Kitabı oku: «Das Abenteuer meiner Jugend», sayfa 13

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Wenn ich von die­ser klei­nen Ge­schich­te ab­se­he, so muss ich ge­ste­hen, ich habe viel­fach nur aus Freu­de am Är­gern mei­ne Schwes­ter ge­quält. Schwer zu sa­gen, welch ein letz­tes Ge­fühl von Un­be­frie­digt­sein zu­grun­de lag. Vi­el­leicht war ir­gend­ein dump­fes Ha­dern mit ei­nem un­ver­stan­de­nen Ge­schick die Ur­sa­che, auf Grund ei­nes rast­lo­sen Un­be­ha­gens, das mich da­mals wohl ge­le­gent­lich über­kom­men hat, ei­ner Emp­fin­dung von Sinn­lo­sig­keit mei­ner Exis­tenz. Ein häss­li­cher Dä­mon, viel är­ger als Puck, hat­te mich in Be­sitz ge­nom­men.

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Was für ein Neu­es woll­te da­mals in mir auf­ste­hen und wühl­te in mir? Habe ich mich viel­leicht im Spie­gel der Schön­heit er­blickt und miss­bil­ligt? Am Ende woll­te sich da­mals das Ende mei­ner un­be­wuss­ten Kind­haf­tig­keit lei­se an­kün­di­gen, aber: »Su­che nicht al­les zu ver­ste­hen, da­mit dir nicht al­les un­ver­ständ­lich blei­be«, sagt ein Phi­lo­soph. Und so las­se ich denn den Um­stand auf sich be­ru­hen, der das Rohe in mir ge­gen das Ve­re­del­te, das Wil­de ge­gen das Ge­setz­te, das Ther­si­tes­haf­te ge­gen das Gute, das Häss­li­che ge­gen das Schö­ne auf­zu­ru­fen schi­en.

Vi­el­leicht sah mei­ne Schwes­ter in mei­nem Ver­hal­ten mit Be­sorg­nis Zei­chen der Ver­wahr­lo­sung und hat­te sich mit ih­rer Leh­re­rin Mat­hil­de Jasch­ke dar­über aus­ge­spro­chen. Sie nahm mich je­den­falls ei­nes Ta­ges zu die­ser Dame und de­ren Pfle­ge­mut­ter, dem Fräu­lein von Ran­dow, mit.

Bei­de Per­sön­lich­kei­ten neig­ten sich mit ei­ner großen Zart­heit und Wär­me zu mir. Ich durf­te Tee trin­ken, Ku­chen es­sen und mich in den Räu­men des Hau­ses, ge­nannt Kur­län­di­scher Hof, nach Be­lie­ben um­se­hen. Wohl­füh­len konn­te sich hier ein zü­gel­lo­ses Na­tur­kind zu­nächst frei­lich nicht, aber es über­kam mich ein heim­li­ches Stau­nen, eine stil­le Be­wun­de­rung. Die Zim­mer mit ih­ren an­ti­ken Mö­bel­stücken und ih­ren Par­kett­fuß­bö­den ro­chen nach po­lier­tem Holz und nach Boh­ner­wachs und wa­ren mit Re­se­da und Gold­lack in Va­sen und Scha­len par­fü­miert.

Fräu­lein von Ran­dow war wohl­ha­bend. Ich habe die hohe, wür­de­vol­le Er­schei­nung mit der wei­ßen Rü­schen­hau­be und dem schlich­ten grau­en Ha­bit deut­lich in Erin­ne­rung. In ih­rem Be­sitz be­fand sich eine alte Vi­tri­ne, die von vier Moh­ren ge­tra­gen wur­de. Ein an­de­rer Schrank mit vie­len klei­nen Schü­ben war mit Oli­ven­holz four­niert und das Äu­ße­re je­des Fa­ches mit so­ge­nann­tem Land­schafts­mar­mor aus­ge­legt. Je­des der bei­den Stücke war eine Sel­ten­heit. Aber auch al­les üb­ri­ge der ge­sam­ten Ein­rich­tung war kost­bar und von er­le­se­nem Ge­schmack. Das Gan­ze, als es spä­ter durch Erb­schaft an Mat­hil­de Jasch­ke, her­nach auf mei­ne Schwes­ter über­ging, blieb jahr­zehn­te­lang eine Fund­gru­be und ist trotz man­cher Ver­käu­fe und Schen­kun­gen bis zum heu­ti­gen Tag noch nicht er­schöpft.

Die selbst­ver­ständ­li­che Frei­heit und Si­cher­heit, mit der mei­ne Schwes­ter sich im Hau­se der ad­li­gen Dame be­weg­te und wie sie hier gleich­sam als da­zu­ge­hö­rig be­trach­tet wur­de, stei­ger­te mei­nen Re­spekt vor ihr. Und in der Tat hat­te schon da­mals das Ver­hält­nis des weiß­ge­lock­ten Fräu­leins von Ran­dow zu ihr einen müt­ter­li­chen Cha­rak­ter an­ge­nom­men. Ähn­lich stand es mit Fräu­lein Jasch­ke, der Pfle­ge­toch­ter.

Ein re­so­lu­ter Geist und ein gol­de­nes Herz wa­ren ver­ei­nigt in ihr, Ei­gen­schaf­ten, wo­mit sie sich über­all durch­setz­te.

»Das größ­te Zart­ge­fühl schul­den wir dem Kna­ben«, sagt Ju­ve­nal. Es war auch der Grund­satz, nach dem ich im Kur­län­di­schen Hof be­han­delt wur­de. Hier er­schloss sich mir ah­nungs­wei­se ein bis da­hin un­be­kann­tes Bil­dungs­ge­biet, wenn es mich vor­erst auch nur sehr ge­le­gent­lich und sehr flüch­tig be­rüh­ren moch­te. Eine ge­wis­se Ver­wandt­schaft be­stand al­ler­dings zwi­schen die­sem Hau­se und Dachrö­dens­hof als den letz­ten Aus­läu­fern ei­ner Kul­tur, die im großen gan­zen ver­sun­ken war.

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In der Um­ge­bung des Fräu­leins von Ran­dow herrsch­te der Geist hei­ter-erns­ter Welt­lich­keit, der kei­ne mo­ra­li­sche Schär­fe zeig­te und es ei­nem ganz an­ders als in der schar­fen At­mo­sphä­re um das buck­lig-from­me Tänt­chen Au­gus­te wohl­wer­den ließ, de­ren spit­ze Bli­cke und spit­ze­re Wor­te fort­wäh­rend Kri­tik üb­ten. Wel­che der bei­den Geis­tess­phä­ren an sich tiefer und be­deut­sa­mer war, ent­schei­de ich nicht.

Es war der Kum­mer mei­ner Mut­ter, dass mein Va­ter zu sei­ner Toch­ter Jo­han­na, so­lan­ge sie Kind war, kein freund­li­ches Ver­hält­nis ge­win­nen konn­te. Er schi­en sie im­mer zu­rück­zu­set­zen. Es war nicht zu er­grün­den, ob dies nun nach Hann­chens gleich­sam tri­um­pha­ler Rück­kehr aus der Pen­si­on an­ders ge­wor­den war. Im­mer­hin schi­en sich mein Va­ter zu­rück­zu­hal­ten, und wahr­schein­lich hat­te mei­ne Schwes­ter im Kur­län­di­schen Hof mit der im­po­nie­ren­den ad­li­gen Dame und ih­rer re­so­lu­ten und ge­bil­de­ten Pfle­ge­toch­ter einen neu­en und star­ken Rück­halt ge­fun­den.

Die­ser Rück­halt ver­stärk­te sich.

Er führ­te als­bald im Dachrö­dens­hof und so­gar bei mei­ner Mut­ter zu Ei­fer­sucht.

Tan­te Au­gus­te und Fräu­lein Jasch­ke hat­ten ein­an­der nichts zu sa­gen und mie­den sich. Eli­sa­beth stand Fräu­lein Jasch­ke nä­her, da sie im­mer noch Hoff­nun­gen welt­li­cher Art nähr­te, aber das Ver­hält­nis war krie­ge­risch. Nie ist zwi­schen bei­den das Kriegs­beil ver­gra­ben wor­den. Meis­tens war es die See­le Jo­han­nas, um die man auf bei­den Sei­ten stritt, Eli­sa­beth im ze­lo­ti­schen Sinn, Mat­hil­de ih­ren Zög­ling ver­tei­di­gend.

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Sechsundzwanzigstes Kapitel

An­ders und tiefer war der Kampf, den mei­ne Mut­ter da­mals, durch Jah­re, um die See­le der Toch­ter kämpf­te, die ih­rer Mei­nung nach ihre kind­li­che Pf­licht ver­gaß und in ein frem­des La­ger über­ging.

Wie mei­ne Mut­ter fühl­te und nicht fühl­te, leb­te sie in ei­ner Art Aschen­put­te­lexis­tenz. Gram und Kum­mer des­we­gen wa­ren viel­fach auch mir ge­gen­über zum Aus­druck ge­kom­men. Sie setz­te in­stink­tiv bei Jo­han­na ein ähn­li­ches Füh­len vor­aus. Vi­el­leicht schweb­te ihr von die­ser Sei­te eine Ent­las­tung vor, die sie an­der­wärts nicht er­hof­fen konn­te.

Jo­han­na ging einen an­de­ren Weg. Ob­gleich sie, wie mein Va­ter es nann­te, als Sie­ben­mo­nats­kind nur ein klei­nes Le­ben war, be­stand ein star­ker Wil­le in ihr, den auch ich nicht sel­ten zu spü­ren be­kam. Sie schwieg, wo sie an­de­rer Mei­nung war, ver­harr­te je­doch umso fes­ter auf ih­rer. Das Bei­spiel der Mut­ter, die in den Sor­gen und der Müh­sal des Haus­hal­tes er­trun­ken war, glich ei­ner im­mer­wäh­ren­den War­nung, aus Wil­lens­schwä­che ei­nem ähn­li­chen Schick­sal an­heim­zu­fal­len. Nein! Eier quir­len, Bouil­lon ab­rau­men, Kno­chen­bän­der durch­hau­en, Hüh­ner und Fi­sche schlach­ten, Pfan­nen rei­ni­gen, schar­fen Fett­dunst ein­at­men, Boh­nen schnei­den, Scho­ten aus­pah­len, Kir­schen ent­ker­nen, St­rümp­fe stri­cken und St­rümp­fe stop­fen lag mei­ner Schwes­ter nicht.

Un­wi­der­steh­lich fühl­te sie sich viel­mehr durch die vor­neh­me Geis­tig­keit des von Ran­dow­schen Krei­ses an­ge­zo­gen, wo man Eng­lisch und Fran­zö­sisch trieb, deut­sche Dich­ter las und am Kla­vier Mo­zart, Schu­bert und Beetho­ven pfleg­te.

Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen mei­ner Mut­ter und mei­ner Schwes­ter, die nicht sel­ten in mei­ner Ge­gen­wart statt­fan­den, stei­ger­ten sich mit­un­ter zu großer Hef­tig­keit. Mei­ne Mut­ter war hier­in kurz­sich­tig. Wäre Jo­han­na ihr ge­folgt, wahr­schein­lich wäre sie zei­tig zu­grun­de ge­gan­gen, denn eine Ent­wick­lung, wie die hier für sie er­streb­te, war für sie bei der Zart­heit ih­rer An­la­ge Un­na­tur.

Eine Art Le­ben­stau­mel be­herrsch­te den Ba­de­ort, der in die­ser Sai­son den Zustrom von Gäs­ten kaum be­wäl­ti­gen konn­te. Wäh­rend des Tru­bels in­mit­ten der Ju­li­hit­ze hieß es plötz­lich, dass das Fräu­lein von Ran­dow ge­stor­ben sei. Ich schlang ge­ra­de wie­der ein­mal mein Mit­ta­ges­sen in der Bü­fett­stu­be, als mir die Mit­tei­lung ge­bracht wur­de. Im Vor­raum ka­men und gin­gen die Kell­ner und mach­ten mit lau­ter Stim­me ihre Be­stel­lun­gen. Ich war nicht we­nig über­rascht, als in mei­nem ab­ge­le­ge­nen öden Raum eine vor­neh­me Dame in tiefer Trau­er er­schi­en, die mich nach mei­nen El­tern frag­te. Die Er­schei­nung war nicht nur we­gen der schwar­zen Tracht auf­fäl­lig. Ein blas­ses, ed­les Ge­sicht mit bren­nen­den Au­gen ward sicht­bar, als die Dame den Schlei­er zu­rück­leg­te. Voll Un­ge­duld ging sie hin und her.

End­lich, als ob sie die Frem­de ge­sucht hät­te, trat mei­ne Schwes­ter Jo­han­na ein, ent­schul­dig­te die lei­der un­ab­kömm­lich be­schäf­tig­ten El­tern und ent­fern­te sich mit der Be­su­che­rin.

Es sei eine Baro­nin Ma­ria von Lie­big, sag­te man mir, eine Freun­din von Fräu­lein Jasch­ke, die zum Be­gräb­nis von de­ren Pfle­ge­ma­ma ein­ge­trof­fen war.

Jo­han­na nahm mich mit in den Kur­län­di­schen Hof. Hier war das Fräu­lein auf­ge­bahrt; ein schwe­res Bro­kat­kleid ist mir er­in­ner­lich, des­sen Schlep­pe man über den Rand des me­tal­le­nen Sar­ges bis zur Erde dra­piert hat­te.

Ich habe ver­mö­ge mei­ner of­fe­nen und an­schmieg­sa­men Na­tur vie­len ein­fa­chen Leu­ten, Kut­schern, Haus­die­nern, Dienst­mäd­chen und Kell­nern, wie mei­nes­glei­chen na­he­ge­stan­den. Ich hat­te mich in die­sem Som­mer an einen lus­ti­gen, lie­bens­wür­di­gen Sach­sen be­son­ders an­ge­schlos­sen, der als Kell­ner auch von mei­nem Va­ter be­vor­zugt wur­de und sehr tüch­tig war. Über­ra­schend hat­te sich die­ser bis da­hin so eif­rig tä­ti­ge Mensch aus dem Dienst ent­fernt, kam nicht zu­rück und wur­de da und dort in den Knei­pen des Orts ge­sich­tet, wo er, ohne grad im Trin­ken aus­zu­schwei­fen, sei­ner Um­ge­bung Re­den hielt.

Die­ser jun­ge Ge­or­ge oder Fritz oder Jean, mit Stroh­hut, Stöck­chen und ele­gan­tem Som­mer­pa­le­tot, stand ei­nes Ta­ges, wäh­rend ich speis­te, vor mir in der Bü­fett­stu­be. Er schwenk­te sein Stöck­chen, hob den Hut, wisch­te mit ei­nem sei­de­nen Ta­schen­tuch sei­ne Stirn und frag­te mit ei­ner mir an ihm frem­den Un­ge­niert­heit: »Sa­gen Sie, Ger­hart, wo ist Ihr Va­ter?« Ich war er­schreckt, denn ich merk­te, dass et­was bei ihm nicht in Ord­nung war. Als ich zu­nächst durch Schwei­gen ant­wor­te­te, fiel ihm das, wie mir schi­en, nicht auf. Er pflanz­te sich vor den Spie­gel und bürs­te­te sorg­fäl­tig sei­nen Schei­tel, der ta­del­los von der Stirn bis zum Na­cken ging. Er müs­se mei­nen Va­ter spre­chen, er­klär­te er, weil er ein Ge­heim­nis ent­deckt habe. Er sag­te das aber nicht zu mir, son­dern führ­te ein Selbst­ge­spräch, wäh­rend­des­sen er mei­ne Ge­gen­wart, wie ich fühl­te, ver­ges­sen hat­te. »Ich habe ein Ge­heim­nis ent­deckt!« war der Schluss, der sich wohl zwan­zig­mal wie­der­hol­te.

Es hieß am glei­chen Nach­mit­tag, der arme hüb­sche Jun­ge sei auf der Pro­me­na­de ei­ner Ge­ne­ra­lin buch­stäb­lich auf­ge­huckt, also auf den Rücken ge­sprun­gen, und sei, ar­re­tiert, in Tob­sucht ver­fal­len. Un­heil­bar geis­tes­ge­stört, steck­te er we­ni­ge Tage spä­ter hin­ter den Git­ter­stan­gen ei­ner Ir­ren­an­stalt.

Es war das ers­te Mal, dass ich die Zer­stö­rung ei­nes Geis­tes aus der Nähe be­ob­ach­ten konn­te. Ein mir ver­trau­ter, lie­bens­wer­ter Mensch er­litt plötz­lich le­ben­di­gen Lei­bes den geis­ti­gen Tod. Dass et­was der­glei­chen schon in die­sem Le­ben mög­lich ist, er­schwert die Ant­wort auf die Fra­ge nach geis­ti­ger Uns­terb­lich­keit und macht den Glau­ben dar­an bei­nah un­mög­lich.

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Ich be­fand mich da­mals im zehn­ten Jahr, ge­noss nach wie vor bei Bren­del den Schul­un­ter­richt, er­hielt von Dok­tor Oli­vie­ro in des­sen Woh­nung Gei­gen­stun­de und trieb mich die meis­te Zeit in Feld, Wald, Wie­se so­wie noch im­mer auf der Klei­nen Sei­te von Ober-, Mit­tel- und Nie­der-Salz­brunn her­um. Im­mer noch spuk­te die In­dianer­ro­man­tik, Ro­bin­son und das Step­pen­roß. Un­ter dem al­ten Birn­baum rühr­ten wir Jun­gens noch im­mer die Trom­mel, mach­ten rechtsum, links­um­kehrt un­ter dem Be­feh­le Gros­sers, des eins­ti­gen Feld­we­bels, und san­gen: »Heil dir im Sie­ger­kranz« – nicht mehr mit dem Schluss »Heil, Kö­nig …« son­dern »Heil, Kai­ser, dir!« Im Herbs­te, als sich der Ku­r­ort ge­leert hat­te und der ein­ge­ses­se­ne Salz­brun­ner zu sich sel­ber kam, wach­ten die Krie­ger­ver­ei­ne auf, Fes­te wur­den ge­fei­ert, pa­trio­ti­sche Re­den ge­hal­ten, und be­son­ders das Pflan­zen von Frie­den­sei­chen war im Deut­schen Reich all­ge­mein. Auch in Ober-Salz­brunn wur­de die Wur­zel ei­nes Ei­chen­bäum­chens nach fei­er­li­chem Auf­marsch der Schu­le und der Kriegs­teil­neh­mer dem Bo­den an­ver­traut. Man ge­dach­te da­bei der Ge­fal­le­nen. Durch die be­rühm­te Wal­den­bur­ger Berg­ka­pel­le wur­de mez­zo-for­te »Ich hat­t’ einen Ka­me­ra­den …« in­to­niert und der Ge­sang von »Deutsch­land, Deutsch­land über al­les« be­glei­tet.

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Die­se Ze­re­mo­nie wur­de von mir eine Wo­che spä­ter in Ge­mein­schaft mit vie­len Dorf­jun­gens aber­mals mit ei­nem be­son­de­ren Bäum­chen auf ei­nem be­son­de­ren Platz aus­ge­führt. Wir ahm­ten al­les ge­treu­lich nach, nur dass wir kei­ne Ka­pel­le hat­ten. Als wir das Bäum­chen ge­pflanzt und tüch­tig be­gos­sen hat­ten, hielt ich mit lau­ter Stim­me die Fe­st­re­de. Ich sag­te: der Krieg sei gut und noch bes­ser der Sieg, am al­ler­bes­ten aber der Frie­de. Um sei­net­wil­len wer­de ja schließ­lich Krieg ge­führt – und ich weiß ge­nau, wel­che woh­li­ge Emp­fin­dung hei­te­rer Si­cher­heit sich da­bei um mei­ne Brust leg­te. Konn­ten wir da­mals ah­nen, dass eine Frie­den­se­po­che fast oh­ne­glei­chen, von mehr als vier Jahr­zehn­ten, vor uns und dem deut­schen Vol­ke stand?

Beim Pflan­zen der Frie­den­sei­che, das ver­steckt hin­ter dich­ten He­cken in ei­nem Gar­ten ge­sch­ah, sind wir trotz­dem be­lauscht wor­den. Es hat­ten sich au­ßer­halb Men­schen an­ge­sam­melt. Als ich mei­ne Rede be­schloss, wur­de mir von dort aus durch Hän­de­klat­schen und Bra­vo­ru­fe der ers­te Bei­fall mei­nes Le­bens be­zeigt.

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Im­mer tiefer ge­rie­ten wir in den Herbst hin­ein, und am 15. No­vem­ber brann­ten zehn Lich­ter um mei­nen Ge­burts­tags­ku­chen. In mei­nem Ge­dächt­nis ist die­ser Tag ver­zeich­net gleich­sam als epo­cha­ler Au­gen­blick. Höchs­tens drei- oder vier­mal hat es einen sol­chen ge­ge­ben im ers­ten Vier­tel­jahr­hun­dert mei­nes Da­seins­kampfs.

Was war es? Was ver­lieh dem Zehn­lich­ter­tag die­se Wich­tig­keit? Die Fra­ge ist heut nicht mehr leicht zu be­ant­wor­ten. Ge­wiss ist, sie lag in mei­nem Geis­te, denn hier fand eine bis­hin un­mög­li­che Art von Ein­kehr statt. Es war, als wenn ich jetzt erst zum Den­ken er­weckt wür­de.

Eine Er­fah­rung, die ich ge­macht hat­te, war das im­mer schnel­le­re Ent­schwin­den der Zeit. Ein Tag, der mir frü­her end­los er­schie­nen war, wur­de jetzt, in un­end­li­cher Ket­te, vom nächs­ten im Handum­dre­hen ab­ge­löst. Hat­te ich in die­sem einen Jahr­zehnt mei­ne bo­den­stän­di­ge Welt so durch und durch ken­nen­ge­lernt, dass sie mir nichts Neu­es bie­ten konn­te und et­was wie stump­fe Gleich­gül­tig­keit bei mir herr­schend ward, wo­durch sich dann der Tag ohne neue Er­kennt­nis­wer­te schnell und gleich­gül­tig ab­ge­has­pelt hät­te? Eine ge­wis­se kind­lich-selbst­ver­ständ­li­che, fast ge­dan­ken­lo­se Art der Le­bens­füh­rung hat­te sich in der Tat zum größ­ten Teil aus­ge­lebt.

Eine Art Reue kam mich an, als ob ich eine un­end­li­che Rei­he vor­über­flie­hen­der Tage nicht ge­nü­gend be­nützt hät­te; bei­lei­be nicht etwa im Sin­ne Bren­dels oder sonst ei­nes Schul­meis­ters. Ich er­kann­te viel­mehr in dem Ge­schenk ei­nes Ta­ges, in der Dar­bie­tung ei­ner sol­chen Son­nen­frist eine un­ge­heu­re Kost­bar­keit. Woll­te ich ih­ren Ver­lust über­haupt nicht wahr­ha­ben, so erst recht nicht ihre Ver­schleu­de­rung.

And­rer­seits streb­te mein in­ne­rer Blick plötz­lich in die Zu­kunft hin­aus: nicht das Mor­gen, das Über­mor­gen, das Weih­nachts­fest oder sonst ei­nes im Jah­res­lauf war mehr sein Ziel, son­dern er ver­lor sich im Uner­gründ­li­chen. An­halts­punk­te für kos­mi­sche oder tran­szen­den­te Er­kennt­nis such­te er dies­mal nicht, son­dern sol­che, die Auf­schlüs­se über mein ei­ge­nes war­ten­des Schick­sal brin­gen konn­ten. Die­ser neue, aus­drucks­vol­le Blick je­doch wur­de zu­gleich von ei­ner Mau­er ge­hemmt, die er zu mei­ner Pein nicht durch­drin­gen konn­te.

Hat­te ich der­einst mei­ne Ein­ma­lig­keit und da­mit mein un­ver­brüch­li­ches Al­lein­sein er­kannt, so sah ich mich heut zum ers­ten Mal ei­nem neb­lich­ten Schick­sal ge­gen­über­ge­stellt, das ich al­lein zu tra­gen hat­te. Wie wür­de es nach der Ent­hül­lung aus­se­hen? Wel­che Las­ten lud es mir auf?

Das große Fra­ge­zei­chen blieb fort­an vor mei­ner See­le wie ein Me­men­to auf­ge­rich­tet. Da­hin­ter war eine wol­ken­haf­te Fins­ter­nis, in wel­cher Dro­hun­gen wet­ter­leuch­te­ten. Gott sei Dank war das Gan­ze mit ei­ner Him­mels­rich­tung ver­knüpft, wäh­rend die üb­ri­gen und die da­zwi­schen­lie­gen­den Punk­te mei­nes Ge­sichts­krei­ses frei wa­ren. Durch einen die­ser Punk­te fand sich ein Ra­di­us vom Zen­trum hin­aus­ge­führt. Er glich ei­nem sil­ber­nen Strahl, der sich al­ler­dings auch im Rau­me ver­lor, aber gleich­sam in ei­nem sil­ber­nen Ne­bel.

Nie ei­gent­lich gab es in un­serm Hau­se pri­va­te Ge­sell­schaft. Som­mers konn­te da­von nicht die Rede sein, und da mei­ne Mut­ter sich im All­ge­mei­nen an Kaf­fee­kränz­chen und der­glei­chen nicht be­tei­lig­te, fehl­te auch im Win­ter die Ver­an­las­sung. Va­ter und Mut­ter pfleg­ten im Ort kei­ner­lei Ge­sel­lig­keit, eher mit Be­wusst­sein das Ge­gen­teil.

Ein­mal aber wur­den doch die Ge­mä­cher des ers­ten Stockes für den Empfang ei­ner grö­ße­ren Abend­ge­sell­schaft her­ge­rich­tet, und zwar die gan­ze Zim­mer­flucht. Al­les wur­de sorg­sam durch­wärmt. Im ers­ten Rau­me stand das Bü­fett mit Lecker­bis­sen, Glä­sern und ge­öff­ne­ten Wein­fla­schen, im zwei­ten und drit­ten wa­ren Ess­tisch­chen auf­ge­stellt, das vier­te Zim­mer aber hat­te mein Va­ter zu ei­nem Le­se­ka­bi­nett aus­er­se­hen, wo man al­ler­lei Bü­cher und Zeit­schrif­ten durch­blät­tern konn­te, aus den sonst we­nig be­nütz­ten Schät­zen sei­nes Bü­cher­schranks: Meyers Uni­ver­sum mit sei­nen schö­nen Il­lus­tra­tio­nen, ein dickes Pracht­werk, das, in Kup­fer­stich re­pro­du­ziert, einen großen Teil der Schät­ze des Ber­li­ner Mu­se­ums ent­hielt, ein fran­zö­si­sches Werk mit far­bi­gen Li­tho­gra­fi­en, »Mu­ses et fées«, und Il­lus­tra­tio­nen zur Ili­as, die in einen deut­schen Pro­sa­text des Wer­kes ein­ge­fügt wa­ren.

Selbst­ver­ständ­lich, dass ich vor dem Ein­tritt der Gäs­te alle die­se Wer­ke eif­rig durch­mus­ter­te.

Be­son­ders »Mu­ses et fées« mit sei­nen durch Ga­ze­kleid­chen lose ver­hüll­ten ro­si­gen Mäd­chen­kör­pern ent­zück­te mich. Dann kam die Ili­as an die Rei­he. Als ich lan­ge das Buch durch­blät­tert und Pro­sa­stücke ent­zif­fert hat­te, ging mir jäh wie ein hel­les Licht der Ge­dan­ke auf, man müss­te die­se Pro­sa in Ver­se um­wan­deln. Wenn du die­se Auf­ga­be lö­sen könn­test, dach­te ich – der Ruhm ei­nes großen Dich­ters wür­de da­mit ge­won­nen sein.

Ich habe da­mals we­der vom Vor­han­den­sein der Ili­as noch der Odys­see noch ei­nes Dich­ters na­mens Ho­mer ge­wusst.

Die­se Er­kennt­nis, der Ge­dan­ke, die Ili­as zu dich­ten, die, ohne dass ich es wuss­te, als Dich­tung be­reits vor­han­den war, die da­mit ver­knüpf­te Hoff­nung des Dich­ter­ruhms war eben der sil­ber­ne Strahl, der kei­ne Mau­er zu durch­drin­gen brauch­te und sich in frei­er Fer­ne in ei­nem sil­bern-lo­cken­den Ne­bel ver­lor.

Ir­gend­ei­nen Ver­such, die ge­fass­te Idee zu ver­wirk­li­chen, habe ich da­mals nicht un­ter­nom­men. Kei­ner­lei Über­le­gung, son­dern höchs­tens ein un­be­wuss­tes Wis­sen mei­ner kna­ben­haf­ten Un­zu­läng­lich­keit hielt mich da­von zu­rück.

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Von großer Be­deu­tung wur­de für mich der di­cke Band, der Ma­le­rei­en und plas­ti­sche Bild­wer­ke Ber­lins, in­son­der­heit sei­nes Mu­se­ums, wie­der­gab. Ich habe zu be­ken­nen, dass mich Mu­ril­los »Se­me­le hin­ge­ge­ben dem wol­ken­haf­ten Zeus« auf eine rät­sel­haf­te Wei­se an­ge­zo­gen hat, ge­sün­der die Ama­zo­ne von Kiß, je­nes plas­ti­sche Bild­werk, das noch heut auf der Trep­pen­wan­ge des al­ten Mu­se­ums zu se­hen ist: in Erz ge­gos­sen ein bäu­men­der Gaul, ein nack­tes Weib zum Speer­wurf aus­ho­lend, um einen Pan­ther zu durch­boh­ren, der sei­ne Pran­ken um die Brust des Pfer­des ge­schla­gen hat.

Auch das Denk­mal Fried­richs des Gro­ßen von Rauch mit sei­nem Ge­wir­re klei­ner Fi­gu­ren er­reg­te mir Be­wun­de­rung, und ich setz­te als selbst­ver­ständ­lich vor­aus, dass nur Halb­göt­tern, nicht ge­wöhn­li­chen Men­schen, wie wir es wa­ren, Wer­ke wie das von Kiß und das von Rauch ge­lin­gen könn­ten. Es war eine kind­li­che An­nah­me, die ich lan­ge be­lä­chelt habe. Heu­te weiß ich, dass sie zu Recht be­stand.

Au­ßer die­sen plas­ti­schen Bild­wer­ken hat­te sich mir von ir­gend­wo­her die Ari­ad­ne von Danne­cker ein­ge­prägt, und ich trug sie als ei­nes von drei Wun­dern der Kunst im Geis­te mit mir her­um.

Schein­ba­re Zu­fäl­le sind es meist, durch die fol­gen­schwe­re Wir­kun­gen aus­ge­löst wer­den. Hät­te mein Va­ter nicht wi­der sei­ne Ge­pflo­gen­heit eine Ge­sell­schaft ge­ge­ben und, um sie an­zu­re­gen, den In­halt sei­nes Bü­cher­schranks aus­ge­legt, so wür­de ich we­der die Kon­zep­ti­on des großen Ho­me­ri­schen Ge­dichts ha­ben fas­sen kön­nen, noch hät­ten sich jene be­rühm­ten plas­ti­schen Kunst­wer­ke in mei­ner Vor­stel­lungs­welt fest­ge­setzt. An ih­nen lern­te ich die Wahr­heit des Sat­zes ken­nen, den De­mo­kri­tos ge­spro­chen hat, wo­nach die großen Freu­den aus der Be­trach­tung schö­ner Wer­ke ab­zu­lei­ten sind. Hat­te die von mir ent­deck­ten eine über­mensch­li­che Kraft ge­schaf­fen, so er­füll­te sie sel­ber in mei­nen Au­gen au­ßer- und über­mensch­li­che We­sen­heit. Sie wur­den mir in sich und an sich Kult­bil­der, wie es mir die Kreuz­ab­nah­me ge­wor­den war und die Raf­fae­li­sche Ma­don­na im Gro­ßen Saal.

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961 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783962818746
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