Kitabı oku: «Das Abenteuer meiner Jugend», sayfa 2
Zweites Kapitel
Mein Elternhaus hatte zwei Daseinsformen, die so voneinander verschieden waren wie voll und leer, Wärme und Kälte, Lärm und Stille, Leben und Tod. Damit ist nur das Gebäude, der Gasthof zur Preußischen Krone gemeint, der dem Verkehr nur im Sommer geöffnet war und im Winter geschlossen blieb.
Ende April bezog ihn zunächst ein recht zahlreiches Personal: Köche, Küchenmädchen, Hausmamsell, sogenannte Schleußerinnen, Oberkellner, Kellner und einige Hausdiener. Dann füllten sich bald alle Zimmer mit Kurgästen.
Für den Gasthof also war das die lebendige, der Winter die tote Zeit, für die Familie dagegen war der Sommer die tote, der Winter die lebendige. Vater und Mutter gehörten sommers der Öffentlichkeit, sie waren den Winter über Privatleute.
Die zweite Daseinsform meines Geburtshauses verband sich am tiefsten mit meinem Wesen und prägte es in frühen, entscheidenden Zeiten aus. In dieser stillen, leeren Verfassung gehörte das Haus uns, im Sommer war es uns gänzlich entzogen und uns Kindern auch Vater und Mutter. Sie gehörten mit allem, in allem der Öffentlichkeit.
Die Quelle, der Brunnen war eines der ewigen Themen am winterlichen Familientisch. In einem Umkreis, dessen Radius ungefähr hundert Meter betragen mochte, traten die Heilquellen Ober-Salzbrunns, also die Salzbrunnen Salzbrunns, ans Tageslicht. Als der erste der Oberbrunnen. Gegenüber der Fassade unsres Gasthofs lag der prächtige Saal, den man über seiner Mündung errichtet hatte. An der Salzbach verborgen, zu erreichen auf einem nahen, schwankenden Brettersteg, lag der Mühlbrunnen. Er wurde zu Kurzwecken nicht benutzt und war der Bevölkerung freigegeben. Und, o Wunder! die dritte der Quellen gehörte uns. Ihr ummauerter Spiegel lag innerhalb der Fundamente unsres Gasthofs. An Heilkraft dem weltbekannten Oberbrunnen gleich, war doch ihr Dasein damals unbeachtet und ruhmlos. Ihr Wasser wurde durch eine Pumpe aus Gußeisen von den gleichgültigen Fäusten der Kutscher und Knechte für den Bedarf der Pferdeställe heraufgeholt. Auch wurde der Abwasch davon bestritten. Noch im Bereich meiner Knabenjahre ist dann eine vierte Quelle auf unserm Nachbargrundstück entdeckt worden.
*
Ich danke es meinem Vater, dass er mir, dem Flüggegewordenen, weder einen Faden ans Bein gebunden, noch mich einem Aufpasser, einem Präzeptor, überantwortet hat. Unbehindert durfte ich ausschwärmen. Das Erste und Nächste, etwa im späten Herbst, war ein ausgestorbener tempelartiger Bau, der sommers als Wandelhalle diente. Dort freute ich mich an dem Hallen meiner Tritte, wenn ich aus Freude an der Wiedergeburt nach dem Schlaf auf und ab rannte. Diese offene dorische Architektur, schlechthin die Kolonnade genannt, gewährte mir auch bei schlechtem Wetter freie Bewegungsmöglichkeit, wie sommers bei plötzlichen Regengüssen den Kurgästen. Einen besseren, schöneren und auch gesünderen Spielplatz als diesen, der mir zudem ganz allein gehörte, gab es nicht.
Vom Spiel lief ich in den anstoßenden Brunnensaal hinab, der immer offen war, und ließ mir an einer langen Stange von einem der Brunnenschöpfer ein Glas in die kreisrund ummauerte Tiefe tauchen, den prickelnden Brunnen schöpfen und heraufholen. Sie taten es immer mit Freundlichkeit und Bereitwilligkeit.
Mit der Zeit erst begriff ich, dass ich einigermaßen bevorzugt war.
Der Vater meiner Mutter war oberster Leiter des Badeorts. Er führte den Titel Brunneninspektor, sodass auch von dieser Seite der Begriff des Brunnens seine schicksalhafte Bedeutung in unserm Hause behauptete. Übrigens hieß ein herrschaftliches Gebäude in den Promenaden der Brunnenhof, ein Haus, das mein Vater gepachtet hatte.
Der Platz zwischen dem Gasthof zur Preußischen Krone und der Kolonnade, genannt Elisenhalle, war Zentrum des Orts. Er wurde außerdem noch begrenzt vom Badeverwaltungsgebäude, in dem mein Großvater Ferdinand Straehler, eben der Brunneninspektor, amtierte. Auf diesem Platze hatten sich einst meine militärischen Eindrücke wesentlich zusammengedrängt: der Österreicher mit dem blutigen Tuch um den Hals, Gefangene, rastende Truppen und ihre zusammengestellten Gewehre. Hier handelten meine Brüder gegen allerlei Tauschobjekte Kommissbrot ein, von hier aus führte der grade Weg bis zu einem Ausflugsort, der Schweizerei, den meine Brüder im Jahre 66 unzählige Male zurücklegten, um, wie schon gesagt, jene Gefangenen und Verwundeten zu betreuen, die man dorthin gelegt hatte. Hier, neben der breiten Freitreppe, vor dem Giebel der Elisenhalle, vor und unter den Basen der dorischen Säulen, saß auch im Winter eine alte knusperhexenartige Kuchenfrau, die aus vielen Gründen, auch dem der unumgänglichen kindlichen Näscherei, nicht aus meiner Kindheit hinwegzudenken ist. Von diesem Platz trat man in die Kurpromenaden und in den Brunnensaal, hier mündete der sogenannte Pappelberg, eine steigende Pappelallee, die nach Wilhelmshöh führte, einem romantischen Burgbau, dem hauptsächlichsten Ausflugsort.
*
Der durch Jahre vorausgeworfene Schatten des ersten Schultags verdichtete sich. Eines Tages nach Weihnachten sagte meine Mutter zu mir: »Wenn das Frühjahr kommt, musst du in die Schule. Ein ernster Schritt, der getan werden muss. Du musst einmal stillsitzen lernen. Und überhaupt musst du lernen und lernen, weil auf andere Weise nur ein Taugenichts aus dir werden kann.«
Also du musst! du musst! du musst!
Ich war sehr bestürzt, als mir diese Eröffnung gemacht wurde. Dass ich erst etwas werden solle, da ich doch etwas war, begriff ich nicht. War ich doch völlig eins mit mir! Nur immer so weiter zu sein und zu leben war der einzige, noch fast unbewusste Wunsch, in dem ich beruhte. Freiheit, Stille, Freude, Selbstherrlichkeit: warum sollte man etwas anderes wollen? Die kleinen Gängelungen der Eltern störten diesen Zustand nicht. Wollte man mir dieses Leben wegnehmen und dafür ein Sollen und Müssen setzen? Wollte man mich verstoßen aus einer so vollkommen schönen, mir so vollkommen angemessenen Daseinsform?
Ich begriff diese Sache im Grunde nicht.
Etwas auf andere Weise zu lernen als die, welche mir halb bewusst geläufig war, hatte ich weder Lust, noch fand ich es zweckmäßig. War ich doch durch und durch Energie und Heiterkeit. Ich beherrschte den Dialekt der Straße, so wie ich das Hochdeutsch der Eltern beherrschte. Erst heute weiß ich, welch eine gigantische Geistesleistung hierin beschlossen ist und dass sie, geschweige von einem Kinde, nicht zu ermessen ist. Spielend und ohne bewusst gelernt zu haben, hantierte ich mit allen Worten und Begriffen eines umfassenden Lexikons und der dazugehörigen Vorstellungswelt.
Ob ich mich nicht wirklich vielleicht ohne Schule schneller, besser und reicher entwickelt hätte?
Vielleicht aber war das Schlimmste ein Seelenschmerz, den ich empfand. Meine Eltern mussten doch wissen, was sie mir antaten. Ich hatte an ihre unendliche, uferlose Liebe geglaubt, und nun lieferten sie mich an etwas aus, ein Fremdes, das mir Grauen erzeugte. Glich das nicht einem wirklichen Ausstoßen? Sie gaben zu, sie befürworteten es, dass man mich in ein Zimmer sperrte, mich, der nur in freier Luft und freier Bewegung zu leben fähig war, – dass man mich einem bösen alten Mann auslieferte, von dem man mir erzählt hatte, was ich später genugsam erlebte: dass er die Kinder mit der Hand ins Gesicht, mit dem Stock auf die Handteller oder, sodass rote Schwielen zurückblieben, auf den entblößten Hintern schlug!
*
Der erste Schultag kam heran. Der erste Gang zur Schule, den ich, an wessen Hand weiß ich nicht mehr, unter Furcht und Zagen zurücklegte. Es schien mir damals ein unendlich langer Weg, und so war ich denn recht erstaunt, als ich ein halbes Jahrhundert später das alte Schulhaus suchte und nur deshalb nicht fand, weil es aus dem Fenster der alten Preußischen Krone sozusagen mit der Hand zu greifen war.
Unterwegs gab es Verzweiflungsauftritte, die nach vielem gutem Zureden meiner Begleiterin, und nachdem sie mich an der Schultür unter den dort versammelten Kindern allein gelassen hatte, dumpfe Ergebung ablöste.
Es gab eine kurze Wartezeit, in der sich die kleinen Leidensgenossen tastend miteinander bekannt machten. Im Hausflur der Schule zusammengepfercht, pirschte sich ein kleiner Pix an mich heran und konnte sich gar nicht genug tun in Versuchen, die Angst zu steigern, die er bei mir mit Recht voraussetzte. Diese kleine schmutzige Milbe und Rotznase hatte mich zum Opfer ihres sadistischen Instinktes ausgewählt. Sie schilderte mir das Schulverfahren, das sie ebensowenig kannte wie ich, indem sie den Lehrer als einen Folterknecht darstellte und sich an dem gläubigen Ausdruck meines angstvoll verweinten Gesichts weidete. »Er haut, wenn du sprichst«, sagte der kleine Lausekerl. »Er haut, wenn du schweigst, wenn du niesen musst. Er haut dich, wenn du die Nase wischst. Wenn er dich ruft, so haut er schon. Pass auf, er haut, wenn du in die Stube trittst.«
So ging es, ich weiß nicht wie lange, fort, mit den Worten und Wendungen des Volksdialekts, in dem man sich auf der Straße ausdrückt.
Eine Stunde danach war ich wieder zu Haus, aß mit den Eltern vergnügt und renommistisch das Mittagbrot und stürzte mich mit verdoppelter Lust ins Freie, in die noch lange nicht verlorene Welt meiner kindlichen Ungebundenheit.
Nein, die Dorfschule mit dem alten, immer missgelaunten Lehrer Brendel zerbrach mich nicht. Kaum wurde mir etwas von meinem Lebensraum und meiner Freiheit weggenommen und gar nichts von meiner Lebenslust.
Drittes Kapitel
Der Gebäudekomplex des Gasthofs zur Preußischen Krone war im Laufe der Zeiten durch Anbauten entstanden. Schwer zu sagen, welcher seiner Teile mir zuerst zu Bewusstsein gekommen ist. Ich hatte wohl erst ein allgemeines Gefühl seiner Unergründlichkeit. Insoweit blieb er mir lange unheimlich. Ich denke auch hier an die Winterzeit. Da war zunächst unser Winterquartier im ersten Stock. Es waren die Säle: der sogenannte Große Saal und der sogenannte Kleine Saal und endlich der sogenannte Blaue Saal, der in Wahrheit der kleinste war. Da war ferner das Erdgeschoss: ein Schnittwarenladen lag darin, eine verpachtete, dem Straßenbetrieb offene Bierstube, die Wohnung des Fuhrwerksbesitzers Krause und die Kronenquelle, von der schon gesprochen wurde. Das Haupthaus, der Kleine Saal, die Stallungen bildeten und umfassten dreiseitig einen Hof, dessen vierte Seite nach der Straße offen war. Der Kleine Saal aber wurde von granitenen Pfeilern, sogenannten »Säulen«, getragen. Den unter ihm verfügbaren Wirtschaftsraum bezeichnete man schlechthin als Unterm Saal. Über unserm Winterquartier lag ein zweiter Stock, wo wir Kinder, sommers vom Fremdenbetrieb zurückgedrängt, in kleinen Schlafräumen unser vergessenes Dasein fristeten. Schließlich war das Bodengeschoss mit den Dachkammern ein besonderes Mysterium.
Unter diesen war eine, die sogenannte Siebenkammer, die für uns Kinder einen unheimlich-heimlichen Reiz besaß, obgleich sie in Wahrheit nichts anderes als die sattsam bekannte Rumpelkammer sein wollte. Wir hätten uns schwerlich im Dunkeln hineingetraut. Sonst aber übertraf ihre Anziehungskraft bei Weitem die Furcht, die uns im Gedanken an sie anwandelte. Auch war diese Furcht selber anziehend, gleich jenem Gruseln, das der Handwerksbursche im Märchen durchaus lernen wollte.
Altes zerbrochenes oder weggeworfenes Spielzeug von Generationen war darin in unentwirrbarer, verstaubter Menge aufgehäuft: Gummibälle, Puppen, Hausrat von Puppenstuben, Hampelmänner, Pferde und Frachtwagen, Teile von Schäfereien und Menagerien, Schaukelpferde, und so fort und so fort.
Alledem hauchte der kindliche Geist besonders im langen Dunkel der Wintertage fantastisches Leben ein. So war denn die Siebenkammer – und ist es mir in gewissem Sinne noch heute – der Ort, wo auf geheimnisvolle Weise Kobolde, Feen, Knusperhexen und Zauberer, Helden und Menschenfresser sich Rendezvous gaben und durch die Dachluke nachts beim Mondschein aus und ein flogen. Ich brauchte nur an sie zu denken, um ihrem Märchenzauber, ihrer grenzenlosen Magie mit der unendlichen, bunten Vielfalt ihrer Gestalten anheimzufallen. Gehe ich fehl, wenn ich in ihr eine der wichtigsten Rätselquellen meiner späteren Fabulierlust sehe?
Das Winterquartier im ersten Stock bestand aus fünf zusammenhängenden Stuben, welche die Nummern drei bis sieben als Türschilder hatten. So sprachen wir Kinder von der Drei, der Vier, der Fünf, der Sechs und der Sieben. Und mit jeder dieser Zahlen verbindet sich noch heut für mich die Vorstellung eines besonders beseelten Raums. Von allen strahlte die Vier vielleicht die meiste herzliche Wärme aus, die Fünf und die Sechs waren nicht so traulich. Der Charakter der kleinen Sieben hatte seine Besonderheit. Es waren darin Rouleaus, auf denen bunte Spanierinnen mit Fruchtkörben auf den Köpfen zu sehen waren.
Die Seelen dieser fünf Räume tauchen noch heut gelegentlich in meinen Träumen auf, mit mancherlei anderen Elementen verbunden.
Die Tür der Sieben war der Abschluss eines längeren Gangs, dem Fenster nach dem Hofe Licht gaben. Dagegen hatte ein kleiner Alkoven, in dem winters Vater, Mutter und ich schliefen, nur ein Fenster nach diesem Flur hinaus.
Ein oder zwei Winter ausgenommen, hat sich das Leben der Familie hauptsächlich in diesem Teil des Hauses abgespielt.
Ich sagte schon, dass mein sonst strenger Vater mir eine außergewöhnliche Bewegungsfreiheit zubilligte, was von Verwandten und Freunden vielfach gerügt wurde. Ungebunden und überall neugierig ging ich demnach auf Entdeckungsfahrten aus und wusste bald über jeden Winkel des Hauses Bescheid. Fast täglich durchstreifte ich alle Stockwerke, war daheim in Garten und Hof, kannte die entlegensten Räume, von denen einige seltsam genug und hinreichend unheimlich waren.
Das leidenschaftliche Leben, dem ich damals unterlag und das meinen zarten Organismus wie ein überstarker elektrischer Strom bewegt haben muss, erklärt sich nur durch eine ungeduldige Lebensgier, die überall etwas zu versäumen fürchtete. »Gerhart, renne doch nicht so!« sagte meine Mutter. – »Rase doch nicht immer so!« sagte mein Vater. – »Du rennst dir die Schwindsucht an den Hals!« mahnte mein Onkel Straehler, der schöne, von den Damen vergötterte Badearzt, wo er im Freien meiner ansichtig wurde. Frau Krause, Frau des Fuhrwerksbesitzers im Erdgeschoss, die robuste Bauersfrau, hielt sich wieder und wieder die Ohren zu und sagte dabei: »Hör auf, hör auf, dein Schreien macht mich verrückt, Junge!«
Der Wahrheit gemäß wäre vielleicht zu sagen, dass ich um jene Zeit immerhin ein wohlgearteter, aber kein wohlerzogener Junge gewesen bin, dazu war ich zu wild und zu frei aufgewachsen. Wie manchem mag ich durch lärmiges Gebaren, Rennen, Schreien und Ansprüche aller Art lästig geworden sein! Ich bin auch nicht allzu sauber gewesen. Die künstlichen Sitten der elterlichen Bürgerzimmer konnten den natürlichen Unsitten der Straße und des sogenannten niederen Volkes nicht standhalten. Ein nordisches Kind ohne Schnupfen im Winter gibt es nicht, und der Straßenjunge, der mein bewundertes Muster war, wird sich die Nase nur mit dem Ärmel putzen, wenn er es nicht technisch vollkommen mit Daumen und Zeigefinger niesend tut. Daher hatte ich meinen blanken Ärmel, zunächst den rechten, den anderen erst, wenn dieser nicht ausreichte.
Frau Greulich hieß eine alte Weißnähterin, die winters über bei uns arbeitete. Die gute Frau war entsetzt und herrschte mich manchmal heimlich entrüstet an, wenn ich ohne Ärmel und Taschentuch den Fluss der Nase durch ununterbrochenes Lufteinziehen erfolglos zu hemmen suchte.
Erkner, ein Vorort von Berlin, wo ihr verstorbener Mann Bahnbeamter gewesen war, hatte übrigens die beste Zeit im Leben dieser Frau gesehen. Immer, fast täglich, sprach sie davon. Sie ahnte nicht, und ich ahnte nicht, welche Bedeutung dieser Ort etwa fünfzehn Jahre danach auch für mein Leben erhalten sollte.
*
Wenn Sommer und Winter zwei ganz verschiedene Lebensformen des Gasthofs zur Preußischen Krone bedeuteten, freilich nicht ohne Zusammenhang, so kann ich noch heute wie als Kind völlig getrennte Welten unterscheiden, innerhalb seiner Mauern sowohl als auf dem dazugehörigen Grund.
Die Bürgerzimmer erstens umschlossen winters das Familienleben und damit die Wohlerzogenheit. Die Säle im gleichen Stockwerk wiesen gewissermaßen feierlich in eine fremde Welt höherer Lebensform. Im Blauen Saal stand das Klavier. Gelbe Mahagonipolstermöbel schmückten diesen Raum und die lebensgroßen, goldgerahmten Ölbildnisse König Wilhelms und seiner Gemahlin Augusta in ganzer Figur. Hier hatten die monarchischen Gefühle meines Vaters ihren Ausdruck gefunden. Eine Kopie der Sixtinischen Madonna in Originalgröße beherrschte den anderen, den Großen Saal, dessen noch verfügbare zweite Wand eine Kopie der Kreuzabnahme Rembrandts trug, den mein Vater, nach der Fülle der Rembrandtkopien im Kleinen Saal zu schließen, besonders geschätzt haben muss.
Ich begreife noch heute schwer, wie man in der sakralen Atmosphäre des Großen Saales speisen und harmlos plaudern konnte.
Dicht an die Säle stießen dann Küche, Waschküche und Hinterhof, die eine ganz andere Welt darstellten und die im wesentlichen den unabweisbaren Bedürfnissen des Magens und des Bauches zu dienen hatten. Es kam hernach die Welt Unterm Saal, die zwar als ein Teil des Hofes anzusehen ist, aber eigene Funktionen hatte. So lag die Kutscherstube dort und die Putzstube der Hausknechte, besonders aber wirkte sich hier der Betrieb des Weinkellers mit Flaschenwaschen, Fässerreinigen und dergleichen regensicher aus.
*
Von den Sälen zur Kutscherstube war ein großer Schritt. In einem fensterlosen Raum blakte allzeit eine Ölfunzel, es herrschte keine Sauberkeit, es roch nach Bier, Fusel und Speiseresten. Diese Kutscherstube war eine Dreckbude, wo aber doch viel Behagen, Gelächter, derbes Fluchen und Karten-auf-den-Tisch-Hauen in jenem niederländischen Stil laut wurde, der sich auf manchem Ostade des Kleinen Saals erschloss. Im Giebel des Hauses ebenerdig nach der Straße hinaus lag noch die Bierstube, die Schwemme, wie man in Österreich sagt, deren Tür auf die Gasse ging und die zeitweilig Schauspieler Ermler gepachtet hatte. Sie war ein manierlich volkstümlicher Aufenthalt, der gelegentlich auch wohl von den Honoratioren des Orts besucht wurde.
Der Hintergarten war das Gebiet, wo man sich in der ungebundensten Wildheit austobte. Der große Düngerhaufen der Pferdeställe befand sich dort, der Eiskeller, um den herum es sehr übel nach Schlachthaus roch, aber auch ein Warmhaus, dessen Palmen, Lorbeer- und Feigenbäume und seltene Blumen mir die erste Botschaft einer schönen südlichen Welt brachten.
Der Schnittwarenladen aber von Sandberg, in der Front des Hotels, atmete eine vornehme Stille. Der graubehaarte Scheitel des alten Inhabers, auf dem allezeit ein gesticktes Käppchen saß, sein milder Ernst, seine seltsame Sprache und manches, was man mir von ihm erzählt hatte, da er Vorsteher der Salzbrunner jüdischen Gemeinde war, erfüllten mich mit einem Respekt, in dem sich Befremden und Neugier mischten.