Kitabı oku: «Arnold Reisberg. Jüdischer Revolutionär aus dem Königreich Galizien»
Impressum
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ISBN 978-3-7065-6104-4
Satz und Umschlag: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig
Umschlagfoto: Privatarchiv (Gerhard Oberkofler)
Registererstellung durch den Autor
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Inhaltsverzeichnis
Cover
Impressum
Titel
Einleitung von Hermann Klenner
Vorwort
I Die Familie Reisberg flüchtet 1914 nach Wien
II Kindheit und Jugend
II.1 Kinder- und Schuljahre. Matura am Akademischen Gymnasium Wien I.
II.2 Student an der Philosophischen Fakultät der Alma Mater Rudolphina (1922/23–1928). Auf dem Weg zur Befreiung
III Vortragender, Agitator und Organisator in verhängnisvollen Jahren
IV Februar 1934
IV.1 Persönliche und wissenschaftliche Erfahrungen und Folgerungen
IV.2 Arnold Reisberg über die militärpolitischen Aspekte der Februarkämpfe 1934 in Österreich
V In der Sowjetunion (1935–1959)
V.1 Lektor an der Internationalen Leninschule (1935–1937)
V.2 Im GULag (1937–1946), Verbannung mit Strafansiedlung in Tassejewo (1949–1954) und Aufenthalt in Mossalsk (1955–1959)
V.3 Arnold Reisberg über Johann Koplenig
V.4 Arnold Reisberg über Alfred Klahr
VI Seit 1959 in der DDR
VI.1 Biographische Forschungen über Wladimir Iljitsch Lenin
VI.2 Gegen den Sinomarxismus
VI.3 Mit Lenins Gedanken als Propagandist und Wissenschaftler im Alltag der DDR
VI.4 Im Einsatz für eine humane Perspektive der deutschen Jugend
VI.5 littera scripta manet
Verzeichnis der Veröffentlichungen
Biographische Skizzen über Arnold Reisberg
Anmerkungen
Namenregister
Gerhard Oberkofler
Arnold Reisberg
Jüdischer Revolutionär aus dem Königreich Galizien
Eingeleitet von Hermann Klenner
Einleitung von Hermann Klenner
Es ist für mich eine Ehre besonderer Art, der Lebensgeschichte eines Arnold Reisberg einige Zeilen voranstellen zu dürfen; eine Freude ist es überdies, dass deren Autor Gerhard Oberkofler heißt.
***
Gemeinsam mit seiner Frau Eleonore wohnte Arnold Reisberg während seiner letzten Lebensjahre in Berlin, zehn Hausnummern von mir entfernt. Wir kannten uns. Als Leser seiner Bücher habe ich ihn bewundert, aber in Kenntnis seines Schicksals habe ich ihn verehrt.
Einem anderen von mir Verehrten, dem Österreichischen Kommunisten, Widerstandskämpfer und Wissenschaftler Eduard Rabofsky, verdanke ich die Bekannt- und (spätere) Freundschaft mit Oberkofler, den er mir in Innsbruck anlässlich eines dortigen Vortrages als seinen Mitstreiter vorstellte und ihn mir als auch meinen Mitstreiter empfahl. Was Oberkofler auch wurde, wie unter anderem von ihm angeregte gemeinsame Publikationen über Friedrich Carl von Savigny und Arthur Baumgarten belegen.
Meine (gewiss ungewöhnliche!) Verehrung von gleich zwei Mitlebenden erklärt sich am besten aus meinem eigenen Leben: Als Achtzehnjähriger war ich im August 1944 in die Wehrmacht eingezogen worden, verpflichtet und bereit (schließlich: „Deutschland, Deutschland über alles, Über alles in der Welt!“), in den Krieg zu ziehen und „für Führer, Volk und Vaterland“ – wie es damals offiziell hieß – erforderlichenfalls mein Leben zu geben. Als ich nach dem Sieg der Alliierten über das Nazi-Regime und dessen dann mir bekannt werdenden Gräueltaten im In- und Ausland zu begreifen begann, welchem Verbrecher-Regime ich als Gefreiter einer Granatwerfer-Kompagnie gedient hatte, aber auch, dass die Niederlage Deutschlands in Wirklichkeit die Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus bedeutet, begann ich radikale Konsequenzen zu ziehen:
In Erinnerung an meinen das Nazi-Parteiabzeichen an seinem Rock tragenden Konfirmationspfarrer sowie des auf meinem eigenen Koppelschloss eingravierten „Gott mit uns“ bin ich – mit dem Theodizee-Problem ringend – als verwundeter Kriegsgefangener im Frühjahr 1945 aus der Kirche ausgetreten. Bauarbeiter geworden, trat ich Anfang Januar 1946 in die SPD ein, wissend und wollend, dass bald deren Vereinigung mit der KPD erfolgen wird. Und schließlich habe ich Jahre später als kleinen Wiedergutmachungsbeitrag auch und besonders über Denker jüdischer Herkunft publiziert, so über Eduard Gans, Heinrich Heine, Ferdinand Lassalle, Karl Marx, Moses Mendelssohn, Heinrich Bernhard Oppenheim, Baruch de Spinoza.
Das voranstehend Geschilderte brachten mir im Verlauf meines Nachkriegslebens Freunde und Feinde ein. Die Kraft allerdings, nun seit Jahrzehnten aus Einsicht in die sich aus den Eigentumsverhältnissen ergebende Dialektik von Reichtum und Armut für Sozialismus/Kommunismus und natürlich für Frieden einzutreten, auch die unausbleiblichen Niederlagen einzustecken, kam nicht nur aus den Erkenntnissen meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Gestehen muss ich: Ohne das persönliche und literarische Kennenlernen von Menschen, die unter ungleich schwierigeren Verhältnissen, zuweilen gar aussichtslosen Bedingungen die Fahne der Vernunft nicht aus den eigenen Händen gaben, wäre ich vielleicht doch eines unschönen Tages den Unsicherheiten, Zweifeln, Fragwürdigkeiten und Bevormundungen durch meine eigene Obrigkeit erlegen und hätte kapituliert. Und dann gibt es ja auch noch die traurige Gewissheit, dass ich nach der weltgeschichtlichen Niederlage der mit der Oktoberrevolution begonnenen Sozialismusversuche in der westlichen Welt nichts anderes mehr erleben werde als den realexistierenden Kapitalismus mit seinen Kriegen, Ausbeutungen und Unterdrückungen. Ihm sich anzupassen, bringt ja auch „Vorteile“, und Wendehalsgeschmeidigkeit zahlt sich zuweilen aus.
Aber ich hatte das Glück, unter den standhaftesten deutschen Wissenschaftler-Remigranten Arthur Baumgarten, Ernst Engelberg, Jürgen Kuczynski, Werner Krauss, Walter Markov, Alfred Meusel, Hans Mottek, Karl Polak und Leo Stern erleben zu dürfen. Das hat mir ungemein geholfen zu bleiben, was ich bin. Und nun wird mir noch durch den aus vielen Veröffentlichungen bekannten Wissenschaftshistoriker Gerhard Oberkofler im Ergebnis seiner auf höchstem Niveau erfolgten Quellenforschung das Schicksal von Arnold Reisberg (1904–1980) zugänglich gemacht. Bis in alle, weithin bisher unbekannte Einzelheiten und eingebettet in die Geschichte Österreichs. Um es scharf zu formulieren: Wer dieses Werk gelesen und dadurch Reisbergs Leben miterlebt hat, kann nicht mehr, wenn er Sozialist war, schwach werden und von seinen Überzeugungen lassen.
Dem „Jüdischen Revolutionär aus Galizien“ war im Verhältnis zu den vorab genannten Remigranten das härteste Leben beschieden. Man ist versucht, von ihm als von einem Märtyrer zu sprechen. Zum Märtyrer gemacht durch die eigenen Genossen! Als Zwanzigjähriger (mosaischen Glaubens) war er in die Kommunistische Partei Österreichs eingetreten, hatte später als ein in Wien Promovierter die Propagandaabteilung beim ZK der KPÖ geleitet. Zuvor mehrfach aus politischen Gründen inhaftiert, wurde er 1934 als polnischer Staatsangehöriger aus Österreich ausgewiesen. Er emigrierte in die Sowjetunion, wo er zunächst als Lektor an der Internationalen Leninschule arbeitete. 1937 wurde er wegen angeblich antisowjetischer Propaganda verhaftet, aus der KPÖ ausgeschlossen, zu fünf Jahren GULag verurteilt und 1949 für weitere fünf Jahre nach Ostsibirien verbannt. Rehabilitiert wurde er 1955, nach achtzehn Jahren Unterjochung. Da Österreich dem inzwischen zum sowjetischen Staatsbürger gewordenen galizischen Juden ein Visum verweigerte, übersiedelte er 1959 wunschgemäß in die ihn dann einladende DDR, wo er fortan lebte, forschte, sich 1964 habilitierte und in Permanenz publizierte. Streng wissenschaftliche, aber auch propagandistische Literatur. Mit einem Ehrendoktorat versehen sowie dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold, auch dem Banner der Arbeit, ausgezeichnet, starb er nach schwerer Krankheit am 20. Juli 1980.
Im Mittelpunkt des literarischen Werkes von Arnold Reisberg, zugleich im Zentrum seiner – wie Oberkofler es nennt – „Glaubenskraft“ stand Lenin, der russische Revolutionär, dessen deutsche und jüdische Wurzeln von Reisberg (anders als von vielen anderen) nicht verschwiegen werden. Über ihn und die internationale Arbeiterbewegung hat er wissenschaftliche Literatur zuhauf publiziert. Überdies hat er auf mehr als eintausend Seiten Lenins Leben und Wirken dokumentiert, wie von keinem anderen aus den Originalquellen erarbeitet, versteht sich.
Reisberg war sich bei seiner Würdigung Lenins im Klaren darüber, dass von fast allen, die sozialistisches Denken sozialdemokratisieren oder „transformationsideologisch“ in eine bürgerliche Weltanschauung integrieren wollen, Lenin nicht als getreuer Nachfolger von Marx charakterisiert, sondern nur noch als Wegbereiter späterer GULag-Verbrechen diffamiert wird. Reisberg aber war entgegengesetzter Auffassung. In seiner den Lenin des Jahres 1917 darstellenden Monographie rechtfertigt er ohne Wenn und Aber Lenins radikalsten Text Staat und Revolution, dieses, wie Oberkofler es zutreffend einschätzt, geniale Werk.
Reisbergs außergewöhnliche Wertschätzung Lenins stimmt mit der Meinung vieler intellektueller Größen dieser und jener Art überein: Stefan Zweig (Lenins Fahrt aus seinem Schweizer Asyl nach Petrograd im versiegelten Zug 1917 ist eine Sternstunde der Menschheit); Paul Loebe (Lenin ist einer der ersten Plätze in der Geschichte der menschlichen Gesellschaftsentwicklung gesichert); Arthur Hollitscher (Lenin war das erwachte Gewissen der Menschheit, in seiner Todesstunde stand das Herz der Menschheit für einen Augenblick still); Maximilian Harden (aus Lenins Gruft ruft sein Genius mit prometheisch unbrechbarem Trotz); Heinrich Mann (Lenins Größe wird mir immer begreiflicher, wenn ich sehe, was aus Deutschland wurde); Thomas Mann (Lenin war ohne Zweifel eine säkulare Erscheinung); Bernhard Shaw (Lenin war der größte Staatsmann in ganz Europa); Romain Rolland (durch alle Stürme steuerte er sein Schiff mit vollen Segeln der Neuen Welt entgegen); Karl Kautsky (Lenin war eine Kolossalfigur, wie ihrer nur wenige in der Weltgeschichte zu finden sind); Martin Andersen Nexö (Lenin personifizierte die größte Idee in der Entwicklung der Menschheit, getragen von den Geringsten in der Weltgeschichte).
Aber nicht mit der Hochschätzung Lenins durch die Vorgenannten, die er voller Genugtuung auch zitiert, oder durch andere Rühmenswerte (Einstein: ich verehre in Lenin … er hat seine ganze Kraft für die Realisierung sozialer Gerechtigkeit eingesetzt) begründete Reisberg seine eigene Auffassung. Selbst wenn er die inzwischen herrschend gewordenen, sich zwar nicht auf den Inhalt von Lenins Auffassungen, wohl aber auf deren internationalen Rang beziehenden Einschätzungen noch hätte erleben können, wonach Lenin einer der „politischen Großdenker aller Zeiten“, ein „Klassiker der Staatsphilosophie“ sei (vgl. Lenin, Der Marxismus über den Staat. Staat und Revolution, von Hedeler und Külow edierte Kritische Neuausgabe, Berlin 2019, S.1–23), hätte er diesen historischen Respekt nicht als Begründung für seine eigene Sichtweise genutzt. Reisbergs Überzeugungskraft, so Oberkofler, komme nicht aus angelesenen Marx-Texten oder den glorifizierenden Meinungen anderer, sondern aus seinem von ihm selbst erlebten, als wahr erkannten und von ihm durch eigenes Handeln in Gebrauch genommenen Marxismus.
Auch Pauschalurteile waren Reisbergs Sache nicht. Er hatte sich sein Leninbild aus den Urtexten hart erarbeitet. Hunderttausend Einzelheiten hat er über Lenin zusammengetragen und quellenmäßig belegt. Er stellte sich aus kommunistischer Überzeugung in den Dienst Lenins. Von sich selbst sagte er: „Ich habe kein höheres Ziel gekannt, als Lenins Gedanken zu propagieren, unter den Arbeitern und der studierenden Jugend zu verbreiten. Ich war immer stolz darauf, ein treues Mitglied der Kommunistischen Weltbewegung zu sein.“
Den geneigten Lesern von Oberkoflers Reisberg-Biographie sei abschließend wiederholt gesagt: Diejenigen – ob Frauen oder Männer, ob Juden oder Christen, Muslime oder Atheisten –, die durch das Lesen dieser Biographie Reisbergs Leben mitgelebt haben, werden danach andere sein, als sie es vorher waren.
Hermann Klenner
August 2020
Vorwort
„Es gibt keine Möglichkeit, der Geschichtlichkeit von Ort und Zeit zu entgehen, obwohl es wiederum auch nicht unausweichlich ist, in den Grenzen dieses Ortes und dieser Zeit eingesperrt zu verharren.“
Ignacio Ellacuría (1930–1989)
Lebensbeschreibungen von Menschen, die sich voll und ganz dem Kampf für die Befreiung der Menschen von Armut und Unterdrückung gewidmet haben, sind keine einfache Angelegenheit. Immer nimmt die Geschichte einen Anteil an der realen Biografie, der unpersönlich bleibt. Aber auch wenn Geschichtliches und Biografisches zusammenfließen, ist das Individuum in seiner kurzen Lebenszeit kein bloßes Instrument der Geschichte. Was bestimmt die Entwicklung von solchen Persönlichkeiten wie Arnold Reisberg, dass sie so und nicht anders denken und handeln? Das ganze Leben von Arnold Reisberg spiegelt eine unerhörte Glaubenskraft wider, er war in finsteren Zeiten Zeuge und Märtyrer seiner kommunistischen Überzeugung.
Der Autor dankt Helga Hörz, Herbert Hörz, Hermann Klenner und Thomas Kuczynski für die Aufmunterung, diese Biografie zu schreiben. Mario Kessler, Ilko-Sascha Kowalczuk, Günther Grabner, Wilfried Bader, Charlotte Rombach und Willi Weinert haben Materialien zur Verfügung gestellt und nützliche Hinweise gegeben. Während des Lockdowns und der altersbedingten Quarantäne in Wien haben mir aus dem Universitätsarchiv Wien Thomas Maisel, aus dem Stadtarchiv Wien Stefan Spevak, aus dem Archiv des Wiesenthal Institute for Holocaust Studies René Bienert und aus dem Bundesarchiv Berlin Brigitte Fischer in sehr entgegenkommender Weise Aktenkopien übermittelt. Victoria Eisenheld hat mein Typoskript mitgelesen, Ilona Mader hat mich im Verlag initiativ und kompetent betreut. Die freundschaftliche Verbundenheit mit Markus Hatzer hat mir auch diesmal ermöglicht, auf vorauseilende Selbstzensur zu verzichten.
Gerhard Oberkofler, Wien
I Die Familie Reisberg flüchtet 1914 nach Wien
Das Ehepaar Ruchel Laja (auch Lea) Reisberg geborene San (Sann) (geboren in Obzanica, 3. April 1882) und Berl Reisberg (geboren in Mikulince, 23. Juni 1880) wird wegen seiner ostjüdischen Religiosität und wegen seines Aussehens alle möglichen Vorurteile von Polen, Ukrainern, Russen oder Deutschen auf sich gezogen haben. Berl Reisberg war zuerst Volksschullehrer im heute ukrainischen Borislau (Borislav, Boryslaw), dem Geburtsort seines erstgeborenen Sohnes Arnold (*17. Februar 1904), das – inmitten einer bettelarmen Bauernregion gelegen – durch seine Naphthawerke in der Monarchie bekannt war, weniger durch das immense, durch Grubenunglücke verschärfte Arbeiterelend.1 Polnische Schriftsteller wie Józef Rogosz (1844–1896) oder der unter dem Pseudonym Sewer schreibende Ignacy Maciejowski (1835–1901) haben über die galizische Naphtha-Hölle geschrieben.2 Im Februar 1919 sollen von dort „ernste Arbeiterunruhen ausgegangen (sein), die besonders in Borislav bolschewistischen Charakter angenommen haben“.3 1941 bis 1944 begingen Österreicher und Deutsche an Einwohnern von Borislav mörderische Verbrechen.4 Wiener Polizisten waren in und um Borislav so wie in ganz Polen als „Liquidatoren“ der jüdischen Bevölkerung eingesetzt, was 1946 in der Österreichischen Presse durch ein paar Verhaftungen bekannt wurde.5 Berl Reisberg unterrichtete an in Galizien institutionalisierten „Baron Hirsch Volksschulen“, zuletzt in Horodenka und Kolomea (Kolomyja). Der sagenhaft reiche jüdische Bankier Moritz (Maurice de) Hirsch (1831–1896) ermöglichte in Galizien wie in Palästina den Bau jüdischer Volksschulen. Er bemühte sich auf Wunsch seiner Ehefrau Clara Hirsch geb. Bischoffsheim (1833–1899) mit der 1891 gegründeten Jewish Colonization Association um die massenhafte Ansiedlung osteuropäischer Juden in Lateinamerika, insbesondere in Argentinien und Brasilien, um ihnen dort ein freieres Arbeiter- und Bauernleben zu ermöglichen.6 Vielleicht war Hirsch von Legenden über die Zufriedenheit der Einwohner im „Missionsland“ des Jesuitenordens im Süden Paraguays inspiriert. Das im Gefolge der Affäre um Alfred Dreyfus (1859–1935) von dem ungarischen Juden Theodor Herzl (1860–1904) geschriebene Buch über den Judenstaat wurde 1896 veröffentlicht, der Erste Zionistische Weltkongress fand im Sommer 1897 in Basel statt. Auch Herzl wollte den Ostjuden eine Heimat geben. Für den unbeirrbaren Kriegsgegner Karl Kraus (1874–1936) war Herzl nicht mehr als ein nicht ernst zu nehmender Utopist und hochstapelnder Journalist. Ein gemeinsames Territorium von Juden schien vielen Juden in Anbetracht des immer wieder abrufbaren Antisemitismus mit seinen Pogromen eine bessere Lösung als Assimilation zu sein. In Horodenka und Kolomea ging Arnold Reisberg (A. R.) in die Volksschule. Es waren typisch kleinbürgerlich galizische, schmutzige Städte mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil. Aus bettelarmen jüdischen Familien der galizischen Städte und Dörfer wurden nicht zu verheiratende Mädchen oft jüdischen Händlern gegeben, die sie als Prostituierte bis in die Bordelle nach Argentinien verkauften. Nach der Volkszählung 1910 hatte Horodenka 92.033 Einwohner, Kolomea 124.850 Einwohner. Philosemitisch wird oft vom Shtetl (d. i. Städtchen) in Galizien gesprochen, verklärend, weil sich diese Städte und Dörfer mit ihrer eigenen Sprache vom polnischen, analphabetischen Umfeld durch Synagoge und Markt als eigener Kosmos abhoben.
Nach Kriegsbeginn flüchtete das Ehepaar Reisberg mit seinen drei kleinen Kindern Arnold, Klara (*1906) und Ignaz (*1913) wie so viele Juden aus Galizien und der Bukowina aus Sorge vor Pogromen in das imperiale Wien, von wo aus mit Deutschland gemeinsam der Krieg angezündet worden war. Wien war übervölkert, es war eine Weltstadt mit über zwei Millionen Einwohnern. Zwei Drittel davon waren Immigranten der ersten und zweiten Generation, ihre Umgangssprachen waren Tschechisch, Polnisch, Ruthenisch, Slowenisch, Serbokroatisch, Rumänisch, Ungarisch und Italienisch, Jiddisch wurde nicht gezählt. 1910 wohnten in Wien rund 175.000 Juden.7 Das Verbindende dieser multinationalen Gesellschaft war die deutsche Sprache in ihrer Wiener Färbung. Der zehnjährige Judenbub A. R. war, weil es Kontinuität des psychischen Lebens eines Volkes gibt, bei seiner Ankunft schon „alt“. Franz Kafka (1883–1924) dachte als Jude die Zeitlichkeit des Individuums über die biologische Zeitlichkeit hinaus: „Wir Juden werden aber schon alt geboren“.8 Was wie ein Bonmot erscheint, ist ein tiefgehender, von Ignacio Ellacuría erläuterter philosophischer Gedanke zu Unterscheidungen vielfältiger Zeiten und zu den tiefer liegenden Phänomenen des Alters.9 Das Individuum wird von der Geschichte umhüllt. Viel später wird A. R. mit Blick auf seine Herkunft vielleicht berührt haben, dass Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) in Galizien vom Sommer 1912 bis nach Kriegsbeginn 1914 zwei fruchtbare Jahre verbrachte, ehe er nach seiner Verhaftung wegen Verdachts der Spionage für Russland dank der Hilfe von Freunden und Interventionen wie jener von Victor Adler (1852–1918) über Wien in die Schweiz fahren konnte. Zu den wichtigsten in Krakau geschriebenen Publikationen von Lenin gehören Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus und Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen.10 Aus Krakau hat Lenin an seine Mutter geschrieben: „Die Juden hier ähneln den russischen, die russische Grenze ist 8 Werst entfernt (mit dem Zug sind es von Granica etwa zwei Stunden, von Warschau 9 Stunden), barfüßige Frauen in bunten Kleidern – ganz wie in Russland.“11
Die Reisbergs konnten in Wien zuerst in einer Flüchtlingsunterkunft in der Nordbahnstraße 20/27 unterkommen, dann wohnten sie in der Vorgartenstraße 130/1 (7. Oktober 1914–7. Dezember 1914), in der Schiffmühlenstraße 76/5 (7. Dezember 1914–17. Juli 1915) und am Sterneckplatz 21/16 (19. Juli 1915–11. März 1920) und ab 11. März 1920 in der nach dem Baumeister Bonifaz Wolmut (1505–1579) benannten Wolmutstraße 19–21/Tür 40.12 Der II. Wiener Bezirk war der Heimatsbezirk der Familie Reisberg, die 1918 mit Gisela auf vier Kinder angewachsen war. Von der Bevölkerung wurden diese ostjüdischen Flüchtlinge als fremde Bedrohung mehrheitlich abgelehnt. Die emanzipierten und assimilierten Wiener Juden sprachen, wie sich Eric Hobsbawm erinnert, von „Ostjuden“, als ob es sich um eine andere Spezies handeln würde.13 Die Spannungen waren, wie sich der aus einer jüdischen Familie in Wien kommende Karl Popper (1902–1994) im Rückblick erinnert, zum Greifen, zumal viele Juden „deutlich anders“ aussahen als die ansässige Mehrheit der Wiener Bevölkerung.14 Vom Schtetl in Galizien auf die Mazzesinsel von Wien – die Realität des Ghettos war dieselbe. Vielleicht waren es Verwandte, die den Reisbergs bei der Wohnungssuche behilflich waren, vielleicht die 1914 im II. Wiener Bezirk, Zirkusgasse 5, gegründete „Zentralstelle der Fürsorge für die Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina“, die, 1915 in „Zentralstelle der Fürsorge für Kriegsflüchtlinge“ umbenannt, von Rudolf Schwarz-Hiller (1876–1932) geleitet wurde.15 Die meisten der jüdischen Flüchtlinge wussten nicht, was sie essen sollten. Der wie A. R. aus dem galizischen Judentum nach Wien gekommene und mit ihm fast gleichaltrige Manès Sperber (1905–1984) erzählt davon.16 An einer Flüchtlingsschule in Wien war der Deutsch, Polnisch, Ukrainisch und Hebräisch sprechende Berl Reisberg Volksschullehrer. Nach 1918 musste er für seine jetzt sechsköpfige Familie mit vier Kindern als Schuhvertreter, seit 1930 als „Handelsangestellter“ in der Schuhbranche in der Millionenhauptstadt der kleinen Republik Deutsch-Österreich, die 1919 den Staatsnamen Republik Österreich annehmen musste, irgendwie über die Runden kommen. 1928 konnte Berl Reisberg, Schuhwarenhändler in Wien II, Molkereistraße 2, den Privatkonkurs gerade noch abwenden, indem seine Gläubiger einem Ausgleich mit 35 Prozent in zehn Monatsraten zustimmten.17 Irgendwie war er dann Vertreter im Schuhhandel.
Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich (12. / 13. März 1938) war die seit langem vorbereitete Annexion Österreichs durch Hitlerdeutschland Wirklichkeit geworden. Berl Reisberg, seit 15. Juli 1938 arbeitslos, musste für sich und seine Frau ums nackte Überleben kämpfen. Am 26. Juni 1938 hatte er sich für eine Auswanderung nach New York angemeldet, das bedeutete, für ein Visum anstehen und nochmals anstehen und Schikanen aushalten zu müssen. Der österreichische Schriftsteller Erich Hackl (*1954) hat diese Situation am Schicksal des ostgalizischen Juden und Wiener Kohlenhändlers Leopold Klagsbrunn (1888–1957) literarisch realistisch geschildert.18 Wovon lebte das Ehepaar Reisberg? Mit Unterstützung der Fürsorge-Zentrale der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Auswanderungsabteilung, die für ihn ein Katasterblatt angelegt hatte, gelang es Berl Reisberg nach langem und nervenzermürbendem Hin und Her mit seiner Ehefrau, die Bewilligung für die Ausreise nach Argentinien zu erhalten. Am 11. Jänner 1940 überschritt er mit seiner Ehefrau bei Arnoldstein die Grenze. Bis dahin waren sie in der Wolmutstraße 19–21/40 gemeldet. Was die Ummeldung von der Wolmutstraße 19/22 in Wolmutstraße 19–21/40 am 27. September 1939 bedeutet hatte, lässt sich nicht rekonstruieren. Die Reisbergs reisten am 2. Februar 1940 in Argentinien ein und konnten sich in Buenos Aires niederlassen. Vielleicht waren ostjüdische Verwandte der ersten oder zweiten Generation behilflich. Seine mit Walter Karolyi verheiratete Tochter Gisa (Gisela) konnte auch dorthin flüchten. Viele, viele Jahre später erhielten die alten, kranken und verarmten Reisbergs aus dem Fonds zur Hilfeleistung an politisch Verfolgte, die ihren Wohnsitz und ständigen Aufenthalt im Ausland haben (Hilfsfonds), auf ihren Antrag Ende des Jahres 1956 eine Zuwendung aus Österreich, die ihnen das nackte Überleben etwas erleichterte. Eine solche Zuwendung erhielt der mit viel Glück die Mordmaschine der deutschen Faschisten überlebende Sohn Ignaz Reisberg (*8. Jänner 1913, Kolomea). Ignaz Reisberg war Ende März 1938 in der Lassallestraße verhaftet und, nachdem ihm von der Polizei die Frontzähne ausgeschlagen worden waren, nach Dachau gebracht worden. Dort und später in Buchenwald war er bis zum 15. Februar 1939 inhaftiert. Nach Entlassung floh er über Italien nach Shanghai. Nach Ende des Kriegs glückte ihm die Emigration in die USA und Niederlassung in Los Angeles, von wo aus er im Oktober 1977 zu seinen alten Eltern in Argentinien ziehen konnte.19