Kitabı oku: «Die Zeit auf alten Uhren», sayfa 4

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Was ich damals nur dunkel ahnen konnte, kann ich heute mit hundertprozentiger Gewissheit beschwören: Solche Bäume wachsen nicht mehr. Diese mir unvergesslichen Damen Vogelsang haben sich in das Schicksalswissen, einer untergehenden Spezies anzugehören, hineingewickelt wie in ihre zahllos übereinander getragenen rosafarbenen Unterröcke und wehenden Reformgewänder. Und sie trugen dieses Wissen mit der ihnen eigenen Würde. In ihrem Stolz wussten sie, dass bald die ganze Welt über sie hinweg trampeln würde, denn mit diesen drei liebenswerten Vogelscheuchen irgendwo aus dem hohen Norden, von denen niemand weiß, was aus ihnen geworden ist, starb eine ganz bestimmte Gattung der Sommerfrischler. Es war jene Spezies, die in Habitus und Kleidung einem geheimnisvollen Ritual gefolgt war, das mit seinem bescheidenen Glanz für jeden heutigen Touristen und dessen verwöhnte Ansprüche ein ewiges Enigma bleiben wird. Das bezaubernd Rätselhafte daran liegt nämlich weit jenseits der Verstehensgrenze jener, die sich zwar unendlich wichtig vorkommen, dabei aber ihre eigene Bedeutungslosigkeit so wenig erkennen wie ihre Vulgarität.

Madame Schaumlöffl

Ungelogen: Sie hieß wirklich Schaumlöffl, Maria Magdalena Schaumlöffl, und sie war das einzige Kind des Zuckerbäckers August Schaumlöffl und seiner Ehefrau Martha, geborene Sterzel. Wer damit angefangen hat, das Fräulein Schaumlöffl mit Madame anzusprechen, ist heute nicht mehr mit hundertprozentiger Sicherheit zu eruieren. Möglicherweise hatte meine Tante Mirtel die Hände im Spiel, denn sie liebte solche Spötteleien. Genaues weiß man nicht, aber ich habe da so einiges munkeln hören. Und es wäre auch nicht die erste Angelegenheit gewesen, bei der sie im Hintergrund nicht tüchtig mitgemischt hätte. Fest steht nur, dass sich diese Form der Anrede rasch etablierte und, wie übereinstimmend befunden wurde, der Respekt gebietenden Erscheinung der tüchtigen Geschäftsfrau sogar durchaus angemessen war.

Madame Schaumlöffl also, eine glänzend im Strumpf stehende Enddreißigerin, die wie eine resche Mittzwanzigerin aussah, war durch Schleckereien reich geworden. Sie hatte bei ihrem Vater, einem weithin angesehenen Zuckerbäcker, das Handwerk gründlich gelernt und eines Tages, als der Alte begann, die Zutaten zu verwechseln, das elterliche Geschäft übernommen und zu dem gemacht, was es heute in der Welt der Feinschmecker ist: ein Begriff. Wo immer Madame Schaumlöffl aufkreuzte, und es gab eine Zeit, in der sie kein gesellschaftliches Ereignis zwischen Bayreuth und Salzburg ausließ, tuschelte man nicht nur über ihr fabelhaftes Aussehen, denn sie war so gesund und rotbackig wie ein Mädel vom Land, sondern auch über den Umstand, dass Madame Schaumlöffl nie geheiratet hat, also eigentlich eine Mademoiselle Schaumlöffl war.

Ihre große Liebe, der Patissier Jacques, erster Geselle ihres Vaters, ein hochbegabter Franzose aus Savoyen, von dem sie nur den Vornamen kannte, hatte sich, obgleich er ihr mit allerlei französischen Schöntuereien die Ehe versprochen, kurz vor Bestellung des Aufgebotes mit der Ladenkasse auf Nimmerwiedersehen aus dem Staub gemacht, so dass die auf schnöde Weise Sitzengelassene nie den vollen Namen ihres Angebeteten erfuhr, denn selbstverständlich waren seine nachlässig zurückgelassenen Papiere gefälscht. So blieb sie also ledig, konzentrierte sich umso eifriger auf das Geschäft, stellte nur noch italienische Gesellen ein und machte ihrem sprechenden Namen mehr und mehr Ehre.

Bis sie eines Tages auf Stefano Lavarone stieß, einen Reisenden in Sachen Damenunterwäsche. Dieser Bonvivant aus Mailand führte nur feinste, hauchdünne Modelle in seinem Musterkoffer mit sich, eines sündhafter, ja verruchter als das andere, und samt und sonders französische Marken, die nicht nur für Qualität, sondern auch für hohe Preise bürgten und die auszusprechen einem die Schamröte über die Zunge trieben.

Wie Lavarone es angestellt hat, dass ihn Madame Schaumlöffl bei sich zu Hause empfing, ist nicht bekannt geworden. Auffällig war nur, dass er bereits nach dem zweiten Besuch bei ihr übernachtete. Im Gästezimmer, wie sie ausdrücklich gegenüber ihren Freundinnen betonte, mit denen sie sich, so oft es ihre Geschäfte zuließen, zum Kaffeekränzchen traf.

Lavarone freilich war ein Hallodri. Das sah man ihm auf Anhieb an: souveränes Auftreten, geschmeidige Bewegungen, glutvolle Augen, Brillantine im Haar, ein gepflegtes Menjou-Bärtchen, elegantes Äußeres und einen schmachtenden Blick, mit dem er offenbar jede Frau für sich und sein ebenso kostspieliges wie leicht frivoles Angebot einnehmen konnte. Er sprach Deutsch mit einem italienischen Akzent, was für sein Geschäft zweifellos einträglicher war als lupenreines Hochdeutsch mit hannoveraner Einschlag. Wenn er beispielsweise das Wort Mieder aussprach, hatte man den Eindruck, er parliere nicht nur von der Verpackung, sondern auch gleich vom Inhalt. Dabei setzte er vor allem seine in der Luft allerlei Gestalten formenden Hände ein, gestikulierte herum, fuchtelte, deutete, schmeichelte, speichelte, streichelte, ließ seine gepflegten Finger wie ein Paganini spielen, wedelte und tätschelte, als gelte es, dem Teufel eine Seele zu gewinnen. Er konnte einem einen Knopf ans Ohr quasseln: ein typischer Vertreter eben.

Was er Madame Schaumlöffl alles aufgeschwatzt und angedreht hat, konnte man nur ahnen, wenn gelegentlich – wie aus purem Zufall – irgendwo eine zarte Spitze hervorlugte, denn die Dame hielt sich strikt an das Eisberg-Prinzip: der wichtigste Teil blieb unsichtbar. Hin und wieder glaubte man auch, ein geheimnisvolles seidenes Rascheln zu vernehmen, wenn Madame sich bückte oder auf eine Staffelei stieg, um aus den oberen Regalen etwas herunterzuholen. Sobald man jedoch dieses Geknisters gewahr wurde, dachte man unwillkürlich an Stefano Lavarone, und man hatte das Bedürfnis, umgehend die Beichte abzulegen.

Der Milanese war nämlich, nicht wie sonst üblich, nach wenigen Tagen des Aufenthaltes im Blauen Land weitergezogen, sondern er war geblieben. Und zwar im Hause der Madame Schaumlöffl, und es hatte nicht lange gedauert, bis er bei den Honoratioren am Stammtisch einen festen Platz erobert hatte und naturgemäß das große Wort führte. Dabei ging es – außer in einigen frivolen Herrenwitzen zu vorgerückter Stunde – nicht mehr um Damenunterwäsche, sondern um Grundstücke, und es sollte sich herausstellen, dass besagter Lavarone auch dafür einen Riecher hatte. Zunächst vermittelte er Wohnungen zu Freundschaftspreisen: unter der Hand, versteht sich. Kein halbes Jahr später hatte er bereits ein kleines Büro, schaffte sich eine energische Sekretärin an, die das Telefon bediente, und betrieb einen schwunghaften Handel mit einer neuen Mode, die sich Ferienwohnungen nannte, zu der auch Urlaub auf dem Bauernhof kam. Längst hatte Lavarone einen Sitz im Gemeinderat und saß, wie praktisch, dem Bauausschuss vor. Als der Vorsitzende des Skiklubs von einem Herzinfarkt gefällt wurde, rückte der selbstlose Italiener nach und sorgte dafür, dass sich nicht nur neue Skilifte in die Steilhänge fraßen, sondern auch namhafte Wettkämpfe ins Blaue Land kamen, die via Fernsehen in alle Welt übertragen wurden. Da es aber beim Wintersport bedauernswerterweise immer wieder zu Knochenbrüchen kam, verfiel die Gemeinde auf die glorreiche Idee, eine Spezialklinik mit angeschlossenem ReHa-Zentrum zu bauen. Dafür infrage kam aber kein kommunaler, sondern ein privater Bauträger. Wie dieser heißen sollte, war kein Geheimnis. Die Bäume des Stefano Lavarone schienen in den Himmel zu wachsen, und Madame Schaumlöffl, die auch nach der pompösen Hochzeit mit weißer Kutsche, Schimmeln und beinahe kirchturmhoher Torte weiterhin ihre Zuckerbäckerei betrieb, zu der sich mittlerweile zahlreiche Filialen gesellt hatten, wurde immer runder, rotbackiger und stolzer.

Was einzig fehlte war ein Bambino, ein Stammhalter, obwohl der Italiener hundertfach versprochen hatte, seiner Angebeteten zu zeigen, wie man Tango im Liegen tanzt. Ein Knäblein sollte es werden, das einmal übernehmen sollte, wofür sich seine Erzeuger krumm gelegt hatten. Doch ein solcher Kronprinz wollte und wollte sich, porca miseria, nicht einstellen.

Angesichts dieses einzigen Wermutstropfens im Goldpokal des Schaumlöffl-Lavarone-Kartells meldete sich, zuerst ganz zart, so etwas wie Trübsal im Gemüt der Rotwangigen. Die Trübsal nahm, wie Madame, zu, denn Madame begann, Pillen zu schlucken, die ihr ob einer beginnenden Schwermut die Frauenärztin verordnet hatte. Doch alles was beruhigt, macht dick, hatte die Frau Doktor dunkel aber wahrheitsgetreu geraunt, und so geriet Madame Schaumlöffl allmählich zur Madame Dampfnudel. Die fachärztliche Erkenntnis, dass die Kinderlosigkeit nicht etwa ihrer weiblichen Infertilität geschuldet war, sondern am kalten Samen von Signore Lavarone lag, erschütterte die geschäftlich überaus erfolgreiche Zuckerbäckerin zutiefst. Dieser ganz mit seinen diversen Posten, Pöstchen und Gschaftlhubereien, sehr diskret freilich auch mit seiner neuen Sekretärin beschäftigte Tausendsassa hielt das für eine glatte Fehldiagnose meiner Tante Mirtel, unterstellte ihr überdies allerlei böse Absichten und Hintergedanken, nannte sie selbst eine vertrocknete Spinatwachtel, und begann, sich – als Gegenbeweis – hormonell auszutoben, so dass ihm bald der Spitzname „Häuptling offene Hose“ vorauseilte. Weibliches Personal wollte nicht länger mit ihm alleine im Treppenhaus sein. Dafür stieg sein Ansehen an den Stammtischen, und es wirkte sich auf die Inhalte sowie die sprachliche Ausgestaltung diverser Herren- und Kasinowitzchen aus.

Auf dem Höhepunkt seiner wirtschaftlichen und politischen Karriere, als schon der Einzug in den Bayerischen Landtag unmittelbar bevorstand, welchselbiger nur als eine Vorstufe zum Rang eines Staatssekretärs oder gar Ministers gedacht war, ereilte Stefano Lavarone, den gelernten Hausierer in Sachen Damenunterwäsche, ein schwerer Schicksalsschlag in Gestalt einer frühreifen Fünfzehnjährigen, deren geradezu sensationell zu nennende körperliche Entwicklung zahlreiche Herren der Gemeinde wohlwollend und aufmerksam beobachtet und naturgemäß wortreich mit einschlägiger Terminologie kommentiert hatten.

Das überwiegend kurzberockte Wesen mit unendlichem langem, edel geformtem Fahrgestell und beträchtlich ausgefüllten Pullovern respektive Blusen war als Lehrmädel in der Zuckerbäckerei von Madame Schaumlöffl angestellt. Dorthin aber, wohin es den Milanese zog, ruhte die Hand des Staatsanwaltes, die der Südländer in rauschhafter Wallung flugs beiseiteschob, denn ihm war noch kein noch so enges Tor verschlossen geblieben.

Wer hier wen wozu verführt haben mag, bleibe dahingestellt. Jedenfalls stellte meine Tante Mirtel als Hausärztin von Madame Schaumlöffl, die sich von Anfang an aus einem angeborenen mütterlichen Instinkt heraus des naiven Vögelchens angenommen hatte, nach einer kurzen Untersuchung routiniert und zweifelsfrei fest, dass ein Braten in der Röhre, Nachwuchs in Sicht und das junge Ding in der Hoffnung war.

Lavarone, der unter Heulen und Haareraufen ein melodramatisches häusliches Geständnis ablegte und dabei den Verführten, ja den Hereingelegten mimte, schlug seiner Holden vor, das Lehrmädel zu adoptieren, doch Madame Schaumlöffl lehnte es ab, auf einen Schlag Mutter und Großmutter zugleich zu werden, denn immerhin würde Lavarone dann seine – wenn auch adoptierte – Tochter geschwängert haben.

Im Blauen Land bleibt ein Geheimnis nicht lange geheim. Als die Sache ruchbar wurde und staatsanwaltliche Briefe ins Haus flatterten, legte der Gemeinderat dem Vorsitzenden des Bauausschusses nahe, von seinem Amt zurückzutreten. Überhaupt wurde das Wort „Rücktritt“ jetzt der wichtigste Begriff in der einstmals so steil bergauf führenden Karriere des Stefano Lavarone. Es ging nämlich von jetzt auf gleich bergab. Und zwar rasant. Binnen Jahresfrist kam es nicht nur zu einer Taufe, sondern auch zu einem Gerichtsverfahren, dem ein Scheidungsprozess folgte.

Madame Schaumlöffl nahm die junge Mutter und deren Leibesfrucht, einen prachtvollen glutäugigen Jungen mit südländischem Einschlag, unter ihre großmütterlichen Fittiche, fühlte sich endlich am Ziel ihrer fraulichen Wünsche, denn sie hatte nun Kind und Kindeskind, die Nachfolge der Zuckerbäckerei war gesichert, das vormals naive Vögelchen entwickelte sich zur tüchtigen Geschäftsfrau, blieb solide und schickte ihren Sprössling mit Omas finanzkräftiger Unterstützung bald auf ein teures Internat irgendwo am Genfer See.

Lavarone wurde verurteilt, nahm das Urteil unter Heulen und Zähneknirschen an, verzichtete auf Revision, erhielt jedoch nie Besuch im Gefängnis, wo er sich bald die einflussreiche Position eines Kalfaktors erquasselte. Nachdem er seine Strafe abgesessen hatte, verließ er um etliche Jahre und einige Erfahrungen reicher das Blaue Land just mit jenem Musterkoffer in der Hand, mit dem er einst eingezogen war. Man hat nie mehr etwas von dem Mann mit der flinken Zunge gehört, denn die Zeit der Hausierer in Sachen Damenunterwäsche war abgelaufen.

Furi

Furi heißt man nicht, Furi war nur der Spitzname. Der richtige Name von Furi war Siegfried: wie zum Hohn, denn er war alles andere als ein blonder germanischer Held und Nibelunge. Er war ein zaunlattendürres Büblein mit einem blassen Gesicht, das wie aus Knetmasse schien und aus dem ungewöhnlich brennende Augen leuchteten, die in merkwürdigem Kontrast zu einem abscheulich fuchsroten Haarschopf standen, der in diversen Wirbeln aus einem offensichtlich zu klein gebliebenen Schädel spross. Mit seinen Eltern wohnte er über der Freibank, wo es nach Schweineblut roch und nach frisch Geschlachtetem. Man hätte meinen können, Furis Vater sei der bei der Gemeinde angestellte Metzger gewesen, dem eine Dienstwohnung unmittelbar über seinem Arbeitsplatz zustand, doch dieser Mann war mit nur einem Arm aus dem Krieg heimgekehrt und übte jetzt einen der am tiefsten verachteten Berufe aus. Er war Fremdenführer. Ein einarmiger Fremdenführer, der den Kurgästen im stets ein wenig feuchtfröhlich klingenden rheinländischen Singsang die erbärmlichen Sehenswürdigkeiten des Ortes, worunter eine Burgruine sowie eine zerfallende Hammerschmiede zählten, und den kürzesten Weg zwischen den Gasthöfen zeigte. Das kam in Rang und Ansehen gleich hinter Zigeuner, Scherenschleifer, Kesselflicker und Abdecker. Und die Wohnung über der Freibank gehörte bei der Gemeindeverwaltung zur Abteilung Armenhaus.

Seinen Spitznamen verdankte Furi nicht etwa jenem schwarzen Pferd, das seinerzeit erstmals in die deutschen Wohnzimmer galoppierte, in denen bereits ein Köter namens Lassie neben dem ewig schwadronierenden Luis Trenker und seinem Geschwafel vom Herrgott und der Steilwand Raum gegriffen hatte. Nein, der schmächtige Siegfried, den die stolzen und reichen Bauernsöhne des Ortes einen Magermilchkrüppel nannten, hieß Furi, weil sein Familienname Fuhrmann lautete. Ein Fuhrmann aber konnte nur ein Bauer mit einem eigenen Gaul sein, und davon war der einarmige Fremdenführer unerreichbar weit entfernt. So wurde aus dem Fuhrmann eben bloß ein Furi, dessen gleichfalls magere und stets kränkliche Mutter in den Wirtshäusern spülte und die Latrinen reinigte.

Es war damals üblich, alles, was nicht aus dem Dorf stammte, klein zu machen, aber auf die Idee, den Siegfried beispielsweise auf einen Siggi zu stutzen, ist keiner gekommen. Diejenigen, die man verachtete, die nannte man beim Familiennamen. Die christlichen Vornamen blieben den Besitzern der Felder, der Wälder und der Fremdenpensionen vorbehalten. Wer etwas besaß, der hatte auch einen Vornamen. Etwas zu besitzen war eben die Voraussetzung dafür. Ohne Besitz blieb man namenlos, und statt des verballhornten Familiennamens hätte es auch die Hausnummer getan, aber die Freibank hatte keine Hausnummer, denn sie war ja nichts weiter als eine gemeindeeigene Einrichtung zum Verkauf von minderwertigem, deshalb im Preis erheblich herabgesetztem Fleisch, das sich Notschlachtungen verdankte. Der Fleischbeschauer, meist der Bezirksveterinär, hat es in der Regel nur als „bedingt tauglich“ eingestuft, und was nicht über die Ladentheke ging, wurde zu Hundefutter verarbeitet. Gekauft wurde das billige Freibankfleisch von den kleinen alten Leuten mit den schmalen Kriegs- und Versehrtenrenten, Armenhäuslern mithin, die dafür auch noch Schlange stehen mussten, damit auch jeder sie begaffen konnte.

Furis Vater hat die Sommerfrischler freilich nie in die Gegend geführt, in der er gewohnt hat. Er schwärmte lieber von der Majestät der Alpen und hatte durchaus ein Auge für eine weibliche Frohnatur in seiner Kundschaft. Und eine war garantiert immer dabei. Furi war arglos und folgsam, seine Schrift war sorgfältig aus Angst davor, etwas falsch zu machen, freilich tat er sich ein wenig schwer mit dem Rechnen, schrieb dafür aber mit geschmeidigen Worten phantasievolle Aufsätze und erzählte darin von Höhlen, in denen sich Truhen mit Golddukaten stapelten, er schwärmte von fernen Juweleninseln, von Sklavenkarawanen, Halbblutindianern, von Trapper Geierschnabel, der Pyramide des Sonnengotts, von Satan und Ischariot und von allem, was er in seiner kindlichen Vorstellungskraft miteinander verknüpfen konnte. Furi las nämlich viel, ja, er las fast pausenlos, und zwar mit Vorliebe das, was der Pfarrer im Religionsunterricht als Schundliteratur bezeichnet hatte. Doch Furi blieb mit seinen zwölf oder dreizehn Jahren davon seltsam unbeeindruckt und hielt sich an den dickleibigen, eng bedruckten Schmökern fest, die er unter der Bank versteckte oder im Schulranzen mit sich herumtrug und deren Titel er schneller herschnurren konnte als das Confiteor in der Messe: „Confiteor Deo omnipotenti et vobis, fratres, quia peccavi nimis cogitatione, verbo, opere et omissione …“ Was da auf den Buchdeckeln stand, klang allemal weitaus geheimnisvoller: „Durch die Wüste“, „Durchs wilde Kurdistan“, „Von Bagdad nach Stambul“, „In den Schluchten des Balkan“, „Durch das Land der Skipetaren“ … Mit diesen magischen Worten schien Furi imstande, die Erdachse zu verschieben. Aber woher kamen die Bücher? Es lag doch auf der Hand, dass sich eine Spülerin oder ein einarmiger Fremdenführer keine Bücher leisten konnten, und seien es noch so windig gebundene Exemplare. Woher stammten sie also? Hatte Furi sie geklaut? Aber wo? Wer in aller Welt hätte im Blauen Land solche Schwarten besitzen sollen, die vom Tal des Todes erzählten, von Derwischen, dem Löwen der Blutrache, dem Sand des Verderbens oder vom Rio de la Plata? Was war das überhaupt: Rio de la Plata?

Furi trug eine Brille, natürlich mit Kassengestell und wurde deshalb gelegentlich auch Brillenschlange gerufen. Wenn er las, schienen die dicken Gläser anzulaufen, und man hätte glauben können, das schmächtige Bürschlein entziffere die Buchstaben wie durch einen Nebel, aber das Beschlagen der Brille rührte vom Eifer der Lektüre, welcher die Knabenstirn über Gebühr erhitzte. Ansehen erwarb sich Furi nicht mit seiner Leidenschaft – im Gegenteil. Wenn einer sportlich eine Flasche war und weder für die Elite, die Fußballmannschaft gewählt noch aufgestellt werden konnte, dann taugte er nur noch dazu, gehänselt zu werden. Wozu wäre so ein Magermilchkrüppel auch sonst gut gewesen? Dürr, rothaarig, Brillenschlange: das genügte. Und dann auch noch diese Bücher. Also machten sich die Bauernsöhne einen Spaß daraus, Furi nach der Schule tüchtig zu verprügeln. Die Lust, den Schwachen zu peinigen, entwickelte sich zur neuen Sportart. Nur die Champions blieben dieselben, die auch den Fußball dominierten. Schon während der großen Pause hatten sie Furi aus nichtigem Grund angerempelt und ihm befohlen, sein Butterbrot in den Dreck zu werfen. Weil er sich standhaft geweigert hatte, war einem von den Größeren einfach die Hand ausgerutscht und derart heftig klatschend in Furis Gesicht gelandet, dass seine Stulle ganz ohne sein Zutun auf den Schulhof flog. Der Lehrer war dazu gestoßen, hatte Furi sogleich an den Ohren gezogen und ihm die Leviten gelesen: er solle sich schämen, derart verächtlich mit Brot umzugehen. Kinder in Afrika würden dankbar sein … Furi war gar nicht dazu gekommen, den wahren Hergang zu erklären, denn der Lehrer glaubte ihm ohnehin kein Wort. Wer blass und rothaarig war, von der Freibank kam, wer einen einarmigen Fremdenführer als Vater hatte und als Mutter eine, die Latrinen säuberte, wer sich überdies noch anmaßte, Bücher zu lesen, dem konnte man nicht glauben. Der log, sobald er sein Maul auftat. So kam es, dass Furi außer seinen Büchern keine Freunde hatte. Die Mitschüler verspotteten ihn, sie schalten ihn einen Lügner, wenn er von der Sklavenkarawane erzählte oder vom Sand des Verderbens, wenn er die Derwische tanzen ließ oder die Pyramide des Sonnengotts bestieg. Und wer lügt, dem war alles Schlechte zuzutrauen. Der Pfarrer hatte sie mit diesen Worten gewarnt: „Wer lügt, der stiehlt und kommt in d'Höll und wird des Teufels G'sell.“ Daraus folgte: Furi musste seine Bücher gestohlen haben. Aber er schwieg zu den Vorwürfen, und es gelang auch nicht, ein Geständnis aus ihm herauszuprügeln.

Viele Butterbrote landeten noch im Dreck, und auch die Bücher nahmen Schaden, denn Furi musste auf ihnen herum trampeln, man riss Seiten heraus, ja, einige urinierten sogar darauf. Zuerst hatte Furi noch Rotz und Wasser geheult und um Gnade für seine Bücher gebettelt, doch da er nicht erhört worden war, versiegten eines Tages seine Tränen, und er sah stumm diesen Hinrichtungen zu. Sein einarmiger Vater sagte ihm, er sei selbst daran schuld. Warum könne er nicht sein wie die anderen? So schwer sei das doch nicht. Die Bücher hätten ihn verweichlicht und verdorben. Die Mutter schwieg zu alledem und zählte immer wieder ihr Haushaltsgeld. Am Abend, wenn sie ihren schwächlichen Sohn im Bett liegen sah, wenn er eingeschlafen war und sie ihm die Taschenlampe und seinen Schmöker aus der Hand nahm, um sie auf dem Nachtkästchen abzulegen, schossen ihr Tränen in die Augen. So wehrlos lag ihr Siegfried da, und die einfache Frau verstand, warum er nicht glücklich werden würde im Leben. Die Dummen würden ihn, seine Träume und Sehnsüchte, seine Hoffnungen und seine Verzweiflungen nie begreifen, und die Intelligenteren, die Glücklichen und Starken würden sich von seiner Wehrlosigkeit in Frage gestellt sehen, und beide würden ihn weiterhin quälen und an seinem Lebensglück hindern. Was kann eine Mutter in so einem Fall tun, mag sie sich gefragt und dabei eingesehen haben, dass ihr nichts anderes übrig bleiben würde, als weiterhin die Fehler zu machen, die sie bisher gemacht hatte. Von ihrem Mann würde sie keinerlei Hilfe oder gar Verständnis erwarten können. Der fuchtelte lieber mit seinem kümmerlichen Armstummelchen in der Gegend herum, lockte die Kurgäste an wie der Rattenfänger von Hameln und konzentrierte sich bei jedem neuen Sonderzug, der am Bahnhof ankam, darauf, ob nicht vielleicht eine lustige Witwe dabei war, der er mit seinem gesunden Arm und seiner kräftigen Hand, mit der er Furi die üblichen Ohrfeigen gab, das Alpenglühen näherbringen konnte.

Dann kam der Tag, an dem die Klasse einen Ausflug machte. Das Wort dafür hieß Wandertag. Vorher gab es jedes Mal Streit um das Ziel. Die Mädchen wollten Schloss Neuschwanstein besuchen, andere zog es in den Hopferwald zu einem Lagerfeuer unter Aufsicht, die Mehrheit wollte am liebsten gleich auf den Fußballplatz. Aber jedes Mal entschied zuletzt doch der Lehrer, wohin es gehen sollte. Diesmal entschied er sich für die „Große Zwing“. So hieß eine enge Gebirgsklamm, an deren Ende ein Wasserfall aus gewaltiger Höhe von senkrecht überhängenden Wänden über Felsbänke und bizarre Gesteinsformationen in die Tiefe stürzte und in Gischt und Gebraus jeden noch so lauten Schrei verschluckte. Auf halber Höhe führte ein schmaler, in den Felsen gehauener Holzsteg durch die Schlucht und gab den Kurgästen Gelegenheit, dieses grausige Naturschauspiel aus unmittelbarer Nähe zu bewundern. Wenn unter einem der Tiefenbach brodelte und von oben die Wassermassen durch die zu jeder Tageszeit nur spärlich helle Klamm brachen, so vermittelte das dem Besucher ein wohlig schauderndes Gefühl, das ihm für einen Augenblick demonstrierte, wie klein doch der Mensch war im Angesicht der Naturgewalten.

Die vom Lehrer zur Vorbereitung auf den Wandertag im Unterricht erzählte Legende besagte, kurz vor Weihnachten anno 1857 habe ein Jäger namens Schwarzkopf in der Nähe der Klamm einen kapitalen Hirschen geschossen, der dort, wo die Schlucht am unbegehbarsten war, in die Tiefe gestürzt sei. Es sei nahezu unmöglich gewesen, das tote Tier zu bergen, doch habe der Jäger mit Hilfe seines Jagdgehilfen, eines gewissen Seraphim, nichts unversucht gelassen und all seinen Ehrgeiz darein gesetzt, den prachtvollen Zwölfender der Klamm zu entreißen. Schließlich sei es dem tollkühnen Seraphim gelungen, sich an einer Stelle abzuseilen und sich seinen lebensgefährlichen Abstieg durch glitschigen Schnee und kaltes Eis zu bahnen, ein Seil um den Kadaver und sein Geweih zu wickeln, selbst wieder empor zum Licht zu klettern und schließlich gemeinsam mit dem Jäger unter Aufbieten ihrer gesamten Kräfte den Hirsch nach oben zu ziehen, obgleich dieser sich mit seinen Geweihschaufeln mehrfach in den armdicken Eiszapfen verfangen und beide Männer nicht nur der Erschöpfung, sondern auch der Verzweiflung nahe gebracht habe.

Das war eine Geschichte so ganz nach dem Geschmack von Furi, weswegen er in der Nacht auf den Wandertag von schweren Träumen geplagt wurde, immer nur an den Hirsch denken musste, sich als Jagdgehilfe Seraphim sah und seinen einarmigen Vater als den Jäger Schwarzkopf. Doch jedes Mal, wenn es darum gegangen war, den Hirsch ans Licht zu zerren, war sein Traum gerissen wie ein brüchiger alter Filmstreifen, und Furi war schweißgebadet erwacht.

„Die große Zwing“ bot zweifellos ein einzigartiges Naturschauspiel, und oft schon hatte der einarmige Fremdenführer seine Gäste dorthin geführt, sie dann aber den glitschig nassen Pfad allein durchwandern lassen und im Wirtshaus gewartet, wo er ihnen dann nach erfolgreicher Rückkehr wortreich und dramatisch die Entstehung der „Großen Zwing“ geschildert hatte, wobei er die Uhr um mehr als zehntausend Jahre zurückgestellt, von abschmelzenden Gletschern schwadroniert und mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme erzählt hatte, wie der Tiefenbach den Schrattenkalk des Engenkopfes durchsägt habe.

Die Schulklasse brach frühmorgens auf, jeder hatte ein Rucksäcklein geschultert, in dem ein paar Pausenbrote mit Salami sowie ein lästig schwere, in den Rücken drückende Sprudelflasche verstaut waren. Man trug festes Schuhwerk und hatte einen Anorak oder eine Lodenkotze dabei, denn man war immer wieder darauf hingewiesen worden, wie nass der Weg sein und dass es überall vom Gestein herunter nässen würde, als gehe man stundenlang durch einen Landregen. Nur Furi hatte ein paar lumpige Halbschuhe an und kam daher wie ein magerer Flachländer, denn Furis Eltern konnten sich keine Bergschuhe leisten bei einem Buben, der noch im Wachstum war und dessen Füße täglich größer wurden, so dass so ein paar Bergschuhe zum einen nur in der Ecke gestanden hätten, weil Furi niemals in die Berge ging, zum anderen wären sie ihm spätestens nach einem Vierteljahr zu eng geworden, selbst wenn man sie zwei Nummern größer gekauft hätte. Aber die Halbschuhe mit ihren dünnen Sohlen, die bereits nach fünf Minuten auf dem Klammsteig gänzlich durchnässt und wie Lumpen waren, passten zu Furi und seinem erbärmlichen Erscheinungsbild, das er abgab: vor Kälte schlotternd, mit patschnassen Strümpfen, im Handumdrehen blau gefrorenen Knien und einem Fetzen von einem Anorak, der bestimmt nicht aus dem Sportgeschäft stammte, sondern aus einem Haufen von Kleiderspenden für die Caritas.

Der einarmige Fremdenführer und die Frau, die in den Wirtshäusern die Latrinen säuberte, kannten das Salamander-Schuh-Geschäft nur von außen, und Furi hatte sich immer wieder nach den grünen Heftchen von Lurchi Salamander verzehrt und sie nur leihweise lesen können: „Lange schallt's im Walde noch, Salamander lebe hoch!“ Aber er kannte die Helden aus „Lurchis Abenteuern“: Hops, den Frosch und Igelmann, Pieps, die Maus, Unkerich und Zwerg Piping, und wie sie alle hießen. Das letzte kostbare Lurchi-Heft, das er hatte gegen zwei Butterbrote eintauschen können, hatte von einem Schneesturm erzählt und davon, wie Lurchi und seine Freunde zu einer großen Hilfsexpedition für die Tiere im Wald gestartet waren: „Hoch im Baum in ihrem Haus kämpft Familie Haselmaus.“ Dann geht es weiter zum Siebenschläfer, der nichts an die arme Verwandtschaft abgeben will, den Inhalt seiner Speisekammer in einen großen Sack packt, sich damit zu einer Hütte aufmacht, die schneebedeckt an einem Berghang versteckt liegt. Und während Lurchi schon die in einer Schneewehe versteckten Haselmäuse entdeckt und ihnen aus seiner Thermosflasche einen heißen Trank anbietet, wie auch der Lehrer, den man an seinem genagelten Schritt erkennt, dem frierenden Furi einen Schluck Tee aus seiner kriegserprobten, filzummantelten Feldflasche einschenkt, stürzt der Siebenschläfer mit seiner schweren Last auf dem Rücken in eine Gletscherspalte: „Entsetzt sieht das aus nächster Nähe Ferdinand, die Alpenkrähe“. Er bringt die Nachricht sogleich zu Lurchi, und schon wartet ein neues Abenteuer, schon gelingt dank der wetter- und bergfesten Salamanderschuhe eine aufregende Hilfsaktion.

Und während der Lehrer zur Vorsicht mahnt und die Klasse im Gänsemarsch über den nassen Steg durch die Klamm schleicht, fällt Furi in Gedanken an Lurchi ein wenig zurück. Mit seinen lappigen Halbschuhen und seinen nassen Strümpfen kann der Sohn des einarmigen Fremdenführers auch nicht so trittsicher gehen wie die anderen in ihrem festen Schuhwerk. Aber es fällt keinem auf, dass Furi immer weiter zurück bleibt, denn um Furi muss man sich nicht kümmern, der zählt eigentlich gar nicht: weder bei der Auswahl der Fußballmannschaft noch beim Wandertag.

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