfte und dabei die Sterilisierung seiner Instrumente überwachte.

»Was glauben Sie, wird eine Narbe zurückbleiben?«, fragte der Polizist, der so, wie er dalag, nur die Decke sehen konnte. »Ich habe doch kein Loch im Kopf, oder?«

»Aber nein! Mit ein paar Stichen ist das genäht …«

»Und die Haare wachsen auch wieder nach? … Sind Sie sicher?«

Die blitzenden Klammern in der Hand, gab der Arzt seinem Assistenten ein Zeichen, den Patienten festzuhalten. Dufour unterdrückte einen Schmerzensschrei.

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