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II Kindheit und Jugend
„Nicht zwingt der Schöpfer den Menschen, nicht beschließt er
über sie, dass sie Gutes oder Böses tun, sondern alles ist ihnen überlassen.“
Moses ben Maimon (12. Jh)20
II.1 Kinder- und Schuljahre. Matura am Akademischen Gymnasium Wien I.
Curriculum vitae
Ich, Arnold Reisberg, bin am 17. Februar 1904 in Borislau, Polen als Sohn des Volksschullehrers Berl und seiner Gattin Rosa geboren. Die Volksschule habe ich in Horodenka und Kolomea in Polen besucht. Vom Jahre 1914 bis 1918 habe ich in Wien öffentlichen, sodann bis zum Jahre 1922 privaten Unterricht in den Mittelschulfächern genossen und im Oktober 1922 habe ich die Reifeprüfung am Akademischen Gymnasium in Wien I abgelegt. Im Oktober 1922 habe ich an der philosophischen Fakultät der Wiener Universität inskribiert und während meiner Studienzeit Vorlesungen aus Geschichte, Geographie und exakter Philosophie gehört.
Wien, 21. Juli 1927
Arnold Reisberg
Mit diesem knappen, handschriftlich geschriebenen Lebenslaufs und unter Vorlage seines Reifezeugnisses wie seiner mit der Schreibmaschine samt Durchschlag getippten Doktorarbeit (s. u.) meldete sich A. R., wohnhaft in Wien II, Wolmutstraße 19/22, am 21. Juli 1927 zur „Ablegung der strengen Prüfungen behufs Erlangung des philosophischen Doktorgrades aus Geschichte (Mittelalter und Neuzeit) in Verbindung mit Geographie“ an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien an. Aber was sagt ein solches Curriculum eines 23-jährigen aus Galizien stammenden Ostjuden aus? A. R. war kein von Bertolt Brecht charakterisierte Herr Puntila, dessen Heimatliebe Unheil bedeutet, für A. R. ist Galizien Herkunftsland. „Die Heimat ist ihm nix“, weil er im Alltag mit Matti fragt: „Wer wen?“21
Der aus Czernowitz stammende zionistische Jurist Salomon Kassner (1881–1942) unterschied scharf zwischen den Juden von Galizien und jenen der Bukowina, wohl weil bei den ersteren der Zionismus aufgrund der materiellen Bedingungen sich besser ausbreiten habe können. Die Juden der Bukowina seien, so Kassner, zwischen Ost- und Westjudentum stecken geblieben: „Keine Spur von jenem östlichen Judentum, wie es in Galizien pulsiert und zum unversiegbaren Quell jüdischen Lebens für die ganze Welt geworden ist“.22 A. R. war ein beschnittener galizischer Jude und erstgeborener Sohn. Als solcher bedeutete er die „Heiligung der ganzen Familie“, von ihm wurde viel erwartet.23 Im Alter von fast 70 Jahren erforschte A. R. mit viel Empathie die Jugend von Lenin und stellte nach Darstellung von dessen Eltern, dessen Heimat und Kinder- und Schuljahren die Frage, „Wie wird man Revolutionär?“.24 Jüdische Lesetexte, mit denen A. R. in seiner religiösen Familie von klein auf aufgewachsen war, enthalten viele Geschichten von der „Elternehrung“ und von der „Gestaltung des Kindes“. Der Besuch der Synagoge wird ebenso Pflicht gewesen sein wie der Erwerb von Kenntnissen, um auf dem „Meer des Talmuds“ zu fahren. Der „Gottesdienst“ am Versöhnungstag (27. / 28. September, Jom Kippur) wird in der Familie Reisberg üblich gewesen sein, die Demonstration am Kampftag der Arbeiterklasse am 1. Mai eher nicht. So wird A. R. vielleicht jene Erinnerung an den pharisäischen Rabbiner Hillel (110 v. u. Z. – 9. n. u. Z.) mit auf seinen Weg erhalten haben, der bei den chassidischen Juden in Galizien viel beachtet wurde und von dem die Worte überliefert sind: „‚Wenn nicht ich für mich bin, wer ist für mich?‘ Wenn ich nicht meinen Dienst tue, wer wird ihn für mich tun? Jeder muss seinen Dienst selber vollbringen. Und weiter spricht er: ‚Und wenn nicht jetzt, wann denn?‘ Wann wird das Jetzt sein? Das jetzige Jetzt, der Augenblick, in dem wir reden, war doch von der Erschaffung der Welt an nicht, und es wird nie wieder sein. Früher war ein anderes Jetzt, später wird ein anderes Jetzt sein, und jedes Jetzt hat seinen eignen Dienst; wie es im heiligen Buch Sohar heißt: ‚Die Gewänder des Morgens sind nicht die Gewänder des Abends‘.“25 Proletarische Kinderliteratur bekam A. R. nicht in die Hände, seine Kinder- und Jugendbücher vermittelten Tugenden wie Sparsamkeit, Fleiß, Wissen in Geographie und Naturwissenschaft. Zu der von der gymnasialen Welt verachteten, aber dennoch von den heranwachsenden Buben gerne gelesenen Literatur gehörte Karl May (1842–1912), dessen Abenteurerromane den Blick auf Gerechtigkeit, Frieden und Achtung vor dem Anderen öffnen konnten.26
Ein Erlass des Landesschulrates für Wien ermöglichte A. R. die Zulassung zur mündlichen Reifeprüfung am 12. Oktober 1922 nachmittags im Akademischen Gymnasium Wien, als dessen Direktor in den Jahren 1919 bis 1924 der über Graz, Pola und Triest nach Wien gekommene Professor für deutsche Sprache Gustav Wilhelm (1869–1949) amtierte. A. R. war „Altösterreicher“, hatte aber nicht mehr die österreichische Staatsbürgerschaft, sondern die polnische, weil am 5. November 1916 Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich Polen wieder als eigenen Staat proklamiert hatten. Geprüft wurde A. R. in den Gegenständen israelitische Religionslehre (sehr gut), Lateinische Sprache (Übersetzung Deutsch Latein genügend, Übersetzung Latein Deutsch gut), Griechische Sprache (gut), Naturgeschichte (gut), Physik (genügend), und Philosophische Propädeutik (sehr gut). In der deutschen Sprache betraf die im Prüfungsprotokoll ausgewiesene erste Frage die Szene III / 7 aus dem Drama Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), was A. R. als Einstiegsfrage wegen der „Ringparabel“ vielleicht sogar willkommen war. Die von Lessing vermittelte Hoffnung der Französischen Aufklärung auf ein friedliches, gleichberechtigtes Zusammenleben von Menschen, Völkern und Religionsgemeinschaften gab auch ihm Hoffnung. In der „Ringparabel“ wird dieses gegen Antisemitismus und Antiislamismus gerichtete Denken durch das Gespräch zwischen Sultan Saladin und Nathan besonders deutlich. Der Mythos des legendären islamischen Sultan Saladin hat in der kurdischen Befreiungsbewegung der Gegenwart noch Bedeutung.27 Damals wie heute war „Die Lessing-Legende“ (1893) von Franz Mehring (1846–1919), die ein Bild vom kämpferischen Bürger Lessing entwarf, weit davon entfernt, Schulkindern bekannt gemacht zu werden. Die deutsche Sprache nahm bei der Maturaprüfung eine zentrale Rolle ein. Nach der Frage über den Blankvers im deutschen Drama musste A. R. noch Auskunft geben können über das dramatische Schaffen von Franz Grillparzer (1791–1872) und seine Zeitgenossen. In Vorbereitung darauf wird A. R. die Selbstbiographie von Grillparzer28 gelesen haben. Das Wien des mit Klemens Wenzel Lothar von Metternich (1773–1859) identifizierten Regimes galt Grillparzer als Capua der Geister. An ihm lässt sich, wie Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937) während seines Wienaufenthaltes feststellte, studieren, wie das Metternichsche Österreich Menschen verhängnisvoll beeinflusst hatte.29 Rosa Luxemburg (1871–1919) hatte Grillparzer „ernstlich“ geliebt und ihn wegen seiner „Knappheit, Treffsicherheit und [seinem] volkstümliche[n] Humor“ an die Seite von William Shakespeare (1564–1616) gestellt, der aber diesen „zarten, poetischen Hauch“ nicht gehabt habe.30 Prüfungstext im Fach Latein war das Epos Aeneis (9, 176–196) von Vergil (70 v. u. Z. – 19. v. u. Z), im Griechischen die letzte Zusammenkunft von Sokrates (469 v. u. Z. – 399 v. u. Z.) und seinen Freunden bei Plato (427 v. u. Z. – 347 v. u. Z). Gerade in dieser Passage zeigt sich, wie Sokrates die Aufmerksamkeit des menschlichen Subjekts auf sein praktisch geistiges Verhältnis zur Wirklichkeit, vor allem in seiner moralischen Dimension lenkt. Dem heranwachsenden Karl Marx (1818–1883) hatte die Beschäftigung mit der antiken Philosophie geholfen, sich zu entwickeln. Wladimir I. Lenin bemerkte einmal, dass „die ganze Genialität Marx’“ gerade darin bestände, „dass er auf die Fragen Antwort gegeben hat, die das fortgeschrittene Denken der Menschheit bereits gestellt hatte“.31 In Mathematik waren zwei Aufgaben zu lösen: 1) Im Punkte P (3, y) der Parabel y2=12x ist eine Normale gezogen, in welchem Punkte schneidet sie die x-Achse? 2) In eine Halbkugel soll ein Zylinder so eingezeichnet werden, dass seine Oberfläche ein Extrem wird. „Vaterlandskunde“ war ein mit „Geschichte und Staatsbürgerkunde“ der Gegenwart vergleichbares Fach. A. R. wurde gefragt nach dem „Ständekampf in Rom“, nach der „Erwerbung der Alpenländer durch das Haus Habsburg“. „An welchen Alpenzonen hat Tirol Anteil“ und „Die Staatsgewalten“ waren weitere Prüfungsfragen in diesem Fach. Die Namen der Prüfungskommission sind im Hauptkatalog des Akademischen Gymnasiums in Wien I. nicht genannt, Mosaischer Religionslehrer am Akademischen Gymnasium war Béla Diamant, der Prüfer des von ihm „sehr gut“ benoteten A. R. gewesen sein wird. Auch die Prüfungsfragen in Religionslehre sind nicht überliefert. A. R. wurde insgesamt als „reif mit Stimmeneinhelligkeit“ erklärt.32
Die übliche Tretmühle gymnasialen Unterrichts hatte A. R. kennengelernt. Darüber hat nicht nur Stefan Zweig (1881–1942) Treffendes ausgesagt.33 Arbeiterkinder waren in den Gymnasien nicht willkommen, vielmehr waren die Gymnasien den Kindern der aufstrebenden kleinbürgerlichen Schichten und des etablierten Bürgertums vorbehalten. Weshalb A. R. ab Eintritt in die Oberstufe Privatunterricht erhielt und wie dieser organisiert war, lässt sich nicht mehr sagen. Gerade im Schuljugendalter verändern sich Lebenssituationen und die Schüler beginnen, allmählich Einsicht in Gesetzmäßigkeiten der Natur und Gesellschaft zu gewinnen. Was die Religion anlangt, hatte A. R. nicht die Erlebnisse von Arthur Schnitzler (1862–1931), der einem Referat die Überschrift „Wie die Welt von Jugend auf zur Dummheit erzogen wird“ gab.34 Eine Erlebnisrevolte gegenüber der Welt der Bibel und seinem zerstreuten jüdischen Volk gab es bei A. R. nicht. Er war aber „kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen“, er machte sich in seiner Gegenwart auf den Weg, sich den Aufgaben der Zukunft zu stellen.35
II.2 Student an der Philosophischen Fakultät der Alma Mater Rudolphina (1922/23–1928). Auf dem Weg zur Befreiung
„Ein Jude kann entweder Chasside oder … Kommunist sein.
Möge er lieber Chasside sein.“
‚Ein mäßig zynischer Pole‘ 1928 in Galizien zu Ilja Ehrenburg (1891–1967)36
Nach seiner Reifeprüfung war für A. R. kein Zweifel, dass es Sinn machen würde, an der Wiener Universität zu inskribieren. Wenn irgend möglich, galt es, die Stufenleiter emporzuklettern. Erwin Chargaff (1905–2002) schildert diese für so viele Kleinbürgerfamilien typische Situation recht nett.37 Dass A. R. sich darauf kaprizierte, an der Philosophischen Fakultät seine Nationalien auszufüllen,38 kann fürs erste mit existentiellen Fragen, die er sich selbst stellte, erklärt werden. An überlebensnotwendigem Selbstbewusstsein kann es ihm nicht gefehlt haben. Der ostgalizische Jude Joseph Roth (1894–1939), dem in seinem Leben viel Schmutz begegnete, ließ den Grafen Chojnicki sagen: „Es sind stolze Menschen, die galizischen Juden, meine galizischen Juden! Sie leben in der Vorstellung, daß ihnen alle Vorzugsstellungen einfach gebühren. Mit dem großartigen Gleichmut, mit dem sie auf Steinwürfe und Beschimpfungen reagieren, nehmen sie die Vergünstigungen und Bevorzugungen entgegen. Alle anderen empören sich, wenn man sie beschimpft, und ducken sich, wenn man ihnen Gutes tut. Meine polnischen Juden allein berührt weder ein Schimpf noch eine Gunst. In ihrer Art sind sie Aristokraten. Denn das Kennzeichen des Aristokraten ist vor allem anderen der Gleichmut; und nirgends habe ich einen größeren Gleichmut gesehen als bei einem polnischen Juden“!39 War das die Realität von polnischen Juden in Wien? Die Antisemiten sahen das so und interpretierten isolierte Beobachtungen ihren Interessen gemäß. Der Wiener Orientalist Adolf Wahrmund (1827–1913), Professor an der hochangesehenen k. u. k. orientalischen Akademie, zitiert in seinem durchgehend antisemitischen Machwerk Das Gesetz des Nomadenthums und die heutige Judenherrschaft einen Korrespondenten des „Oesterreichischen Volksfreundes“ vom 17. Dezember 1885 über das Leben an der 1875 gegründeten Francisco Josephina Universität in Czernowitz: „Weil aber der Jude immer ungleich mehr zu scheinen weiß, als er ist, so gehen die Herren Professoren ihm auf den Leim, befreunden sich mit ihm und dienen dann den Judeninteressen, ohne es selbst zu wissen und vielleicht auch ohne zu wollen. Ja, die Herren schämen sich des einfachen, bescheidenen deutschen Bürgers und Handwerkers, der ihnen nicht so nobel scheint wie der Jude. Der Parch40 (Jude) aber, wie stolz geht er neben dem Herrn Professor auf der Gasse und konversiert mit ihm über Politik, Gleichberechtigung und Liberalismus“.41 Karl Kraus notiert, dass ein deutschnationaler Professor genötigt worden sei, „sich gegen den Verdacht der Bevorzugung von Ostjuden“ zu wehren. Er habe das mit der Begründung getan, dass in seinem Dekanat „keine schrankenlose Aufnahme von Ostjuden erfolgt ist und im Gegenteil die Aufnahme der Ostjuden in weitgehendster Weise und nach klar umrissenen einheitlichen Normen herabgedrückt wurde“. Kraus kommentierte das sei insofern ein Fehler, als er überzeugt sei, „daß sich unter den Ostjuden manche finden, die mehr Gefühl für die deutsche Sprache haben als sämtliche Ostdeutschen“.42 1925 stellte die Wienerin Anna Strömer (1891–1966), ab 1916 in der Zimmerwalder Linken und Gründungsmitglied der KPÖ, aus Anlass des wegen der Weltwirtschaftskrise sich wieder zuspitzenden Antisemitismus mit ihrem Artikel „Jud‘ hinaus! Jud‘ hinaus!“ so wie Friedrich Engels (1820–1895) 1890 in seinem Brief nach Wien43 fest, dass die Judenhetze der „Völkischen“ und der „Christlichen“ die ganze Sachlage verfälschen würden. Im Ausbeuten gebe es, betont Strömer, keine „Rassenunterschiede“: „Ob die Arbeiter von einem Kapitalisten mit krummer Nase und platten Füßen ausgebeutet werden oder von einem blauäugigen, blond gelockten Arier: das ist gehupft wie gesprungen. Beide sind Ausbeuter und beide müssen bekämpft werden. Aber nicht, weil sie beschnitten oder unbeschnitten haken- oder stumpfnäsig, schwarzhaarig oder blond, ungetauft oder getauft, o- oder x-beinig sind, sondern weil sie sich auf Kosten der arbeitenden Klasse bereichern, sie ausbeuten“.44 Im selben Jahr schrieb Anna Strömer in der Festnummer zum Jahrestag der Pariser Kommune. Die Rote Fahne (23. März 1925) über Die Heldinnen der Kommune.
A. R. beteiligte sich seit dem Beitritt zum Kommunistischen Jugendverband an vielen Aktivitäten der KPÖ auf der Straße oder in den Lokalen. Für die Konferenzen der Roten Hilfe in deren Konferenzlokal im VII. Bezirk (Mariahilferstraße 56) organisierte er Stenographen und Maschinenschreibkräfte, gab Legitimationen zur Teilnahme aus und war bei den Vorbesprechungen mit Provinzdelegierten dabei. A. R. war Ansprechperson für die Karten der Revolutionsfeier der Roten Hilfe am 8. November 1925 im Volkshaus im XVI. Bezirk, Koflerpark, und gab solche in den Pausen der Konferenz der „Roten Hilfe“ am 24. Oktober 1925 aus.45 Seine Vortragstätigkeit in der Kommunistischen Proletarierjugend war vielfältig, im Herbst 1923 sprach er in Ortsgruppen über „Die Entstehung der Erde“, am 29. Jänner 1924 in der Ortsgruppe 2, Kleine Stadtgutgasse 3 im II. Bezirk, erstmals über „Lenin“. Die KPÖ war klein und lebte vom revolutionären Geist der Jahre nach 1917. Eine revolutionäre Partei muss keine große Anzahl von Mitgliedern haben, es genügt, dass sie die Keimzelle einer Bewegung ist. Das haben die Bolschewiki mit Lenin im riesigen Russland gezeigt oder die kubanischen Revolutionäre mit Fidel Castro (1926–2016).
An der ehrwürdigen Universität, wo im Hof die Büsten berühmter verstorbener männlicher Professoren ohne ihre Schattenfrauen aufgestellt waren, begannen die völkische und christliche Studentenschaft und der antisemitische Professorenklüngel, Juden zu diskriminieren. Stimuliert wurde die antisemitische Frontbildung an den österreichischen Universitäten durch die 1922 erfolgte Wahl des jüdischen Historikers Samuel Steinherz (1857–1942) zum Rektor der Deutschen Universität Prag für das Studienjahr 1922/23. Die sudetendeutschen Studenten hatten in Prag unter Führung von Kleo Pleyer (1898–1942) den rassistischen Antisemitismus auf ihren völkischen Fahnen vorangetragen und viel Aufmunterung von Seiten der deutschen Professoren erhalten.46 Der Akademische Senat der Innsbrucker Universität gab seinen Dekanaten 1923 nicht veröffentlichte Richtlinien, wonach es den Dekanen frei stehe, die Aufnahme von Ausländern „ohne Angabe von Gründen“ abzulehnen. Das war vor allem gegen die Ostjuden aus Polen, der Ukraine, Rumänien, Russland, Ungarn und der Tschechoslowakei und Juden aus anderen Staaten, die einen numerus clausus für ihre jüdischen Studenten eingeführt haben, gerichtet. Und, so der Akademische Senat mit seinen Theologen, es sei auch die Neuaufnahme jüdischer Inländer nach Möglichkeit zu vermeiden. Innsbruck konnte diesen Rassismus ohne jedes Aufsehen praktizieren, Wien musste sich noch etwas gedulden, obschon es nach Auffassung des 1916 aus Prag nach Wien gekommenen Wenzeslaus Graf Gleispach (1876–1944) ein Vorposten deutscher Kultur gegen den Osten war.47 Ende 1914 hatte er in der Wiener Urania über „Die strafrechtliche Rüstung Österreichs“ einen Vortrag gehalten, in dem er die Gemeinsamkeit von Krieg und Strafrecht betonte: „Beides ist Kampf, das Strafrecht ein Kampfrecht, Strafgesetz und Strafverfahren die rechtliche Ordnung für den Kampf, den der Staat tagtäglich gegen das Verbrechen zu führen hat“. Und weiter: „Für das Verbrechen des Staates gibt es nur eine Methode der Strafrechtspflege und das ist der Krieg. … Sie muss in der Vernichtung des verbrecherischen Subjektes bestehen, in dem Tode des Staates Serbien“.48 Gleispach lancierte als Rektor der altehrwürdigten Wiener Universität, unterstützt von seinem Kollegen Karl Gottfried Hugelmann (1879–1956), der stellvertretender Vorsitzender des Bundesrates war, und anderen deutschvölkischen Professoren eine rassistische Studentenordnung, die am 8. April 1930 rechtsverbindlich in Kraft gesetzt wurde. Diese wurde aber vom korrekt agierenden Verfassungsgerichtshof mit der Begründung aufgehoben (20. Juni 1931), sie sei, weil nicht in den autonomen Bereich der Universität fallend, rechtswidrig. Die Mehrheit der Universität musste sich noch bis 1938 gedulden, ehe sie sich von ihren jüdischen, sozialistischen oder kommunistischen Angehörigen befreien konnte. Das alles war aber ein Schritt hin zum rassistischen Recht des Nationalsozialistischen Staates mit allen mörderischen Konsequenzen.
A. R. war sportlich, er trat der Wiener Fußballmannschaft des Vereins Bar Kochba bei. Das war für Wiener Jugendliche nicht ungewöhnlich, denen sich viele Jugendverbände von den Pfadfindern bis hin zu Zionisten anboten. Der Fußball begann in der jungen Republik, viele junge Männer zu begeistern. Der Name Bar Kochba (Sohn des Sterns) leitet sich vom Führer des letzten großen Aufstandes der palästinensischen Juden gegen die Römer ab (132–135 n. u. Z.). Kaiser Hadrians (76–138 n. u. Z.) Feldherr Severus hatte aus Britannien kommend die aufständischen Juden in ihrem letzten Bollwerk Bethar (auch Better, Festung westlich von Jerusalem) eingeschlossen. Bar Kochba war dort mit allen getreuen Aufständischen gefallen. Jüdische Fußballer hätten sich so wie die Tschechen, Ungarn, Polen oder Jugoslawen in der Buntheit von Wien heimisch fühlen können, es wäre nicht notwendig gewesen, einen eigenen jüdischen Fußballklub zu gründen.49 Die Veränderungen von Wien seit Kriegsende waren allerdings massiv. „Die Zeiten ändern sich und mit den Dingen auch die Menschen“, sagt ein altes Sprichwort, dessen Wahrheit sich immer wieder bestätigt. Der Zionismus gewann unter jungen Juden an Boden, doch besuchte A. R. keine zionistischen Kongresse oder Sommerlager so wie der seit 1918 (bis 1934) in Wien III, Landstraßer Hauptstraße mit seiner Familie wohnende Teddy Kollek (1911–2007).50 A. R. war in seinen studentischen Jahren Funktionär seines Bar Kochba Fußballvereins. Am 22. Juni 1921 sollten sich gegnerische Jungmannschaften, zu denen die Jungmannschaft von Rapid gehörte, bei ihm für ein Sonntagsspiel am 26. Juni melden.51 Um Ostern 1922 wurde in der Wiener Morgenzeitung von einer Reorganisation des Bar Kochba Fußballvereins mit A. R. berichtet.52
Seine Nationalien an der Universität füllte A. R. ab seinem ersten Semester, also ab dem Wintersemester 1922/23, handschriftlich in der Rubrik „Religion, welcher Ritus oder Konfession“ mit „mosaisch“ aus und gab in der Rubrik „Muttersprache, Alter“ „polnisch, 18J“ an. In der Rubrik „Heimatzuständigkeit (Ort und Land)“ schrieb er „Mikulince (Galizien) Polen“, in jener zur „Wohnadresse des Studierenden“ „II Wolmutsstraße 19/22“, zur Rubrik „Vorname, Stand und Wohnort seines Vaters“ „Berl, Lehrer, ebenda“ und zu jener „Staatsbürgerschaft“ „polnisch“. Das Nationale von A. R. erhielt am Kopf im 3. Semester von Seiten der Universitäts-Quästur Wien den Stempel „Ausländer“, ab dem Sommersemester 1924 wurde die Rubrik „Muttersprache, Alter“ mit dem Stempel „Volkszugehörigkeit“ ergänzt und A. R. schrieb „jüdisch“ hinein. Ab Sommersemester 1926 druckten die Nationalien in der Rubrik „Muttersprache, Alter“ die Frage „Volkszugehörigkeit“ schon mit, welche von A. R. stets mit „jüdisch“ beantwortet wurde. Das blieb so bis zu seinem achten und letzten Semester 1927. Durchgehend gab A. R. in der Rubrik „Staatsbürgerschaft“ „polnisch“ an. Seine Eltern waren in den Meldeunterlagen von Wien als Österreicher ausgewiesen. Von der Zahlung des Kollegiengeldes war A. R. nicht befreit.
Bis hin zur Wahl eines Dissertationsthemas im Einvernehmen mit dem Wirtschaftshistoriker Alfons Dopsch (1868–1953)53 neigte A. R. eher dem noch im August 1918 für eine Professur in Czernowitz vorgesehenen Historiker Wilhelm Bauer (1877–1953)54 zu. A. R. besuchte in seinen ersten beiden Semestern die zweistündige „Einführung in das Studium der Geschichte“ von Wilhelm Bauer, im zweiten Semester dazu auch dessen zweistündige „Geschichtliche Übungen“. In den ersten Wochen des 3. Semesters von A. R., im Wintersemester 1923/24, zeichneten sich antisemitische Exzesse der völkischen, von ihren christlichen Kommilitonen unterstützten Studenten ab. Am 20. November 1923 musste die Universität vorübergehend ganz geschlossen werden. Die Vorlesungen des Mediziners Julius Tandler (1869–1936) und des Juristen Carl Grünberg (1861–1940) wurden mit den Rufen „Juden hinaus!“ blockiert. „Hinaus mit den Juden!“, diese Parole wurde durch „Hinaus mit den Marxisten“ erweitert. A. R. blieb zeitlebens damit konfrontiert. In diesem seinem 3. Semester (WS 1923/24) belegte er bei Bauer dessen einstündige Vorlesung „Die theoretischen Grundlagen der Geschichte“. Es lässt sich nicht feststellen, inwieweit Bauer seinen rassistisch politischen Eifer in seinen Vorlesungen und Übungen zum Ausdruck brachte. Er rühmte sich jedenfalls, „Juden auf den ersten Blick zu erkennen“55. Über Josef II. (1741–1790) räsonierte Wilhelm Bauer 1938 in einem zu Ehren von Heinrich Srbik (1878–1951)56 geschriebenen Beitrag, dieser habe mit seiner Toleranz nicht geahnt, „dass er mit seinen Maßnahmen schicksalhaft in das Leben nicht nur der Juden, dass er fast noch mehr in das der deutschen Nation griff, indem er durch den Zwang zu deutschem Unterricht mit Gewalt jüdische Geistigkeit in die abendländische Kultur pumpte“. Über Ludwig Börne (1786–1837) und Heinrich Heine (1797–1856) schrieb er: „Wanderer zwischen zwei Welten, litten diese Bastarde des Geistes an Heimatlosigkeit und verdeckten diese Leere bisweilen mit geradezu satanischen Ausfällen wider das Christentum, wie man sie in Heines Briefen finden kann, mit Ausfällen gegen alles Deutsche, oft auch mit grausamer Selbstzerfleischung. Von dem allen merkte das liberal gesinnte Deutschland nichts, merkte nichts und wollte nicht merken, dass da gesamtdeutsche Interessen von schicksalhafter Größe auf dem Spiel standen.“57 Für Adolf Hitler (1889–1945) war Josef II. ein „Freund der Menschen“, der in seiner nur zehn Jahre dauernden Regierungszeit als „römischer Kaiser der deutschen Nation“ noch einmal versucht habe, sich „gegen die Fahrlässigkeit der Vorfahren“ zu stemmen.58
Im ersten Semester 1922/23 konnte A. R. noch die vierstündige „Einleitung in die Philosophie“ von Wilhelm Jerusalem (1854–1923) besuchen und interessierte sich für die Darstellung des eben erst habilitierten Arthur Winkler-Hermaden (1890–1963) über die „Ostalpen im Jungtertiär“, jedenfalls hatte er diese Veranstaltung inskribiert. Wichtig war ihm, seine Kenntnisse in der Stenografie zu verbessern. Er nahm am wöchentlich zweistündigen Kurs des schon 76-jährigen Universitätslektors der Stenografie, Johann Flandorfer (1846–1931),59 der viele Jahre Reichsratsstenograph gewesen war, teil und hörte wahrscheinlich auch das eine oder andere über das Funktionieren und die Mitglieder des Reichsrats. Im zweiten Semester 1923 und am Beginn des Wintersemesters 1923/24 lernte er noch den sozialdemokratischen Politiker und Historiker Ludo Moritz Hartmann (1865–1924) kennen, der „Geschichte Italiens“ (dreistündig) und eine „Besprechung historische Fragen“ (einstündig) anbot. Im Wintersemester 1923/24 hörte er die dreistündige Vorlesung „Geschichte des Mittelalters“ des österreichischen Großhistoriker und Präsidenten der Akademie Oswald Redlich (1858–1944), dann auch jene von Alfred Francis Přibram (1859–1942), der in diesem Semester dreistündig über „Renaissance und Reformation“ vortrug und 1918 mit der Veröffentlichung von Urkunden und Dokumenten zur Geschichte der Juden in Wien begonnen hatte. Přibram, ein Freund von Sigmund Freud (1856–1939) und Josef Redlich (1869–1936), konnte 1939 nach England flüchten.60 Im Sommersemester 1924 besuchte A. R. die Vorlesung „Geschichte Europas“ (zweistündig) des deutschnationalen Viktor Bibl (1870–1947) und lernte erstmals, aber intensiv Alfons Dopsch in dessen sechsstündig angekündigten „Übungen für Anfänger“ kennen. Der Besuch des einstündigen „Philosophischen Seminars“ und der einstündigen Vorlesung über die Relativitätstheorie von Albert Einstein (1879–1955) bei dem 1922 als Nachfolger von Ernst Mach (1838–1916) von Rostock nach Wien berufenen, 1936 ermordeten Moritz Schlick (1882–1936) wird für A. R. ein Muss gewesen sein. Einstein hat die Darlegung seiner Theorie durch Schlick als ausgezeichnet empfunden. Der im Bereich der Geschichte vermittelte metaphysische Interpretationsmechanismus wurde von Schlick hinterfragt und versucht, die Welt materialistisch zu deuten. Walter Hollitscher (1911–1986), nach 1945 einer der führenden Intellektuellen in der KPÖ, war einer der Schüler von Schlick. Mit Mach, der auf den jungen Einstein großen Einfluss ausübte, und mit Schlick wurde als Aufgabe von wissenschaftlicher Erkenntnis gesehen, die Erfahrung in eine möglichst ökonomische Ordnung zu bringen.61 Vielleicht war A. R. zusammen mit Béla Juhos (1901–1971) in den Lehrveranstaltungen von Schlick. Der Pfeilkreuzler Juhos erinnerte zusammen mit Victor Kraft (1880–1975) nach 1945 an den „Wiener Kreis“. Im Wintersemester 1925/26 besuchte A. R. bei Schlick noch dessen einstündige „Philosophie der Mathematik“ und in seinem letzten Sommersemester 1926 dessen einstündige Vorlesung zu „Weltanschauungsfragen“. A. R. näherte sich Dopsch an, besuchte im Wintersemester 1924/25 bei ihm nochmals dessen sechsstündige „Übungen für Anfänger“ und führte mit ihm wegen einer Dissertation Gespräche. Bruno Kreisky (1911–1990) erinnerte sich, dass Dopsch sich im Gegensatz zu vielen anderen Wiener Universitätsprofessoren nie zu irgendwelchen antisemitischen Exzessen herabgelassen habe.62 Für das Philosophicum dachte A. R. an Robert Reininger (1869–1955), dessen vierstündige „Praktische Philosophie“ er in diesem Semester besuchte. Mit dem Sommersemester 1925 war A. R. mit seiner Umschau fertig. Er besuchte wieder die sechsstündigen „Übungen für Anfänger“ von Dopsch, dazu dessen dreistündiges Angebot „Soziologische Grundfragen“, und zur Vertiefung der Philosophie Reinigers einstündige Vorlesung über Gustav Theodor Fechner (1801–1887). Viele Jahre später wird sich A. R. an Fechner erinnert haben, als er den Brief von Marx an seinen Freund Ludwig Kugelmann (1828–1902) vom 27. Juni 1870 las,63 worin Marx feststellte, dass Fechner die Dialektik von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) überhaupt nicht verstanden habe, oder als er beim Studium von Lenins in Vorbereitung auf die Oktoberrevolution geschriebenem philosophischen Hauptwerk Empiriokritizismus und historischer Materialismus wieder darauf stieß. Da wird A. R. gelernt haben, was Dialektik der Geschichte bei Marx ist, nämlich eine immanente, nur menschengeschichtliche Dialektik, während bei Hegel die Dialektik der Geschichte eine solche des absoluten Weltgeistes ist und insofern doch eine säkularisierte, weil an die Stelle der Transzendenz Gottes eine absolute Metaphysik gesetzt ist. Aber es war doch bereichernd, dass A. R. einmal von Fechner und den mit diesem Namen verbundenen Anfängen der naturwissenschaftlich vorgehenden Psychologie und dem idealistisch-spiritualistischen philosophischen System und dessen panpsychistischem Charakter hörte.64 Im Wintersemester 1925/26 besuchte A. R. erstmals Vorlesungen des von Graz nach Wien gekommenen Heinrich Srbik, der im Einvernehmen mit Dopsch Zweitbegutachter seiner Doktorarbeit sein sollte. Srbik las dreistündig über „Reformation und Gegenreformation“. Hinzu kamen in diesem Semester ein „Repetitorium der Wirtschaftsgeschichte“ bei der eben von Dopsch habilitierten Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Erna Patzelt (1894–1987) und eine Lehrveranstaltung bei dem 1919 habilitierten, aus dem galizischen Judentum stammenden Althistoriker mit byzantinischem Schwerpunkt Ernst Stein (1891–1945) über „Kirchenverfassung und Staatskirchenrecht bis zum Konzil von Chalcedon“. Die deutsche Studentenschaft hatte nicht vergessen, ihn in die Liste der Fakultätsmitglieder „nicht arischer Herkunft“ aufzunehmen.65 Zu dem studentenfreundlichen Ernst Stein pflegte Viktor Matejka (1901–1993), der 1919/20 mit dem Studium der Geschichte begonnen hatte, eine freundschaftliche Nähe.66 „Methodik des Geschichtsunterrichtes“ war in diesem Wintersemester 1925/26 eine weitere Lehrveranstaltung, die A. R. besuchte. Das ist verwunderlich, weil A. R. als Berufsziel nicht das Lehramt im Kopf haben konnte. Es wird der Vortragender Heinrich Montzka (1875–1941) gewesen sein, der A. R. veranlasst hatte, in diese Vorlesung zu gehen. Montzka, der ab dem Schuljahr 1923/24 von Innsbruck kommend Gymnasialdirektor am Sperlgymnasium in Wien II, war, galt als guter und erstaunlich fortschrittlicher Geschichtspädagoge. Er war ausgebildeter Historiker und hatte 1898 mit einer Arbeit „Über die Quellen zur chaldäisch assyrischen Geschichte in Eusebios von Caesareas Chronik“ 1898 in Wien promoviert.67 Montzka hielt Vorträge im Leopoldstädter Volksheim und vielleicht kannte ihn A. R. von dort her. Das 1931 von Montzka publizierte Buch über die Entstehung der Republik wurde von der Arbeiterzeitung der „proletarischen Jugend“ empfohlen, es sei „frei von jeder reaktionärer Heimtücke und ehrlich, demokratisch, republikanisch“.68 Im Sommersemester 1926 beendete er seinen regelmäßigen Besuch von Vorlesungen. Neben der schon erwähnten Lehrveranstaltung von Schlick besuchte er bei seinem Dissertationsvater Dopsch dessen dreistündige Übersichtsvorlesung „Die politischen Theorien des Mittelalters“ und bei Heinrich Gomperz (1873–1942) dessen einstündige Einführung in „Platons Ideenlehre“. Welche „Abschweifungen“ mag Gomperz vorgenommen haben? Er, der aus einer angesehenen und wohlhabenden jüdischen Familie stammte, gehörte einem sich in Jugendtagen gefundenen, elitären Diskussionsklub, Sokratiker, an und gestand mit dem Klubnamen „Simmias“ den geistigen Arbeitern eine selbständige Rolle in der Klassengesellschaft zu. Dabei war ihm die Rolle jener als „Demagogen, Volksredner und Zeitungsschreiber, die sich bei der Masse der Handarbeiter am erfolgreichsten einschmeicheln“, ein Gräuel.69 Erich Weinert (1890–1953) verfasste 1931 ein Gedicht „An die Geistesarbeiter“, welches für diesen Kreis nützlich gewesen wäre, um über die Kathederwelt hinauszukommen.70 Im Sommersemester 1926 ging A. R. zudem in die Vorlesungen des interdisziplinär forschenden, seine Ergebnisse popularisierenden und wegen der Diskussion über die Klimaveränderungen wieder entdeckten Geographen Eduard Brückner (1862–1927), der fünfstündig „Geographie von Mitteleuropa“ angekündigt hatte. Nur einstündig war die von der Pionierin der Entwicklungspsychologie Charlotte Bühler (1879–1963) angekündigte „Sozialpsychologie“, die bei A. R. aber erkennbaren Eindruck hinterließ. Dass A. R. sich auf die für den psychischen Lebenslauf wichtigen Daten von Lenins Jugend so intensiv konzentrierte und die Frage beantworten wollte, weshalb Lenin ein Revolutionär geworden war, kann mit den Anregungen von Charlotte Bühler zusammenhängen. Forschungsschwerpunkt von Charlotte Bühler, von dem sie in ihren Vorlesungen erzählte, war die Psychologie von Kindheit und Jugend und überhaupt die menschliche Biographie.71