Kitabı oku: «Dalriada», sayfa 3
Während des Seminars waren ähnliche Themen schon mehrmals am Rande zur Sprache gekommen. Aber Heather hatte offenbar schon ihre Position zu diesen Themen gefunden. Beinahe alles, was sie auf der Brücke mit Blick auf den See sagte, wirkte auf mich sonderbar endgültig. Aber ungeachtet aller Sympathien überzeugten mich ihre Ausführungen doch nicht so ganz. Wo jedoch die Schwachstelle in ihrer Gedankenführung lag, wollte mir nicht einfallen, also gönnte ich mir erst einmal eine Phase der Reflexion.
Nach einer längeren Pause, in der wir schweigend auf die sich im Wasser spiegelnden Wolken und auf die Lichtreflexe unter der sich im Wind hin und her wogenden Trauerweide geschaut hatten, gingen wir gemeinsam zurück zum Schloss, zunächst durch den Englischen Garten, dann durch den Französischen. Dieser letzte Teil der Anlage missfiel mir. Denn im Grunde verkörpert ein französischer Barockgarten doch nur die Arroganz des Menschen, die Natur dominieren, ihr ein unnatürliches Design aufzwingen zu können. Ein Miteinander, eine Kommunikation des Gartens mit der ihn umgebenden Landschaft fehlt im Park von Versailles völlig, dem Urbild aller französischen Barockgärten. Dort ist die Künstlichkeit dieses riesigen, inszenierten Festsaals unter freiem Himmel für mich derart überwältigend, dass ich seekrank werde, wenn ich mich zu lange dort aufhalte. Bei einem Besuch in einem englischen Park tauchen hingegen in meinem Kopf zumeist grundlegende Fragen nach dem Woher? Wohin? Wozu? auf. Die abwechslungsreiche, unregelmäßige Anordnung von Bäumen oder Hügeln oder Weihern schafft Freiräume und vermittelt so das Gefühl von Freiheit. Damals, an jenem speziellen Nachmittag im Park von Castle Howard war ich aber leider zu müde, um Heather zu fragen, ob sie auch so empfinde. Aber da sie im makellosen formalen Blumengarten – unter anderem mit einem Beet voll Tulpen mit flammenden Blüten – ihre Schritte erhöhte und nie stehen blieb, um genauer zu schauen, schloss ich, dass sie so ähnlich dachte wie ich und den faulen Zauber der Form ebenso ablehnte.
4. Kapitel
Abschied von Arkadien
Am nächsten, dem vorletzten Tag des Seminars diskutierten wir das Phänomen von Raumerfahrung in englischen Parks. Mit Hilfe natürlicher Gestaltungsmittel hatten englische Landschaftsarchitekten versucht, im Garten Räume zu gestalten, also kleinere Orte oder Plätze harmonisch in die jeweilige Umgebung einzufügen. Ein Beispiel für einen solchen Naturraum ist dieses: Auf einem sanften Hügel werden mehrere Solitärbäume gepflanzt, etwa eine Eiche, eine Ulme und eine Zeder. Dabei werden die Abstände und der Niveauunterschied zwischen ihnen so gewählt, dass der betrachtende Blick unweigerlich von einem Baum zum anderen schweift. Ergebnis dieser Komposition ist die Erfahrung von Raum. Solcher Naturräume wegen wirken große Gärten kleiner – und kleine Gärten größer.
Diese Idee der Raumgewinnung, so die Kursleiterin, reiche weit in die Geschichte unserer Kultur zurück, und zwar bis zum Übergang vom Fresko zur Ölmalerei. Konsequenterweise seien damals auch die ersten Spitzen hergestellt worden. Denn selbst der Stoff durfte nicht mehr nur Fläche, sondern sollte auch Raum, also durchbrochen sein, um den Unter- oder Hintergrund sichtbar werden zu lassen. Die Tätigkeit des Landschaftsarchitekten, der seine Aufgabe darin sieht, für eine konkrete Landschaft Naturräume zu kreieren, stehe also, so die Kursleiterin, in einer langen Tradition.
Nachdem wir uns dieses Gestaltungsprinzip der englischen Gartenkunst theoretisch erarbeitet hatten, suchten wir am nächsten Morgen in der Natur nach Beispielen. Also schritten wir mit unseren Notizblöcken durch kleine Wälder, an vielen Waldhyazinthen vorbei, deren Blüten den Boden englischer Wälder eine Zeitlang in eine weiße oder zart blaue Seenlandschaft zu verwandeln vermögen. Als wir nach einiger Zeit wieder aus dem dunklen Wald traten, erfassten wohl die meisten von uns beim Anblick offenen, kultivierten Landes, auf dem Rinder und Pferde friedlich grasten, Freiheitsgefühle. In diese mischte sich allerdings auch Trauer. Denn das Ende des Kurses war nahe, und der baldige Abschied ließ die meisten von uns wortkarg werden.
Es passte in diese Stimmung, dass Sturm und Hagel in der Nacht zuvor viele Blätter von den Bäumen gerissen hatten, weshalb es im Wald fast so modrig wie bei Nebel im Herbst roch. Vor wenigen Stunden noch hatte es derart heftig gehagelt, dass ich vom Fenster meines Zimmers aus einige Minuten lang nur eine weiße Wand vor mir sah. Die Hagelkörner fielen auf den Asphalt davor wie ein ungestüm tanzendes Ballett. Nun am Morgen wateten wir durch Lachen über dem weichen Moosboden und sahen Bäume, die wohl schon während eines früheren Sturms umgestürzt waren: Einige hatte der Wind gefällt, noch ehe die Bäume ihre Blätter verloren hatten. Inzwischen getrocknet, hingen sie immer noch an den Ästen wie eine Wolke über einem Grab.
Am Abend wurde für alle, die am Seminar teilgenommen hatten, eine kleine Abschiedsparty organisiert. Da ich mich zuvor ausgeruht und etwas verschlafen hatte, kam ich erst verspätet zum Fest. Unauffällig mischte ich mich unter die Menschen und versuchte, mir erst einmal einen groben Überblick zu verschaffen. Indem ich meinen Blick auf nichts Bestimmtes fixierte, sondern frei schweifen ließ, wollte ich zunächst einmal die allgemeine Stimmung erkunden, was mir aber nur mäßig gelang. Denn offensichtlich war ich zu aufgewühlt und schaute mich alsbald suchend um, nach Heather.
Zumeist standen die Kommilitonen in kleinen Gruppen mit jenen zusammen, deren Nähe sie schon seit geraumer Zeit zu schätzen gelernt hatten. Endlich fand ich sie, die etwas abseits von den anderen, nahe dem kleinen Wald stand. Heather hatte ihre Haare aufgesteckt, sodass ich erstmals ihr Gesicht zur Gänze sehen konnte. Ihre ebenmäßige Nase, ihr schwanenweißer Halsrücken und ihre sinnlichen, blassrosa gefärbten Lippen vollendeten das erotische Fluidum, das sie ohnedies schon auf mich ausstrahlte. Gekleidet war sie mit einer grauschwarzen Bluse und, dazu passend, einem dunkelroten Trägerkleid mit Wellensaum.
Heather war gerade tief in ein Gespräch mit Józef verwickelt, oder besser gesagt: er mit ihr. Józef stammte aus Krakau und war schon seit geraumer Zeit so etwas wie ein Unruheherd in der Gruppe. Dabei war es keineswegs Bösartigkeit seinerseits, die Unbehagen bereitete, ganz im Gegenteil: Józef mit dem leichten Silberblick wirkte bemerkenswert unaggressiv, fast liebenswürdig. Aber er fühlte sich in dieser Umgebung offenbar extrem unsicher, und diese Unsicherheit äußerte sich darin, dass er jede Stille zu vermeiden suchte. Wenn also Ruhe drohte, erhob er sogleich seine Stimme und begann unkontrolliert zu assoziieren. Als wir uns beispielsweise den Unterschied zwischen den emporstrebenden Zypressen und den eher zum Horizont gerichteten fächerförmigen Kronen der Pinien klar machen wollten und es zu einer kurzen Nachdenkphase gekommen war, begann Józef aus dem Nichts heraus zu kombinieren. Er verglich den Gegensatz zwischen Zypressen und Pinien mit dem zwischen gotischen und barocken Kirchen. Dieser überraschende, durchaus anregende Vergleich wurde aber, noch ehe er durch eine eingehende Diskussion vertieft werden konnte, von ihm erweitert durch die Tafelberge in Arizona, durch die vorbildlichen Hochhäuser in Chicago, durch den islamistischen Angriff auf die vertikalen Zwillingstürme in New York, durch die Hochzeitstorte bei der Vermählung seiner Schwester, an der 130 Personen aus ganz Polen teilgenommen hatten, die allesamt, als Höhepunkt, dem Papst ein Grußtelegramm schickten.
Spätestens bei der Nennung des Namens des Stellvertreters Gottes auf Erden lehnten sich die meisten zurück und starrten genervt in die Leere. Aber diese Ablehnung verunsicherte Józef nur noch mehr, und seine Phantasie begann noch wildere Beziehungen zwischen hoch und breit zu erfinden. Spätestens dann war die Kursleiterin gefragt, der es mit dem Hinweis, dass dies wirklich sehr interessante Vergleiche seien, tatsächlich gelang, Józefs Flüge einer erhitzten Einbildungskraft erst einmal zur Landung zu bringen. Der Pilot saß nun etwas erschöpft und verstört da, meldete sich aber mit einem Das muss ich noch schnell sagen alsbald wieder zu Wort, wurde nun aber gebeten, seine Bemerkungen auf den nächsten Tag zu verschieben, was dieser überraschenderweise auch zur Kenntnis nahm.
Ein Unruheherd also war Józef, dessen Gedankenfunken nach allen Seiten sprühten, die zwar zumeist lästig, aber doch völlig harmlos und niemals verletzend gemeint waren. Dieser polnische Hitzkopf hatte also Heather in Beschlag genommen, sprach erbarmungslos auf sie ein und kam ihr dabei, wohl ohne es zu merken, räumlich immer näher. Während er wie ein oberflächlicher Poseur vor ihr herumtänzelte, hielt sie das Glas Champagner als Schutz vor ihren Körper. Jósefs waberndes Gerede konnte ich zwar nicht verstehen, aber aufgrund seiner üblichen Geschwätzigkeit kochte in mir ein leichter Ekel hoch und ein gerüttelt Maß an Eifersucht obendrein. In meinem Kopf tauchte das Bild eines Lamas auf, das sein Gegenüber ebenfalls mit halbverdauter Nahrung zu bespucken beliebt. Da Józef, wie gewohnt, durch Heathers distanziertes Verhalten nur noch unsicherer wurde, wandte er sich auch anderen Frauen zu, um wenigstens von dort die gesuchte Bestätigung zu finden.
Aber nun ergriff ich rasch die Initiative, eilte zu Heather und schlug ihr vor, uns in der Nähe auf eine Bank zu setzen, und zwar auf eine solche, die keinen Platz mehr für andere ließ. Dabei ertappte ich mich, dass ich sie zunächst in der Affektsprache, also im gewohnten und in der Kindheit üblichen Dialekt ansprach, und erst einige Sekunden später Worte in der englischen Hochsprache fand.
Auf einer kleinen Bank sitzend, verbrachten wir gemeinsam in Muße den Rest des Abends. Zumeist schwiegen wir und nippten an unseren Gläsern Champagner, lauschten dem Gemurmel der anderen und genossen die einsetzende Dämmerung. Manchmal teilten wir einander mit, was wir gerade sahen oder hörten oder schmeckten. So sprachen wir über die Güte des Schaumweins, oder über die Lampions, die wie kleine Sonnen einen kugelförmigen Raum von einigen Metern Durchmesser ausleuchteten, oder über den Wind, der in die Seidenbluse einer Kursteilnehmerin gefahren war und sie schrill hatte auflachen lassen, oder wir erzählten einander vom Widerschein der Flammen des Lagerfeuers in den Ästen der Bäume.
Einige Osteuropäer hatten Volkslieder angestimmt, deren melancholische Melodien mich zum Teil tief berührten: Die Sänger und Sängerinnen, wovon eine ihre Finger wie auf einer unsichtbaren Harfe bewegte, hatten an einer bestimmten Stelle des Lieds gemeinsam eine Zeitlang einen bestimmten Mollakkords angehalten, den sie dann im Dreischritt in die Tiefe stürzen ließen. Die meiste Zeit nahmen Heather und ich zumeist nur durch unser Lächeln an der allgemeinen Stimmung teil. Als jedoch diese immer ausgelassener und mir zu laut wurde, schlug ich vor, einen Spaziergang zum neuen Arboretum zu machen.
Von den meisten wurde unser Aufbruch gar nicht bemerkt, einige schauten uns etwas verdutzt an. Von diesen verabschiedeten wir uns und vertrösteten sie auf den nächsten Morgen. Anschließend spazierten wir durch den Park, bestaunten im Mondlicht die Bäume, die nur noch als Silhouette zu erkennen waren. Die ganze Gegend aus Feldern und Hügeln, die untertags voll prallen Lebens war, war nur noch wie auf einem riesigen Scherenschnitt zu sehen, und auch das nur für kurze Zeit. Einige Minuten zuvor waren noch zu viele Einzelheiten zu erkennen gewesen, einige Minuten danach zu wenige.
Im neu errichteten Arboretum, in dem viele der wichtigsten noch lebenden Bäume gesammelt werden sollen, wanderten wir von einem dieser Ehrfurcht gebietenden Lebewesen zum nächsten. Dazwischen kam immer wieder der Mond hinter dem vorbeiwandelnden Gewölk hervor und spendete genügend Licht zur Orientierung. Da ich mich schon daran gewöhnt hatte, dass Heather und ich wenig miteinander sprachen, war ich bass erstaunt, als sie mich plötzlich fragte, woher ich denn genau käme.
„Aus den Alpen.“
Sie schien überrascht, und da sie diese Landschaft noch nie besucht hatte, musste ich ihr detailliert schildern, wie es dort, also bei mir zu Hause aussieht.
„Und wie sind die Alpen entstanden?“, fragte sie dann.
Nachdem ich ihr von der Hebung des Bodens aufgrund der Kontinentalverschiebung erzählt hatte, meinte sie:
„Aha, du kommst also aus den Eingeweiden der Erde.“
Nach einem herzhaften Gelächter bestaunten wir entspannt die unregelmäßigen Umrisse einer alten Eiche. Darauf hin erzählte ich Heather, dass ich nach dem Seminar eine Reise in die schottischen Highlands unternehmen wolle, und ich ersuchte sie um einige Tipps.
„Du solltest unbedingt auf die Insel …“
Dann stockte sie und knabberte an ihrer Unterlippe. Wieder vergingen Minuten, in denen wir schweigend nebeneinander hergingen. Nur einmal schaute ich sie etwas fragend an und zog die Augenbrauen ein wenig hoch. Plötzlich fragte sie mich, ob es mir ungelegen sei, wenn sie mich auf diese Reise begleite. Dazu fiel mir Esel nun nichts Besseres ein, als mich zu erkundigen, ob sie denn überhaupt Zeit dazu hätte.
„Ja, ich wohne in Edinburgh, arbeite im Institut für Schottische Studien und fahre zumindest zweimal pro Jahr in die Highlands.“
„Und warum?“
„Weil ich dort geboren bin, aber vor allem aus Forschungsgründen. Oft sind es ganz konkrete Fragen, wie etwa die Lage eines alten Dorfes, die ich klären muss. Zudem gibt es einige persönliche Gründe: Für Heiden galt die Natur – und nicht der Schöpfer derselben – noch als allmächtig. Heutzutage denken die Menschen anders, aber die Natur ist immer noch gewaltig. Das möchte ich unmittelbarer als in der Stadt erleben, um auf diese Weise vieles, was vergangen ist, besser verstehen zu können. Durch solche Ausflüge, so meine Erfahrung, wird auch mein Kopf wieder klarer, manches löst sich und mir wird wieder deutlicher bewusst, was wichtig ist und wie wenig ich eigentlich benötige, um zufrieden zu sein. Nach einer langen Wanderung durch die Highlands ist zudem das erste Getränk, die erste Dusche und das erste Bett ein ganz besonderer Genuss. Neben den unterschiedlichsten und erlesensten Naturerfahrungen ist es wohl genau dies, worum die weit Gewanderten wissen und worauf sie nicht verzichten wollen.“
„Und was ist wichtig?“, fragte ich.
„Ein gutes Leben zu führen.“
„Und was ist ein gutes Leben?“
Heather schwieg wieder lange. Dann meinte sie, dass sie darauf noch keine überzeugende Antwort gefunden habe. Immer dann, wenn sie glaube, dass ihr dies gelungen sei, zerbrösle die Antwort auf die Frage nach dem guten Leben nach einiger Zeit an der Wirklichkeit.
„Aber ich denke viel darüber nach und arbeite daran“, versicherte mir Heather lachend. „Am Ende findet sich vielleicht eine Antwort, die haltbar ist.“
›Am Ende?‹, fragte ich mich etwas erstaunt, sagte aber nichts, und da es Heather fröstelte, gingen wir rasch in unsere Herberge und verabredeten uns für den kommenden Tag.
5. Kapitel
Das Grenzland
Geweckt vom Gekrächze eines Pfaus, stand ich sehr früh auf, packte sorgfältig meine Sachen und ging in den Frühstücksraum. Die Tische waren spärlich besetzt, auch Heather fehlte noch. Also nahm ich an einem der leeren Tische Platz und versorgte mich am Buffet mit einem üppigen englischen Frühstück. Allmählich füllte sich der Raum, und der beredten Stille folgte ein allgemeines Geschnatter. Dann endlich erschien auch Heather, und ehe sie sich am Buffet bediente, kam sie an meinen Tisch, wünschte mir einen guten Morgen und legte ihren Zimmerschlüssel auf den Sessel.
Die Gespräche im Frühstücksraum changierten zwischen dem gestrigen Lagerfeuer, dem Unwetter vor wenigen Tagen und der baldigen Abreise. Nach und nach verließen die Freunde und Bekannten der letzten zwei Wochen wieder den Raum, nachdem sie sich zuvor Hände schüttelnd oder einander umarmend verabschiedet hatten. Auch für mich war es Zeit geworden, einigen Lebe wohl! zu sagen und zu gehen. Während Heather noch sitzen blieb und zu Ende aß, parkte ich mein Wohnmobil etwas abseits unter einer riesigen Ulme und informierte die Verwaltung des Schlosses, dass ich nach etwa zehn Tagen wieder zurück sein werde. Danach holte ich meine Sachen aus dem Zimmer und ging zum Parkplatz, wo Heather bereits vor ihrem Auto auf mich wartete. Nicht überraschend, öffnete ich die falsche Tür zum Beifahrersitz. Während Heather über meinen Irrtum schmunzelte, schüttelte ich ein wenig seufzend den Kopf. Dann endlich befand sich alles am richtigen Platz, und wir fuhren Richtung Norden.
Die Reise führte uns zunächst auf kleinen Straßen durch ein Spalier aus Bäumen und gelegentlich durch kleine Auwälder. In der Nähe des Schlosses waren an einigen Stellen die Kronen der Bäume über die Straße gewachsen, sodass wir durch einen grünen Tunnel hindurchfuhren. Oben an der Tunneldecke strahlte ein schmaler, blauer oder blaugrauer Streifen Licht. Den Besitz von Castle Howard verließen wir durch eine Schatten spendende Allee mit dutzenden Silberpappeln.
„Vom Auto aus scheinen sie den Himmel zu kämmen“, meinte Heather.
Da gerade ein heftiger Wind wehte, zeigten die Blätter ihre silbrige Unterseite, und die Allee verfärbte sich von einem satten Grün in ein flirrendes Silber. Je weiter wir uns vom Schlosspark entfernten, desto offener wurde das Land. Sobald die Straße über einen kleinen Hügel führte, wurden wir Zeugen dessen, wofür England auch so berühmt ist: die durch Hecken begrenzten, schachbrettartig angelegten Felder und Viehweiden. Wenn in ihnen jeweils andere Pflanzen wuchsen, glaubte man, auf ein riesiges Mosaik oder gar auf eine grandiose Einlegearbeit zu schauen. Einmal sahen wir ein Feld, auf dem ausschließlich blaue Pflanzen gediehen, wahrscheinlich eine besondere Kleeart, oder aber ein blauer, spät blühender Raps.
Je näher wir der schottischen Grenze kamen, umso seltener wurden die Wälder, bis sie schließlich fast gänzlich verschwanden. Noch deutlicher war an den Hecken zu erkennen, dass wir nach Norden unterwegs waren. Denn während im Süden der Insel praktisch alle Hecken aus Büschen – oft Hainbuchen – bestanden, vollzog sich seit geraumer Zeit der Übergang von der Buschhecke zur Steinmauer.
Steinwälle haben gegenüber Pflanzenhecken den Vorteil, dass sie den Feldfrüchten einen besseren Windschutz bieten. Außerdem wurde durch den Bau der kleinen Steinmauern der karge Boden teilweise von Steinen befreit und erlaubte somit eher den Einsatz von Maschinen. Auf den Mauern lagen oft besonders spitze Steine, manchmal waren sogar Ton- oder Glasscherben einbetoniert. Offensichtlich sollte auf diese Weise eine unüberwindliche Barriere für andere Lebewesen geschaffen werden.
Rechts und links von der Straße waren gelegentlich, oft bis zum Horizont reichend, fast ebene, maschinengerecht aufbereitete Felder zu sehen. Einige Golfplätze mit ihren mit Sand gefüllten bunkers unterbrachen die Felder- und Weidelandschaft. Zuweilen führte die Straße jedoch an steilen Hügeln vorbei, die keine landwirtschaftliche Nutzung erlaubten. Am Fuße dieser Hügel wuchsen oft gelb blühende Ginsterbüsche oder ganze Rhododendrenhaine, die zuweilen den gesamten Hügel zu umgürten schienen. Rhododendren blühten umso häufiger, je weiter wir nach Norden kamen. Also auch daran – und nicht nur an den Steinwällen – war der gleitende Übergang von Süd nach Nord, vom Norden Englands in den Süden Schottlands deutlich zu erkennen.
Auf manchen Hügelspitzen waren Antennenanlagen errichtet, die wohl militärischen Zwecken dienten, möglicherweise der U-Boot-Überwachung. Unterhalb dieser riesigen Spinnennetze aus Stahl gediehen oft mächtige, weithin sichtbare Solitärbäume als natürliche Wegmarken. Die Hänge landwirtschaftlich nicht genutzter Hügel sind das bevorzugte Zuhause von Dachsen, den märchenhaften Meistern Grimmbart.
Auf unserer Reise nach Norden kamen wir an vielen alten Pubs vorbei, deren Außenfront oft zur Gänze mit Efeu bewachsen war. Zumindest an Wochenenden sind sie der allgemeine Treffpunkt für Menschen der Umgebung, auch für Familien mit ihren Kindern, wie die vielen, an die Pubs angrenzenden Kinderspielplätze vermuten lassen. Einmal waren neben dem Pub sogar Hagelnetze gespannt, die im Sonnenlicht silbrig glänzten und weithin sichtbar waren. Vermutlich experimentierte hier ein englischer Exzentriker mit kälteresistenteren Weinreben.
Heather schien das Autofahren sehr zu genießen. Sie fuhr überaus konzentriert und eher langsam. Neue Reiseeindrücke – etwa eine Waschbärenfamilie, die die Straße überquerte – quittierte sie mit Begeisterung. Wie gewohnt, sprachen wir, wenn wir uns mit anderem beschäftigten, fast nichts, oder wenn, dann nur über Dinge, die wir unmittelbar wahrnahmen oder empfanden. Da aber auch die vergangenen zwei Wochen in meinem Kopf umherspukten, fragte ich Heather dann doch, wie ihr das Seminar in Castle Howard gefallen habe. Sie schien ein wenig erstaunt und erlebte diese Frage zu diesem Zeitpunkt wohl als ziemlich unpassend. Dennoch überlegte sie eine Zeitlang und war offenbar in ein Gespräch mit einem unsichtbaren Partner verwickelt, was ich aus dem häufigen leichten Schütteln ihres Kopfes schloss. Schließlich meinte sie, dass der Aufenthalt in einem englischen Park für sie eine Erholung gewesen sei, da weit weg vom üblichen ökonomischen Zwang nach Begradigung, und dass dies für sie auch eine Reise in die Vergangenheit gewesen sei. Denn früher einmal, so meinte sie, als Menschen noch nicht in umfassender Weise begonnen hatten, das Land nach eigenen Interessen zu gestalten und urbar zu machen, war die Gegend hier voller Moore und, wegen des Wildverbisses, parkähnlich gewesen.
„Aber ein englischer Park ist doch nicht einfach natürlich, sondern – im besten Fall – ein Kunstprodukt des Menschen!?“
„Gewiss. Aber ich sagte auch nur parkähnlich.“
Angesichts ihrer ziemlich kryptischen Bemerkungen wollte ich nachfragen, was sie denn unter ›Erholung vom Zwang nach Begradigung‹ verstehe. Aber noch ehe ich die Frage formulieren konnte, bat sie mich, unser Gespräch auf später zu verschieben, möchte sie sich doch ganz auf das Autofahren und das Genießen der Landschaft konzentrieren.
Somit schwiegen wir wieder und nahmen die Reiseeindrücke ohne weitere Kommentare in uns auf. Je länger wir unterwegs waren, umso deutlicher wurde mir bewusst, wie ungelegen meine letzte Frage doch eigentlich gewesen sei. Also entschuldigte ich mich dafür.
„Aber das macht doch nichts. Sollen wir in Berwick, der nördlichsten Stadt Englands, eine Rast machen?“
Natürlich war ich damit einverstanden. Allein dieser kurze Wortwechsel zur rechten Zeit löste jene Verstimmung in mir und verhinderte, dass ich in eine leichte Melancholie schlitterte, die mich noch wortkarger gemacht hätte.
Heather benützte nun breitere Straßen. Dies zeigte sich nicht nur am größeren Verkehrsaufkommen, sondern auch daran, dass unter den Hochspannungsleitungen, sobald sie die Straße überquerten, Netze gespannt waren, um zu verhindern, dass gerissene Leitungen direkt auf die Straße fallen konnten. Nach etwa einer halben Stunde hatten wir den Tweed, den berühmten Grenzfluss zwischen England und Schottland erreicht.
Berwick-upon-Tweed war einmal Schottlands wichtigste Handelsstadt gewesen, mit einem starken flämischen Bevölkerungsanteil. Zwischen Engländern und Schotten wechselte die Stadt mehr als ein Dutzend Mal ihre Besitzer, und Berwick könnte überhaupt die am heftigsten umkämpfte Stadt Europas sein. Gegenwärtig gehört sie zu England, aber Berwickshire, die Grafschaft, ist weiterhin ein Teil Schottlands.
In zahlreichen Kämpfen zwischen den beiden Völkern wurden die Stadt und die wenigen Dörfer im schottischen Grenzland immer wieder geplündert und niedergebrannt. Diesseits und jenseits der Grenze war das Land oft Jahrzehnte lang eine menschenleere Wildnis, eine Gegend voller Sümpfe und Moore, die praktisch nur von Schmugglern und Viehdieben durchquert wurde. Schottisches Grenzland ist Ruinenland (die Abteien von Dryburgh, Jedburgh, Melrose, Kelso) – nicht überraschend also, dass auch Berwick von einer mächtigen Wehranlage umgeben ist.
Im Süden der Stadt, in der heute etwa 12.000 Menschen leben, mündet der Tweed in das Meer. Eine lange Kaimauer führt gleich neben der Mündung des Flusses zu einem Leuchtturm. Heather parkte ihr Auto nahe am Kai, und wir schlenderten diesen entlang zum Leuchtturm, vorbei an einigen Ruderbooten, die im Rhythmus der Brandung vor sich hin schaukelten. Die flimmernden Lichtreflexe im Wasser warfen auf den Rumpf der Schiffe die sonderbarsten Muster. Zuweilen ähnelten diese der Haut eines Krokodils, dann wieder glaubte man, in ein offenes Feuer zu blicken. Fasziniert starrte ich auf diese Lichtspiele wie bei einem Popkonzert und genoss die frische, salzige Seeluft, da ich tiefer zu atmen vermochte als üblich.
Knapp über uns flogen unzählige Möwen mit ihren großen gelben Schnäbeln. Ihre miauenden Rufe und ihr gellendes Pfeifen, das mit einem tiefen Ton begann und dann in einem ein oder zwei Oktaven höheren Gelächter endete, empfand ich als ziemlich unheimlich und, da für mich sehr ungewohnt, zunächst auch als einigermaßen nervtötend. Draußen vor der Küste kreuzte ein größeres Fischerboot, das von hunderten kreischenden Möwen begleitet wurde, die nach den Innereien der ausgenommen Fische suchten und das Schiff beinahe verhüllten.
Je weiter wir uns dem Leuchtturm näherten, umso stürmischer wurde der Wind. Am Beginn des Kais war die Luft noch angenehm lau, aber bald erfasste uns eine kalte Böe aus dem Norden. Während ich mich an den chaotischen Luftbewegungen eher erfreute, hatte Heather mit dem böigen Wind ihre liebe Not. Denn als Rückenwind wehte er den Saum ihres langen Kleides immer wieder nach vorne zwischen ihre Beine. An diese Möglichkeit hatte sie offenbar nicht gedacht, wie ein leiser Schrei vermuten ließ. Nach einer kurzen Schrecksekunde versuchte sie, das Kleid nach unten zu drücken und ihren Rücken aus der Windrichtung zu drehen. Aber auch das half gegenüber einem Wind, der ohne Vorwarnung von überallher zu wehen pflegte, nicht wirklich. Also gab sie ihre Bemühungen auf, lächelte nur und ließ den Wind gewähren, der ihr Kleid einmal an den Körper presste, dann wieder wie einen Regenschirm aufspannte.
Am Fuße des Leuchtturms stand eine kleine, relativ windgeschützte Bank, auf die wir uns setzten und lange Zeit auf das Meer schauten. Da gerade die Flutwellen hereinströmten, unterlag das fast schwarze Wasser des Tweed immer deutlicher dem graublauen der Nordsee. Eine halbe Stunde zuvor war das torfreiche Wasser des Flusses noch weit draußen ins Meer geströmt. Aber jetzt bei Flut staute das Meer den Tweed schon auf Höhe der Kaimauer. Damit veränderte sich auch die Gestalt der Wellen. Einige Meter flussaufwärts waren viele kleine, ziemlich ungeordnete Wellen zu sehen, die dadurch entstanden waren, dass das Wasser des ruhig dahin fließenden Tweed auf das Meerwasser traf. Aber schon wenige Meter flussabwärts wurden die Wellen mächtiger und erreichten eine Höhe von vielleicht 40 Zentimetern auf einer Fläche von der Größe eines halben Fußballfeldes. Noch weiter draußen im Meer wurden die Wellen wieder kleiner. Offenbar hatte dort das Meer den Fluss endgültig gezähmt. Ich stellte mir zwei uralte menschenähnliche Roboter vor, die ständig aufeinander eintrommelten und Funken sprühten, wobei – bei Ebbe – die Faust des Flusses kräftiger ist, und dann – bei Flut – die des Meeres.
Lange hatten wir diesem elementaren Kampf zugesehen und dabei fast nicht bemerkt, dass ein schwarzhäutiger Fischer neben uns seine Angel mit besonderer Eleganz ausgeworfen hatte. Schon nach wenigen Versuchen hatte er Erfolg und legte den Fisch, wohl einen großen Kabeljau, auf den Betonboden. Nach einigen Schrecksekunden begann das Tier, sich hin und her zu winden, dann spannte es seine Muskeln an und sprang immer wieder einige Zentimeter, geformt wie ein Hufeisen, vom Boden hoch. Da der Haken noch in einem der Mundwinkeln steckte, blutete der Fisch aus dem Maul. Seine verzweifelten Sprünge wurden immer seltener, und schließlich gelang ihm der Satz vom Boden nicht mehr, sondern er rutschte nur noch nach vorne und zurück. Ich wollte den endgültigen Todeskampf des Tieres nicht sehen und ging den Kai langsam wieder zurück. Heather hatte schon seit längerem mein Unbehagen bemerkt, und sie schlang ihre Arme um meinen linken Oberarm. Aber ich vermochte ihre Berührung kaum wahrzunehmen.
Nur wenige Worte wechselnd, wanderten wir durch die Straßen der Stadt. An einer Ecke stand einsam ein Angehöriger der Heilsarmee, der, ohne sich aufzudrängen, alle paar Sekunden eine Blechbüchse schüttelte. Passanten eilten schnellen Schritts an ihm vorbei, ein paar starrten leicht gebückt zum Boden, andere fixierten das Ende der Straße. Nahe der steinernen, gekurvten Eisenbahnbrücke erreichten wir wieder den Tweed und sahen erneut Fischer. Einige standen mitten im Fluss und warfen mit Hilfe ihrer Fliegenrute einen Kunstköder aus, andere fingen Fische mittels eines Netzes, das sie zunächst mit einem Boot in die Flussmitte zogen. Sobald sie diese erreicht hatten, ruderten sie etwa zwanzig Meter flussaufwärts und dann wieder zurück ans Ufer. Dort zogen sie gemeinsam das Netz ein und befreiten die gefangenen Lachse von den Maschen. Aber anstatt sie wieder ins Wasser zu werfen, wie der hl. Franz von Assisi es angeblich getan hatte, wurden die wunderschönen Lebewesen auf einen großen Tisch gelegt und von einem der Schleppnetzfischer mit einer langen Holzkeule erschlagen, während dutzende Fischaugen ihn anstarrten und um Mitleid flehten.
Einige Lachse waren gewiss einen Meter lang und besaßen riesige Laichhaken. Halb fasziniert, halb angewidert machte ich Heather den Vorschlag, doch weiter flussaufwärts in den Auwald zu gehen. Aber sie hatte dem Tweed schon seit einiger Zeit den Rücken gekehrt und den Weiden zugesehen, wie sie im Wind hin und her wogten, elegant wie riesige Schildkröten, die – langsam in der Strömung treibend – am Meeresgrund grasen.
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