Kitabı oku: «Palmengrenzen», sayfa 2

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Aus dem Sammelordner

Die Henkersmahlzeit ist weit mehr als eine ironische Generosität des Rechts. Alle Zeiten kennen sie, und auf allen Erdteilen ist sie zu finden. Lange herrschte die Meinung, das Henkermahl befriedige mehr den „Appetit der Massen für sentimentale Erregung“ als den Hunger des Delinquenten.

Die Geräuschlosen

Ich glaube an Italien. Für eine Weile habe ich in Italien gelebt und war mit einer Italienerin verheiratet, die in Umbrien, genauer gesagt in Gubbio, geboren wurde, der Stadt der Quaranta Martiri. Maria kam vor Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Die erste italienische Stadt, die ich kennenlernte, war Brescello. Der Flecken liegt in der Emilia-Romagna und erschien mir immer wie ein Abbild von ganz Italien, wenn auch in Schwarz-Weiß. Ich kannte die Menschen dieser Stadt, vor allem aber die Kirche, das Pfarrhaus sowie die Casa del Popolo, und ich kannte den katholischen Pfarrer und den kommunistischen Bürgermeister: Don Camillo und Peppone.

Am Ende meiner Tage möchte ich in Italien sterben und dort begraben werden. Ich trinke italienischen Kaffee, liebe italienische Weine, esse italienische Pasta, verwende in meiner Küche ausschließlich italienisches Olivenöl. Jeden Tag frühstücke ich bei einem Italiener, ohne Italien ist mir mein Leben nicht vorstellbar, obwohl ich in der privilegierten amerikanischen Besatzungszone aufwuchs und meine Sozialisation zunächst den Ikonen des Siegers geschuldet war. Doch mit dem ersten italienischen Eis, das ich in einer Gelateria namens Dolomiti lutschte, änderte sich schlagartig alles. Von da an zählte nur noch Italien!

Nichts ist mir widerlicher als die deutschen Vorurteile gegen Italiener: Sie seien allesamt kriminelle Katzelmacher, zu faul zum Arbeiten, hätten nichts als Dolce vita und Makkaroni im Kopf und außerdem die Deutschen im Weltkrieg verraten. Bestenfalls von Autos und Mode verstünden sie etwas, aber das sei auch schon alles. Dummes Geschwätz, sonst nichts. Jetzt bin ich alt und denke immer noch viel über Italien und die Italiener nach. In Italien gab es schon eine Hochkultur, als die Germanen noch auf den Bäumen hockten. Das wenige, das die Deutschen an Sinn für Eleganz und Schönheit haben, verdanken sie den Italienern. Für die Deutschen war Italien nie nur ein Nachbarland unter vielen, es war immer das Land der Sehnsucht und der Selbstfindung. Alle bedeutenden Künstler zog es nach Italien. Goethe erlebte in Rom seine „Wiedergeburt“, und selbst Thomas Bernhard ist auf der Piazza Minerva „ein neuer Mensch“ geworden. Naturwissenschaftliche und philosophische, künstlerische und theologische, politische und musikalische Impulse gingen von Italien aus. La Grande Bellezza ist etwas Italienisches. Trotz all der Verwerfungen in Vergangenheit und Gegenwart: Ich glaube an Italien.

Wie lange es die Mafia schon gibt, ist mittlerweile eine Frage unter Gelehrten. Ich will nicht bis ins 13. Jahrhundert zurückgehen, sondern mich auf die jüngere Geschichte beschränken: Sicher ist, dass die Landung der Alliierten in Italien in Kooperation mit der sizilianischen Cosa Nostra vorausgeplant war, vermittelt durch Lucky Luciano, der in New York im Gefängnis saß und vom Geheimdienst der US-Marine speziell zu dem Zweck befreit wurde, um das Stillhalten seiner Landsleute, der paisà, gegenüber den amerikanischen Soldaten auszuhandeln. Über die Mafia sind viele Lügen erzählt worden, denn keiner kennt die ganze Wahrheit. Darum wird auch manches von dem, was ich hier berichte, unverbürgt bleiben müssen, vielleicht sogar Widerspruch finden. Aber ohne Widersprüche ist auch Authentizität nicht möglich.

Neben dem Thema der Henkersmahlzeit konzentriere ich mich in meiner Arbeit als Privatgelehrter auf Forschungen zum organisierten Verbrechen. Besonders aufschlussreich und anregend war das Studium der Publikationen des palermitanischen Psychiaters Prof. Dr. Girolamo Lo Verso: La mafia dentro: psicologia e psicopatologia di un fondamentalismo (2001) sowie La psiche mafiosa. Storie di casi clinici e collaboratori di giustizia (2002) und La mafia in psicoterapia (2013).

Bei der Lektüre dieser Werke gewann ich Einblicke in verschiedene Geschehensabläufe, die sich den Kenntnissen der offiziellen Gerichtsbarkeit entziehen. Prof. Lo Verso, der Frauen und Kinder von Mafiosi therapiert und pentiti, wie man reuige Aussteiger nennt, unter seinen Patienten hat, glaubt an die Theorie der frühkindlichen Prägung und Konditionierung, und meint, die Seele eines Mafioso funktioniere wie die eines Fundamentalisten: „Er ist kein Individuum, sondern Teil einer Armee.“ Ab der Pubertät werde der zukünftige Killer getestet: Er darf keinen Umgang mit Homosexuellen, Kommunisten und Polizisten haben, er soll Mitschüler schlagen, bei Morden zuschauen. Er lernt, zuerst einen Ladendiebstahl zu begehen, ein Moped anzuzünden, auf einen Hund, dann auf Leichen zu schießen. Er werde zur Belohnung zu Tötungsaktionen mitgenommen und habe eines Tages keine Schuldgefühle mehr. Das Töten werde für ihn zur „bürokratischen Routine“, ganz ohne Albträume und frei von Emotionen: „Der Feind hat kein Gesicht, er wird zerquetscht wie ein Insekt. Und Mafiosi haben ein unterentwickeltes Sexualleben. Die meisten leiden unter einer Eiaculatio praecox. Ehefrauen sind Mütter und Komplizinnen. Potent ist der Mafioso nur mit der Pistole. Kommandieren ist besser als Ficken“, sagt Prof. Lo Verso. Vielleicht ist das aber nur Wunschdenken, das den Killer wenigstens im Bett einen Versager sein lässt.

Lo Versos Theorie, ein Mafioso könne nicht lieben, weil er kein Ich habe, ist fragwürdig. Er hat sehr wohl ein Ich, das er über Macht und Abhängigkeit definiert. Seine Ich-Schwäche ist die Ich-Schwäche einer dependenten Persönlichkeit. Ich vertrete die These, alle Mafiosi spotten in ihrer Vielfalt jedweder vereinheitlichenden Theorie. Jeder hat seine eigene Handschrift. Heute operiert die Ehrenwerte Gesellschaft nämlich geräuschlos, frei nach der sizilianischen Redensart: Il rumore non fa bene, il bene non fa rumore. Sie tötet so wenig wie möglich, will unter keinen Umständen auch nur irgendwie auffallen, sondern arbeitet lieber mit Abhängigkeiten, die mit einem kleinen, scheinbar belanglosen Gefallen beginnen, der irgendwann einmal eine Gegenleistung einfordert. Deshalb neige ich eher den Thesen eines anderen akademischen Lagers zu: Prof. Gianluigi Ceneri von der Università degli Studi Magna Graecia di Catanzaro hat in mehreren Doppelblindstudien nachgewiesen, dass Angehörige der Mafia an einer dependenten Persönlichkeitsstörung leiden.

Diese ist gekennzeichnet durch überstarke Trennungsängste, klammerndes Verhalten, geringes Selbstbewusstsein und depressive Grundstimmung. Gegenüber vermeintlich Höherstehenden können sich Abhängigkeitsgestörte nicht durchsetzen, weswegen sie unterwürfig und anhänglich sind. Solche Menschen kopieren meistens den Willen anderer. Ursächlich ist laut Professor Ceneri häufig ein Schock im Kindesalter, in dem sich das Kind einer Situation anpassen musste, der es kognitiv nicht gewachsen war. Oft ist es eine Form anhaltender Demütigung. Solchen Menschen ist es letztlich egal, wer ihr capo ist, solange er Dominanz und Sicherheit garantiert, die durch die Einbindung in eine hierarchische Struktur gewährleistet werden. Eine eigene Meinung hat hier keinen Platz.

In der Ehrenwerten Gesellschaft löst man Probleme gern innerhalb der Familie, unter Freunden oder Experten, auf jeden Fall aber jenseits der unpersönlichen, viel zu langsam arbeitenden und überdies sachunkundigen Behörden, da es für illegale Probleme keine legalen Lösungen geben kann. Hier bewährt sich das dyadische System. Ein Mafia-Sprichwort sagt: Die Bank der Gefälligkeiten zahlt die höchsten Zinsen. Ihre Mitglieder sind so gnadenlos wie jeder andere Banker auf dem globalen Parkett. Sie achten auf beste Reputation, Manieren und charismatisches Auftreten. Schließlich sind sie international versierte, mehrsprachige Absolventen der besten Universitäten und haben zum Beispiel an der London School of Economics ihren Feinschliff erhalten: Manager, Anwälte, Steuerberater, IT-Spezialisten: I silenziosi. Sie agieren öfter mit Laptop und Smartphone als mit der Pistole, die sie nur noch zum gelegentlichen Herzeigen haben. Sie würden sich niemals mit einer Waffe im Hosenbund erwischen oder gar festnehmen lassen. Außerdem arbeiten sie ausschließlich auf Provisionsbasis, denn einer, der zahlt, ist besser als einer, der tot ist. Sie haben einen langen Atem und sind überall dort zu finden, wo das große stille Geld in seinem geräuschlosen Fluss ist. Sie vermeiden schriftliche Aufzeichnungen. Das Ehrenwort zählt mehr als jeder Vertrag, gemäß der sizilianischen Redensart: „Das Schwein muss man am Schwanz packen, den Mann bei seinem Wort.“

Aus dem Sammelordner

Mahl und Trunk gehören zur gelingenden Hinrichtung. Das Geschick des Scharfrichters ist ebenso Bestandteil dieser Dramaturgie wie die letzten Worte des Geistlichen, die dem Delinquenten den Weg in die Ewigkeit erleichtern sollen.

Der schöne Antonio

Weil aller Anfang süß ist wie das Lied von den zwei kleinen Italienern, beginnt die Geschichte in den 1950er-Jahren in Bad Thulsern, einem Allgäuer Städtchen, idyllisch eingebettet im magischen Dreieck zwischen Kempten, Lindau und Füssen, und zwar in der dortigen Bäckerei Schaumlöffl. Was erzählt wird, geschah in jenen fernen Tagen, als der Geist Adenauers über das Land wachte und das Böse verlässlich aus dem Osten kam. Das Gute dagegen kam entweder aus Amerika oder aus dem Süden. Man erkannte es an den Liedern. Sie erzählten von einem Frühlingstag im sonnigen Sorrent und von den Caprifischern. Damals war der Zebrastreifen noch nicht obligatorisch, und was ein Mensch zählte, wurde nicht allein von seinem Konto bestimmt. Jedenfalls war seinerzeit die Kirche noch im Dorf, und was bald darauf als Wirtschaftswunder bezeichnet werden sollte, war den meisten Menschen ein ferner Traum am Nachkriegshorizont. Dennoch war allerorts schon so etwas wie die Luft besserer Zeiten zu spüren, denn der Krieg war vorbei, und man fing an, sich wieder etwas zu gönnen. Man entdeckte die kleinen Freuden des Alltags.

Ungelogen: Sie hieß wirklich Schaumlöffl, Maria Magdalena Schaumlöffl, und sie war das einzige Kind des Zuckerbäckers August Schaumlöffl und seiner Ehefrau Martha. Wer damit angefangen hat, das Fräulein Schaumlöffl mit Madame anzusprechen, ist heute nicht mehr mit hundertprozentiger Sicherheit zu eruieren. Fest steht jedenfalls, dass sich diese Form der Anrede „Madame“ rasch etablierte und, wie übereinstimmend befunden wurde, der Respekt gebietenden Erscheinung der tüchtigen Geschäftsfrau sogar durchaus angemessen war.

Madame Schaumlöffl, eine glänzend im Strumpf stehende Mittdreißigerin, die wie eine resche Mittzwanzigerin aussah, war durch Schleckereien reich geworden. Sie hatte bei ihrem Vater, einem weithin angesehenen Zuckerbäcker, das Handwerk gründlich gelernt und eines Tages, als der Alte begann, die Zutaten zu verwechseln, das elterliche Geschäft übernommen und zu dem gemacht, was es heute in der Welt der Feinschmecker ist: ein Begriff. Wo immer Madame Schaumlöffl aufkreuzte, tuschelte man nicht nur über ihr fabelhaftes Aussehen, denn sie war so gesund und rotbackig, sondern auch über den Umstand, dass Madame Schaumlöffl nie geheiratet hat, also eigentlich eine Mademoiselle Schaumlöffl war.

Bis sie eines Tages dem schönen Antonio Sidara begegnete, einem Reisenden in Sachen Damenunterwäsche. Er hatte sich ein Sprichwort aus seiner Heimat zu Herzen genommen, das da sagt: Cu nesci, arrinesci. „Wer weggeht, hat Erfolg.“ Dieser Bonvivant aus Kalabrien führte nur feinste, hauchdünne Modelle in seinem Musterkoffer mit sich, eines sündhafter, ja verruchter als das andere, und samt und sonders Mailänder Marken, die nicht nur für Qualität, sondern auch für hohe Preise bürgten.

Wie der Kalabrese es angestellt hat, dass ihn Madame Schaumlöffl bei sich zu Hause empfing, ist nicht bekannt geworden. Auffällig war nur, dass er bereits nach dem zweiten Besuch bei ihr übernachtete. Im Gästezimmer, wie sie ausdrücklich gegenüber ihren Freundinnen betonte.

Antonio Sidara war freilich ein Hallodri. Das sah man ihm auf Anhieb an: souveränes Auftreten, geschmeidige Bewegungen, glutvolle Augen, Brillantine im Haar, ein gepflegtes Menjou-Bärtchen, elegantes Äußeres und ein schmachtender Blick, mit dem er offenbar jede Frau für sich und sein ebenso kostspieliges wie frivoles Angebot einnehmen konnte. Er sprach Deutsch mit einem gepflegten italienischen Akzent, was für sein Geschäft zweifellos einträglicher war als lupenreines Hochdeutsch. Dabei setzte er vor allem seine in der Luft kurvige Gestalten formenden Hände ein, gestikulierte, fuchtelte, deutete, schmeichelte, speichelte, streichelte, ließ seine gepflegten Finger wie ein Paganini spielen, wedelte und tätschelte, als gelte es, dem Teufel eine Seele zu gewinnen.

Was er Madame Schaumlöffl alles aufgeschwatzt und angedreht hat, konnte man nur ahnen, wenn gelegentlich – wie aus purem Zufall – irgendwo eine zarte Spitze hervorlugte. Hin und wieder glaubte man auch, ein geheimnisvolles seidenes Knistern zu vernehmen, wenn Madame sich bückte oder auf eine Staffelei stieg, um aus den oberen Regalen etwas herunterzuholen. Sobald man jedoch dieses Raschelns gewahr wurde, dachte man unwillkürlich an Antonio Sidara, und man hatte das Bedürfnis, umgehend die Beichte abzulegen.

Der Kalabrese war nämlich, nicht wie sonst üblich, nach wenigen Tagen des Aufenthaltes im Allgäu weitergezogen, sondern er war geblieben. Und zwar im Hause der Madame Schaumlöffl, und es hatte nicht lange gedauert, bis er bei den Honoratioren am Stammtisch einen festen Platz erobert hatte und naturgemäß das große Wort führte. Dabei ging es – außer in einigen versauten Herrenwitzen zu vorgerückter Stunde – nicht mehr um Damenunterwäsche, sondern um Grundstücke, und es sollte sich herausstellen, dass besagter Sidara auch dafür einen Riecher hatte. Zunächst vermittelte er Wohnungen zu Freundschaftspreisen: unter der Hand, versteht sich. Kein halbes Jahr später hatte er bereits ein kleines Büro, schaffte sich eine energische Sekretärin an, die das Telefon bediente, und betrieb einen schwunghaften Handel mit einer neuen Mode, die sich Ferienwohnungen nannte, zu der auch Urlaub auf dem Bauernhof kam. Längst hatte Sidara einen Sitz im Stadtrat und saß, wie praktisch, dem Bauausschuss vor. Als der Vorsitzende des Skiklubs von einem Herzinfarkt gefällt wurde, rückte der selbstlose Italiener nach und sorgte dafür, dass sich nicht nur neue Skilifte in die Steilhänge fraßen, sondern auch namhafte Wettkämpfe ins Allgäu kamen, die via Radio in alle Welt übertragen wurden. Kurz: Die Bäume des Antonio Sidara schienen in den Himmel zu wachsen, und Madame Schaumlöffl, die auch nach der pompösen Hochzeit mit weißer Kutsche, Schimmeln und einer beinahe kirchturmhohen Torte weiterhin ihre Zuckerbäckerei betrieb, zu der sich mittlerweile zahlreiche Filialen gesellt hatten, wurde immer runder, rotbackiger und stolzer.

Was einzig fehlte war ein bambino, ein Stammhalter, obwohl der Italiener hundertfach versprochen hatte, seiner Angebeteten zu zeigen, wie man Tango im Liegen tanzt. Ein Knäblein sollte es werden, das einmal die Geschäfte übernehmen würde, wofür sich seine Erzeuger krummgelegt hatten. Doch ein solcher Kronprinz wollte und wollte sich, porca miseria, nicht einstellen.

Angesichts dieses einzigen Wermutstropfens im Goldpokal des Schaumlöffl-Sidara-Kartells meldete sich, zuerst ganz zart, so etwas wie Trübsal im Gemüt der Rotwangigen. Die Trübsal nahm, wie Madame, zu, denn Madame begann, auf Rat der Frauenärztin, Pillen zu schlucken. Doch alles, was beruhigt, macht dick, hatte die Frau Doktor dunkel, aber wahrheitsgetreu geraunt, und so geriet Madame Schaumlöffl allmählich zur Madame Dampfnudel. Die fachärztliche Vermutung, dass die Kinderlosigkeit nicht etwa ihrer weiblichen Infertilität geschuldet war, sondern am kalten Samen von Signore Sidara liegen könnte, erschütterte die geschäftlich erfolgreiche Zuckerbäckerin zutiefst. Ihr ganz mit seinen diversen Posten, Pöstchen und Geschaftlhubereien, sehr diskret freilich auch mit seiner neuen Sekretärin beschäftigte Tausendsassa hielt das für eine glatte Fehldiagnose. Trotzig begann er, sich zum Gegenbeweis hormonell auszutoben, so dass ihm bald der Spitzname „Häuptling Offene Hose“ vorauseilte. Weibliches Personal wollte nicht länger mit ihm allein sein. Dafür stieg sein Ansehen an den Stammtischen, und es wirkte sich auf die Inhalte sowie die sprachliche Ausgestaltung besagter Witzchen aus.

Auf dem Höhepunkt seiner wirtschaftlichen und politischen Karriere ereilte Antonio Sidara ein schwerer Schicksalsschlag in Gestalt einer frühreifen Fünfzehnjährigen, deren geradezu sensationell zu nennende körperliche Entwicklung zahlreiche Herren der Gemeinde wohlwollend und aufmerksam beobachtet und wortreich mit einschlägiger Terminologie kommentiert hatten. Das überwiegend kurzberockte Wesen mit unendlich langem, edel geformtem Fahrgestell und beträchtlich ausgefüllten Pullovern war als Lehrmädel in der Zuckerbäckerei von Madame Schaumlöffl angestellt.

Wer hier wen wozu verführt haben mag, bleibe dahingestellt. Jedenfalls stellte die Frauenärztin von Madame Schaumlöffl, die sich von Anfang an aus einem angeborenen mütterlichen Instinkt heraus des naiven Vögelchens angenommen hatte, nach einer kurzen Untersuchung routiniert und zweifelsfrei fest, dass Nachwuchs in Sicht und das junge Ding in der Hoffnung war.

Sidara, der unter Heulen und Haareraufen ein melodramatisches häusliches Geständnis ablegte und dabei den Verführten, ja den Hereingelegten mimte, schlug seiner Holden vor, das Lehrmädel zu adoptieren, doch Madame Schaumlöffl lehnte es ab, auf einen Schlag Mutter und Großmutter zugleich zu werden, denn immerhin würde Sidara dann seine (adoptierte) Tochter geschwängert haben.

Im Allgäu bleibt ein Geheimnis nicht lange geheim. Als die Sache ruchbar wurde und gerichtliche Briefe ins Haus flatterten, legte der Stadtrat dem Vorsitzenden des Bauausschusses nahe, von seinem Amt zurückzutreten. Überhaupt wurde das Wort „Rücktritt“ der wichtigste Begriff in der einstmals so steil bergauf führenden Karriere des Antonio Sidara. Es ging nämlich von jetzt auf gleich bergab. Und zwar rasant. Binnen Jahresfrist kam es nicht nur zu einer Taufe, sondern auch zu einem Gerichtsverfahren, dem ein Scheidungsprozess folgte.

Madame Schaumlöffl nahm die junge Mutter und deren Leibesfrucht, einen prachtvollen glutäugigen Jungen mit südländischem Einschlag, unter ihre großmütterlichen Fittiche. Wie ein Lämmchen sah der Kleine aus, weswegen er auf Rat der Madame Schaumlöffl auf den schönen Namen Aniello getauft wurde. Madame fühlte sich endlich am Ziel ihrer fraulichen Wünsche, denn sie hatte nun gewissermaßen Kind und Kindeskind, die Nachfolge der Zuckerbäckerei war gesichert, das vormals naive Vögelchen entwickelte sich zu einer tüchtigen Geschäftsfrau, blieb solide und schickte seinen Sprössling mit Omas finanzkräftiger Unterstützung bald zu seinen Verwandten nach Campodivespe im fernen Kalabrien.

Sidara wurde verurteilt, nahm das Urteil unter Zähneknirschen an, verzichtete auf Revision, erhielt jedoch nie Besuch im Gefängnis, wo er sich bald die einflussreiche Position eines Kalfaktors erquasselt hatte. Nachdem er seine Strafe abgesessen hatte, verließ er um etliche Jahre und Erfahrungen reicher den Knast just mit jenem Musterkoffer in der Hand, mit dem er einst eingezogen war. Man hat lange nichts mehr von dem Mann mit der flinken Zunge gehört, denn die Zeit der Hausierer in Sachen Damenunterwäsche war definitiv abgelaufen. Er musste sich etwas Neues einfallen lassen, was bei seinen vielfältigen Talenten kein ernstes Problem war. Schon hatte er etwas mit Gastronomie im Auge: Eine Gelateria oder eine kleine Pizzeria, wie sie gerade in Mode kamen. Die Kontakte, die er während der letzten Jahre hinter Gittern knüpfen konnte, erwiesen sich als tragfähig. Man musste im Leben nur die richtigen Räder ölen und die alte Apothekerregel anwenden: Schmieren und salben hilft allenthalben.

Er musste jetzt nur noch seinen Sohn aus Campodivespe zurückrufen, damit dieser bald das neue Geschäft übernehmen konnte.

So fing es an.

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