Kitabı oku: «Zwischen Aufbruch und Randale»

Yazı tipi:

GERALF POCHOP

ZWISCHEN AUFBRUCH UND RANDALE

DER WILDE OSTEN

IN DEN WIRREN DER NACHWENDEZEIT

Originalausgabe

© 2021 Hirnkost KG

Lahnstraße 25, 12055 Berlin

prverlag@hirnkost.de

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Mai 2021

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Lektorat: Gabriele Vogel

Layout: Conny Agel

ISBN:

PRINT: 978-3-948675-99-8

PDF: 978-3-947380-72-5

EPUB: 978-3-947380-71-8

Dieses Buch gibt es auch als E-Book - bei allen Anbietern und für alle Formate. Unsere Bücher kann man auch abonnieren: https://shop.hirnkost.de

Geralf und Vincent in der Erlöserkirche in Berlin im Rahmen eines Zeitzeugenprojektes zum 30-jährigen Mauerfall-Jubiläum. Die „AlösA“ war ein Sammelpunkt der widerständischen Jugendlichen in der DDR. Es fanden in den 80er Jahren hier u. a. Bluesmessen und Punkfestivals statt.

INHALT

Der Autor

Widmung + Danksagung

Vorwort

Ankunft im „Goldenen Westen“

Butterfahrt nach Dänemark

Wie wir dem Sham-69-Sänger Jimmy Pursey begegneten

Das ist unser Haus – Wohnraumbeschaffung in Westberlin

Der Fall der Mauer

Passt bloß auf! Saalepower!

Zeitzeugeninterview: Roman aka Captain Romantic aka Romantikk

Rentner, Punks und windige Verkäufer – Butterfahrt nach Dänemark Teil 2

Krieg in den Städten

Abend in der Stadt – Hausbesetzungen in der Nachwendezeit

Sie wollen nicht verhandeln, sie wollen nur Gewalt – Räumung der Mainzer Straße 1990

Achims schriller Fanclub oder: In Karel Gott we trust!

Rot vor Wut und gelb vom Ei – Bundeskanzler Helmut Kohl 1991 in Halle (Saale)

Warum beim Auftritt der Deutschen Trinker jugend in Freiberg das Auto des KVD-Sängers nicht von Punks demoliert wurde

Zeitzeugeninterview: Steffen Schölzel

„Heldenstadt“ Leipzig in Trümmern

Schlemihl Records – Geschichte eines Kultschallplattenladens

Zeitzeugeninterview: Andreas Höhn aka HöhNIE

Ich war dabei! – Das 3. Dessau Open Air 1993

Zeitzeugeninterview: Jörg Folta

Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Erntepunkfest 1994 in Wegeleben

Zeitzeugeninterview: Denis Falke, Punkname: Gohlik

CHaOS 94 oder das 1. Punkerknacker-Festival in Wurzen

Selbst die Chaostage waren nur ein Vorspiel – 15 Jahre Müllstation in Zobersdorf 1995

Zeitzeugeninterview: Rio aka Rialdo

Ein Ort im Ausnahmezustand: Das Maipunkfest in Wegeleben 1995 oder: Erntepunkfest Teil 2

Zeitzeugeninterview: Daniel Goslar, Punkname: Schamoni

Wie Black Hole Halle beim Zap-Cup ohne großes Fußballtalent einen Pokal gewann

„Sex and Violence“ – Exploited im Sächsischen Freiberg 1995

Zeitzeuginneninterview: Liane Schweiger

Oi! – Punks und Skins united?!

Zeitzeugeninterview: Pierre

Wie es die Doppel-Record-Release-Party zu „Das ist Inzucht – Saalepower II & KVD: Die Bombe“ in die Tagesschau schaffte

Zeitzeuginneninterview: Alex Schlagowski

Wie der Schlachtruf der Hallenser Punks die Wende überlebte – Ausnahmezustand bei Gleichlaufschwankung

Pogo im extremen Klima

Zeitzeuginneninterview: Tanja Trash

Punkerurlaub am schönen blauen Meer – Force Attack

Zeitzeugeninterview: Imre Sonnevend

Punkrockhauptstadt Torgau

Zeitzeugeninterview: Fitze

Zeitzeugennachbetrachtung: Manuel S.

Nachwort

Anhang

DER AUTOR


DDR-Passbild Mitte der 80er


BRD-Passbild in der Wendezeit


Passbild Mitte der 90er Jahre

Geralf Pochop, 1964 geboren und aufgewachsen in Halle (Saale), lernte in der DDR Funkmechaniker, besetzte 1982 zusammen mit Freunden eine Wohneinheit, hatte damals Kontakte zur kirchlichen Subkultur und zur Ostpunkszene und erlebte erstmals die Brutalität der Staatsorgane gegenüber Andersdenkenden am eigenen Körper.

1983 beteiligte er sich an Demonstrationen der unabhängigen DDR-Friedensbewegung und landete in den Verhörzellen des berüchtigten „Roten Ochsen“, dem Gefängnis der Staatssicherheit in Halle (Saale).

In den folgenden Jahren führte er ein Leben als Ostpunk abseits des DDR-Alltags, beteiligte sich an der Organisation von Untergrund-Punkkonzerten, reiste häufig nach Ungarn und erlebte die dortige Subkultur hautnah, arbeitete nach erteiltem Berufsverbot in Hilfsarbeiterjobs als Tellerwäscher, Gasleuchtenwärter, Siebdruckhelfer und Galerieaufsichtskraft.

Den Wehrdienst verweigerte er.

Am 7.10.1987, dem 38. Geburtstag der DDR, wurde er verhaftet und zu sechs Monaten politischer Haft verurteilt. Nach seiner Haftentlassung schrieb er einige Artikel für die Untergrundzeitung mOAning star, unterzeichnete etliche Protesterklärungen und half weiterhin bei der Organisation und Umsetzung subkultureller Musikveranstaltungen in der halleschen Christusgemeinde.

Im Mai 1989 reiste er in die BRD aus, wohnte kurze Zeit in Braunschweig, verhalf seiner Freundin zur Flucht aus der DDR und erlebte den Mauerfall 1989 in Berlin-Kreuzberg.

1991 zog er zurück nach Halle (Saale) und eröffnete zusammen mit einem Freund aus der alten Ostpunkszene den Schallplattenladen Schlemihl-Records, der ab 1996 auch als Label fungierte und LPs mit dem Schwerpunkt DDR-Punk veröffentlichte.

1997 gründete er die Band Gleichlaufschwankung, die aus Altpunks der DDR-Szene bestand.

2001 rief er das Label Saalepower Records ins Leben.

Nachdem er seit dem Mauerfall viele Länder Europas und Asiens bereist hatte, begab sich Geralf 2003 für zwei Jahre mit seiner Frau auf eine Bildungs- und Studienreise durch Asien, zog nach seiner Rückkehr nach Torgau und veröffentlichte das Buch von Tanja Trash: Maisbier und Buttertee – Leben und Überleben in China. Er verarbeitete die Eindrücke auch musikalisch auf der Gleichlaufschwankung-LP/CD Ethno Punx und organisierte 2009 eine Europatour für die Pekinger Untergrund-Band Misandao.

Seit seiner Rehabilitierung und Anerkennung als politischer Gefangener der DDR im Jahr 2011 beschäftigt er sich intensiv mit der DDR-Vergangenheit und verbrachte im Rahmen eines Forschungsauftrags viel Zeit in Stasi-Archiven.

Mit seiner Frau und seinen drei Kindern fuhr er 2015 für fast ein Jahr mit einem Wohnbus durch Europa.

2018 veröffentlichte der Verlag Hirnkost KG sein Buch Untergrund war Strategie. Punk in der DDR: Zwischen Rebellion und Repression, das ein Jahr später in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung noch einmal erschien.

Seither ist er häufig gemeinsam mit einem Musiker auf multimedialer Zeitzeugen-Lesetour und in Sachen Zeitzeugenarbeit als Bildungsreferent u. a. für das Koordinierende Zeitzeugenbüro der Gedenkstätte Hohenschönhausen, dem Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) der Stiftung Sächsischer Gedenkstätten und der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau unterwegs.

Weitere Informationen unter:

www.untergrund-war-strategie.de

www.facebook.com/PunkinderDDR

www.zwischen-aufbruch-und-randale.jimdosite.com

www.gleichlaufschwankung.de

www.facebook.com/gleichlaufschwankung

www.saalepower-records.de

www.feste-und-rituale.jimdosite.com

Geralf als Sänger bei Gleichlaufschwankung


Der Autor 2017

WIDMUNG + DANKSAGUNG

Ich widme dieses Buch allen alternativen Projekten, die in den Wirren der Nachwendezeit entstanden.

Besonderer Dank geht an Tanja Trash, die die Idee zum Buch hatte. Des Weiteren danke ich allen Interview-Partner*innen für die Schilderung ihrer Erinnerungen. Besonderer Dank geht an Alüt für die Überarbeitung und Jan Sobe für die Vorlektorierung. Dann möchte ich noch Dirk Wunderlich für die Ergänzung meiner Erinnerungen an unsere Schlemihl-Records-Zeit, Daniela, Uli F., Susi B., Fxxx, Anti, Gnu, Connie, Nicky, Stahn für seine grandiosen Schlapplatten-Label-Tattoos, Steffen Schellhorn und Steffen Könau für Bilder und Zeitungsartikel, Markus S., Marco W., Henrik, Sigi, Oli L., Tilli, Hecht, Tino, André Z., Katrin R., Roi the Oy, Christoph aus Brandenburg, Ray S., Schrammel, Ulrike, allen, die Fotos für dieses Buch zur Verfügung gestellt haben, Gabi fürs Lektorieren und Conny fürs geduldige Layouten danken.

Für die veröffentlichten Zeitzeug*innen-Interviews gilt: Die Entstehung dieses Werks wurde durch ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen ermöglicht.

VORWORT

Als am 9. November 1989 die Mauer fällt, prallen zwei Systeme aufeinander, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Zwei verschiedene Welten. Tag und Nacht. Licht und Schatten. Der Osten geprägt durch 40 Jahre DDR-Diktatur und Vormundschaft des sozialistischen totalitären Staates und leere Kaufhallenregale. Der Westen geformt durch Demokratie, Meinungsfreiheit, aber auch durch die kapitalistischen Großkonzerne, den allgegenwärtigen Überfluss in den Warenregalen, Konsumdenken und dem Streben nach immer mehr Geld. Das schaffte innerhalb kürzester Zeit Spannungen.

Die DDR-Subkultur, insbesondere die Punk-, Grufti- und Hausbesetzerszene war in den letzten Jahren des untergehenden Arbeiter- und Bauernstaates schon rasant angewachsen. Nach der Wende explodierte sie zahlenmäßig. Es roch nach Freiheit und Anarchie. Überall wurden Häuser besetzt. Während die normalen Gaststätten ums tägliche Überleben kämpften, öffneten an jeder Ecke neue subkulturelle Szenekneipen, die sich vor Kundschaft kaum retten konnten. Die meisten wurden „schwarz“ betrieben. Für Anmeldungen, Genehmigungen, Steuern oder Gewerbescheine interessierte sich in dieser Zeit niemand. Es gibt Berichte, dass in manchen „Schwarz“-Szeneclubs Geld in solchen Mengen floss, dass es in Müllsäcken eingesammelt wurde. Punkkonzerte gab es nun an Orten, von denen wir früher nur träumten. Punkfestivals wurden organisiert. Leerstehende Fabrikhallen wurden in Konzertstätten und AJZ umfunktioniert. In Kellern und alten Bunkern fanden illegale Techno-Konzerte statt. Es war eine Zeit der Hoffnung, des Aufbruchs und der Kreativität. Jede noch so verrückte Idee konnte in die Realität umgesetzt werden. Alles war möglich. Diese Aufbruchsstimmung beschränkte sich nicht nur auf die Musik- und Jugendkulturszenen, sondern auch auf Familien- und Freizeitzentren, alternativpädagogische Bildungsprojekte und Initiativen für Umwelt und Naturschutz.

Die alte Macht hatte nichts mehr zu sagen. Die Regeln der neuen Gesellschaft waren allen fremd. Die „Volks“-Polizei, die 40 Jahre lang die Interessen der DDR-Diktatur durchgeknüppelt hatte, wurde von niemandem mehr ernst genommen. Sie tauchte kaum noch auf. Es entstand ein rechtsfreier Raum.

Diesen nutzte auch die ebenso rasant anwachsende Naziskin- und Neonaziszene. Brutale Überfälle auf Andersdenkende und Andersaussehende waren an der Tagesordnung. Auch Homosexuelle, Migrant*innen und Menschen mit Behinderungen wurden attackiert. Es entstanden überall im Land No-Go-Areas. Durch diese als Mensch, der nicht ins Raster der Nazis passte, zu laufen war lebensgefährlich. Baseballschlägerjahre! Auch wurden immer wieder besetzte Häuser angegriffen. Oft unter den Augen der anwesenden Polizei. Diese sah sich nur noch als Beobachter. Schutz brauchte in dieser Zeit niemand von den Uniformierten zu erhoffen. Es gab Tote. Ob man wollte oder nicht, es musste der Selbstschutz organisiert werden. Aus „Keine Gewalt“ wurde „Antifa heißt Angriff“. Es wurde aufgerüstet. Nun wurde es in immer mehr Stadtvierteln auch für Nazis gefährlich. Die Gewaltspirale drehte sich. Es war wie im Bürgerkrieg.

Als am 3.10.1990 die Wiedervereinigung Deutschlands gefeiert wurde, war der Großteil der Ex-DDR-Subkultur nicht gerade begeistert. Es gab Gegendemonstrationen. Die Hoffnung auf eine bessere DDR war zerstört. Aus heutiger Perspektive betrachtet war die Wiedervereinigung vermutlich der einzige Weg, der möglich war. Damals hatten die meisten auf ein Land gehofft, das die guten Seiten des sozialistischen Staates und die des Kapitalismus miteinander vereint. Eine gerechte soziale DDR, in der die Menschenrechte respektiert werden. In der die Bevölkerung Mitspracherecht hat. Eine Demokratie ohne Stasi-Terror. Wir wurden ja alle in eine Welt hineingeboren, in der es immer nur zwei deutsche Staaten gab. Dass daraus jemals ein gemeinsames Land werden würde, lag jenseits unserer Vorstellungskraft.

Der Westen drang in Form von Bananen, schnellen Autos, schicken Klamotten, tollen Möbeln und mit Geld winkenden Kapitalisten ins Land. Nazikader witterten ihre Chance, zogen in den Osten, rekrutierten und schulten die immer größer werdende Naziszene. Dazu kamen Unmengen windiger Verkäufer. Den Ossis konnten sie alles aufquatschen. Auch alle möglichen Kriminellen witterten ihre große Chance. Vom Bankräuber über Trickbetrüger bis hin zum Immobilienspekulanten: Jeder wollte im Osten das schnelle Geld machen. Die maroden Volkseigenen Betriebe wurden geschlossen und abgewickelt. Aus Industriezentren wurden Arbeitslosenzentren. In Folge kam es zu einer erneuten riesigen Völkerwanderung von Ost nach West. Allein aus Halle (Saale) zogen in der Folgezeit fast 90.000 Personen, also etwa ein Drittel der Einwohner*innen, auf der Suche nach Arbeit oder einem besseren Leben in den Westen.

Ganz anders sah es in der subkulturellen Szene aus. Für Punks und Hausbesetzer*innen waren die Zeiten nach der Wende, wenn man von den Problemen mit den Nazis absieht, geradezu paradiesisch. Das zog auch immer mehr Westpunks in den Osten. Die Ex-DDR-Szene wurde nun mit allerlei unschönen und bis dahin unbekannten Marotten konfrontiert. Sich vor einen Einkaufsmarkt zu setzen und mit „Haste ma ’ne Mark“ fremde Menschen anzubetteln, die als Spießbürger verachtet wurden, war eine davon. So was gab es in der DDR-Punkszene nicht. Dazu waren wir viel zu stolz, Punks zu sein. Doch gerade diese Art Bettelpunks verbreiteten sich immer mehr in allen größeren Städten. Ein weiteres Problem, das in den Osten rüberschwappte, waren Drogen aller Couleur. Nicht nur in der Punkszene, aber leider eben auch dort. Immer mehr unangenehme Menschen nahmen inzwischen das Punkoutfit an. Auch was das Randale-Potential betraf, gab es nun keine Grenzen mehr. Manche Punkfestivals hinterließen komplett verwüstete Dörfer oder Stadtviertel und verzweifelte Veranstalter. Alles schwappte ins Extreme. Ratlosigkeit herrschte.

Grenzenlose Randale-Stimmung und sinnlose Zerstörungswut im rechtsfreien Raum? Erklärungsversuche: Der tägliche Stress mit Spießern. Die tägliche Bedrohung durch Nazis. Der immerwährende Kampf mit ihnen. Oft allein auf weiter Flur. Als einziger im Dorf, in der Kleinstadt oder im von Faschisten beherrschten Stadtviertel. Tägliche Gewalt. Brutale Übergriffe. Unter den Augen der tatenlosen Polizei. Unter den Augen der glotzenden Normalbürger. Und plötzlich sind die Punks in der Überzahl. Zu Tausenden. Das ergab einen nicht aufzuhaltenden Eigenlauf. „Jetzt bekommen die alles zurück. Hier und heute haben wir die Macht. Uns kann keiner was. Wir lassen uns nicht unterkriegen. Und das zeigen wir allen. Wir erschaffen unsere eigenen Chaostage.“ Leider ohne Rücksicht auf Verluste. Ohne Rücksicht auf natürliche Grenzen. Ohne Rücksicht auf die aus den eigenen Reihen kommenden Veranstalter.

Ein großer Teil der alten DDR-Punks legte in dieser Zeit sein Punkoutfit ab. Sie wollten sich nicht mehr mit dieser Art Punks identifizieren. Ich spreche natürlich nicht von der gesamten Punkszene, sondern nur von einem Teil. Dieser dominierte aber leider eine gewisse Zeit lang das Straßenbild. Für uns „Alte“ hatte das nichts mit Punkrock zu tun. „Wenn Sid Vicious den Punk nicht erfunden hätte, wären die genauso dreckig“, war unser geflügeltes Wort dafür. Umso froher war ich, wenn ich immer wieder auf Enklaven wie zum Beispiel Torgau stieß, in denen die alten Werte des Punk noch hochgehalten wurden. Denn mein Herz schlug und schlägt nach wie vor für Punk. Punk verkörpert für mich Kreativität, Freiheit, Musik, Kunst, Widerstand, DIY und Selbstbestimmung.

In meinem Buch berichte ich von längst vergangenen Zeiten, die in dieser Form sicher einzigartig waren. Ein ganzes Land zwischen Aufbruch und Randale. Zwischen Hoffnung und Resignation. Ein Land, eine Subkultur auf der Suche nach sich selbst und nach der Zukunft.

Die Auswirkungen sind bis heute zu spüren. Viele der damals entstandenen Kneipen, Clubs und AJZ sind inzwischen etabliert. Manche Veranstalter managen heute Großveranstaltungen, die weit über die subkulturelle Szene hinaus wirken. Und vieles, was damals subkulturell war, ist heute Mainstream.

Der zerstörte Palast der Republik in den 1990er Jahren in Berlin

Da sich das Rad der Geschichte immer weiterdreht, gehen manche Erlebnisse und Geschichten weit über die Nachwendezeit hinaus. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, einige Kapitel nicht zeitlich zu begrenzen.

Wie alle Zeitzeugengeschichten spiegelt dieses Buch ganz persönliche, subjektive Erlebnisse, Wahrnehmungen und Erfahrungen wieder. Die hier niedergeschriebenen Erinnerungen sind teilweise über 30 Jahre alt und wurden von mir im Zuge der Wiederaufarbeitung und mithilfe von Zeitzeug*innen und Zeitungsartikeln so realitätsnah wie möglich geschildert. Wie mich die Erfahrung lehrt, haben Menschen über lang zurückliegende Ereignisse verschiedene Erinnerungen abgespeichert.

Die Erinnerungen in diesem Buch sind die meinigen.

Dasselbe gilt für die Zeitzeug*inneninterviews. Ich habe mich entschlossen, diese in keinster Weise zu zensieren. Somit geben die Erinnerungen der befragten Zeitzeug*innen ein autarkes Bild ihrer Sicht wieder und müssen nicht unbedingt mit meinen oder oder den Erinnerungen anderer Zeitzeug*innen konform sein.

Ostpunk: Alüt mit Ratte

ANKUNFT IM „GOLDENEN WESTEN“


„Geralf komm sofort!“ Ausreise-Telegramm


Indentitäts-Bescheinigung zur Ausreise in die BRD

Sektkorken knallten auf dem Bahnhof in Wolfsburg. Ein Freund, der schon 1984 ausgereist war, hielt noch viele Sektflaschen in den Händen. Meine „Fast-Frau“ Antje, die mich beinahe durch eine Scheinehe aus der DDR herausgeheiratet hatte, empfing mich jubelnd. Endlich war ich im Westen angekommen. Der Weg dorthin war steinig. Er führte mich durch viele Verhöre der Staatssicherheit über Umwege als politischer Gefangener in den DDR-Knast. Doch nun hatte ich es geschafft. Ich war gespannt auf das fremde Land, in das schon so viele meiner Freunde ausgereist waren. Bunte Lichter und Werbetafeln mit den bis dahin unzugänglichen Westprodukten empfingen mich in Braunschweig. Was wird mich hier erwarten? Normalerweise kamen alle Abgeschobenen, Freigekauften und Ausgereisten in das Erstaufnahmelager in Gießen. Das lehnte ich aber kategorisch ab. Ich hatte keinen Bock mehr, eingesperrt zu sein. Keinen Bock mehr auf DDR-Bürger. Keinen Bock mehr auf den Osten. In ein Lager wollte ich nicht gehen. So führte mich mein Weg direkt wieder in eine Außenseiterrolle. „Sie müssen in das Aufnahmelager in Gießen“, sagten sie mir auf allen Ämtern, die ich aufsuchen musste, um „richtiger“ BRD-Bürger zu werden. Ich weigerte mich. Und siehe da, es gab eine Möglichkeit. Alle erforderlichen Behördengänge ließen sich auch in Braunschweig erledigen. Es dauerte zwar etwas länger und ich musste viel diskutieren, aber so nach und nach hatte ich alle notwendigen Papiere in der Hand.

Der Westen faszinierte mich am Anfang. Aber er überforderte mich auch komplett. Alles, was ich 25 Jahre als DDR-Bürger gelernt hatte, galt hier nicht mehr. Damit meine ich nicht die sozialistische Propaganda, sondern meine Lebenserfahrung. Einkaufen wurde zum totalen Stress. Zu einer Grenzerfahrung. Beim Bäcker gab es plötzlich Unmengen verschiedener Sorten Brot und Brötchen. In der DDR gab es immer nur eine Sorte Brötchen und eine Sorte Brot. Und das DDR-weit. Beim Fleischer gab es zigtausend Sorten Wurst und Fleisch. Im Osten gab es fast keine Auswahl. Höchstens wenn man Beziehungen hatte. Fliesen gegen Wurst und Fleisch. „Können Sie meinen Fernseher reparieren? Dann muss ich nicht acht Wochen auf die Reparatur warten.“ Im Gegenzug bekam man dann etwas von der „Bückware“. Also Ware, zu der der Fleischer sich dann unter die Ladentheke bücken musste, um sie heimlich hervorzuholen. In Papier verpackt, sodass niemand sehen konnte, was im Päckchen war. Selbst der bevorzugte Käufer wusste nicht, was er kaufte. Ich war vollkommen überfordert vom riesigen Angebot an Obst, Gemüse und Käse. In der DDR gab es meistens nur eine Sorte Käse und bei Obst oder Gemüse kaufte man das, was vorrätig war, sofern es überhaupt etwas gab. Meistens ging man mit leeren Händen aus dem Laden. Hier wurde ich von der Warenvielfalt fast erschlagen.

Der erste Hamburger im „goldenen Westen“

Als ich den ersten Punk in Braunschweig sah, ging ich freudestrahlend auf ihn zu und sprach ihn an. Da er sehr reserviert reagierte, fragte ich zur Gesprächsauflockerung pro forma nach einem Schluck Bier. Das war in der gesamten DDR die ganz normale, tägliche Kontaktaufnahme der subkulturellen Jugendlichen untereinander. So kam man überall schnell ins Gespräch. Dieser Zusammenhalt war selbstverständlich und überlebensnotwendig in der Diktatur des Proletariats. „Kauf dir dein Bier doch selber!“, lautete die unerwartet unfreundliche Antwort. So etwas hatte ich weder in meiner gesamten Zeit in der DDR-Subkultur noch in der ungarischen oder tschechoslowakischen Szene zu hören bekommen. Mein Interesse daran, diesen, ersten „Westpunk“ kennenzulernen, sank im selben Moment gegen null. „Hier scheinen die Uhren anders zu ticken“, ging es mir durch den Kopf.

Ständig war ich überreizt und fand mich nicht wirklich in der neuen Welt zurecht. Von früher ausgereisten Punks wusste ich, dass so etwas als „Mauerpsychose“ diagnostiziert werden kann. Also ging ich in Braunschweig erst einmal zum Psychiater. Wie schon auf allen Ämtern der Stadt war ich auch in der Arztpraxis der Erste mit solch einem Anliegen. Der Arzt konnte mit mir nichts anfangen und schickte mich nach Hause. Da ich eine Adresse von einem Arzt in Westberlin hatte, der sich auf diese Art Psychose spezialisiert hatte, entschloss ich mich, nach Westberlin zu trampen. Leider lag Westberlin inmitten der DDR. Mich schauderte bei dem Gedanken, wieder durch dieses verhasste Land fahren zu müssen. „Was, wenn die mich auf der Transitstrecke aus dem Auto zerren?“ In Helmstedt staute sich der Verkehr an der Ostgrenze. Viele Tramper und Tramperinnen sprachen die Autofahrer an und suchten eine Mitfahrgelegenheit. Ich hatte Glück. Zwei Frauen, um die 30 Jahre alt, alternativ aussehend, nahmen mich mit. An der Grenze hatte ich ein sehr ungutes Gefühl, aber die Grenzer ließen uns passieren. Ich hatte ja inzwischen einen westdeutschen Pass, gehörte nun offiziell zwar zum Klassenfeind, aber war als Einzelperson nicht mehr interessant. Froh über die verhältnismäßig unkomplizierte Grenzüberschreitung fuhr ich nun in einem Westauto durch mein altes Heimatland. Doch meine Freude war nicht von langer Dauer. Nicht weil die feindliche Staatsmacht außerhalb des Autos lauerte. Nein, ich musste erkennen, dass ich aufgrund meines Geschlechts zur Zielscheibe wurde. Die beiden Frauen begannen ein Gespräch darüber, ob es im Osten eine Frauenbewegung gebe und klärten mich über Sexismus in der DDR auf. Ich wusste zunächst so gar nicht, was diese beiden Damen von mir wollten. Da ich keine Antworten geben konnte, ob es in der DDR eine Frauenbewegung gab oder nicht, fingen sie an, mich zu beschimpfen. „Warum haben diese beiden Frauen mich überhaupt mitgenommen?“, ging es mir durch den Kopf. Sie erinnerten mich mehr und mehr an die besoffenen Proletarier-Frauenkollektive, die sich jedes Jahr am 8. März, dem Internationalen Frauentag, gemeinschaftlich während der Arbeitszeit in den DDR-Produktionsstätten volllaufen ließen und jeden, der vorbeikam, mit vulgären Sprüchen belästigten. Oh, wie ich den 8. März in der DDR hasste. Doch hier im Auto saßen keine vollgesoffenen Proletinnen untersten Niveaus. In der DDR hätte ich die zwei Frauen aufgrund ihrer Optik eher in die alternative kirchliche Friedensbewegung eingeordnet. Am liebsten wäre ich ausgestiegen, aber das war mitten auf der Transitstrecke nicht möglich. Eingesperrt in einem Westauto auf der DDR-Autobahn. Na danke. Die beiden Damen im Auto meckerten immer noch auf mich ein. Weil ich ihnen keine Antwort auf ihre Fragen geben konnte, fühlten sie sich immer mehr in ihrer Meinung bestätigt. Alle Männer seien Sexisten. Sonst würde ich ja von den unterdrückten Frauen in der DDR etwas wissen. Da sie mich inzwischen nur noch anbrüllten, war ich froh, als endlich die Grenze zu Westberlin in Sichtweite war. Die Kontrolle durch den Grenzbeamten nahm ich gar nicht mehr wirklich wahr. Sobald wir die Grenze passiert hatten, flüchtete ich aus dem Auto. Ich verstand den Westen und die darin lebende Bevölkerung immer weniger. Der Westberliner Psychologe allerdings verstand mich. „Sie haben eine Mauerpsychose“, sagte er und schrieb mich drei Monate krank. Damit ich erst mal im Westen ankommen konnte.

1989 beim Bizarre-Festival auf der Loreley

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