Kitabı oku: «Das Abenteuer meiner Jugend», sayfa 3
Viertes Kapitel
So ungefähr boten sich zunächst die Schauplätze dar, auf welchen ich mich im Vollgenuss meines Lebenstriebes – im gesunden Kinde ist Freude und Leben ein und dasselbe – in dauerndem Wechsel täglich bewegte. Sie lagen auf zwei verschiedenen Hauptebenen, von denen die eine die bürgerliche, die andere zwar nicht die durchum proletarische, aber jedenfalls die der breiten Masse des Volkes war. Ich kann nicht bestreiten, dass ich mich im Bürgerbereich und in der Hut meiner Eltern geborgen fühlte. Aber nichtsdestoweniger tauchte ich Tag für Tag, meiner Neigung überlassen, in den Bereich des Hofes, der Straße, des Volkslebens. Nach unten zu wächst nun einmal die Natürlichkeit, nach oben die Künstlichkeit. Nach unten wächst die Gemeinsamkeit, von unten nach oben die Einsamkeit. Die Freiheit nimmt zu von oben nach unten, von unten nach oben die Gebundenheit. Ein gesundes Kind, das von unten nach oben wächst, ist zunächst wesenhaft volkstümlich, vorausgesetzt, dass es nicht durch Generationen verkünstelten Bürgertums verdorben ist. Das Kind steht dem bäuerlichen Kindermädchen näher als seiner Mutter, wenn diese eine Salondame ist: und die Mutter, wenn sie es ist, weiß mit dem Kinde, das sie gebar, nichts anzufangen. Fuhrhalter Krause, der im Hofe die Herrschaft führte, sprach mit seinem Sohne Gustav und mit mir, wie man mit seinesgleichen spricht. Nie wurde ihm oder mir von Krause klargemacht, dass wir dumme Jungens seien und uns als minderwertige Wesen anzusehen hätten. Auch von Vater und Mutter erlitten wir keine moralische Erniedrigung, außer wo wir mit Recht oder Unrecht gescholten wurden. Aber es lag nun einmal im Geiste des oberen Bereichs, dass man sich nicht natürlich betragen konnte. Der Unterschied zwischen unten und oben war so groß, wie der zwischen dem sinnlich-seelenvollen Dialekt und dem sinnlich-armen, nahezu entseelten Schriftdeutsch ist, das als Hochdeutsch gesprochen wird. Unten im Hof erzog die Natur, oben wurde man, wie man fühlte, nach einem bewussten menschlichen Plan für irgendeine kommende Aufgabe zugerichtet. Kochen, Essen, Schlafen, das alles ging vor sich in einem einzigen Zimmer des Krausebereichs.
Jegliches Ding darin hatte seine Aufgabe. Oben war eine Zimmerflucht, die zum großen Teil nur von Glasschränken mit Büchern und Nippes, von Spiegeln, unbenutzten Kommoden, Tischen und Sesseln und von einigen schweigsamen Fliegen bewohnt wurde. Die stumme Sprache dieser Dinge, Uhren, Porzellane, Ziergläser, Teppiche, Tischdecken und dergleichen, wiederholte immerzu: Mache hier keinen Riss, dort keinen Fleck, stoß mich nicht an, stoß mich nicht um, und so fort. Unten gab es dergleichen Rücksichten nicht.
Und oben, nicht unten, wohnt auch die Eitelkeit. Da sind ihre großen und kleinen Spiegel, die über das Unten keine Macht haben. Dort prüft der gekünstelte Mensch und schon das Kind tagtäglich sein Aussehen. Bei solcher Gelegenheit hat mich das meine nie befriedigt. Auch dem Gecken mag übrigens etwas anhaften von dergleichen Unzufriedenheit, er würde sonst im Ausputz seiner Person nicht so ruhelos wechseln. Der wohlgekleidete Mensch wird gesehen. Er vergisst nicht, darf nicht vergessen, dass es so ist. Wenn er ausgeht, ist er sein eigener Spiegel. Der einfache Mensch sieht nur um sich her.
Wenn der einfache Mann müde ist, macht er Feierabend, oder er macht eine Arbeitspause, die er sich, wie er kann, versüßt. Der gesunde Mann aus dem Volke ist durch und durch wesentlich: leeres Gerede kennt er nicht. Wenn er spricht, wird es Hand und Fuß haben. Das macht zunächst der immer naheliegende Gegenstand, der seine tägliche Arbeit und deren Fehlschlagen oder Gelingen ist. Jedes Wort dieser Rede ist kraftvoll und vollgültig. Sie gestaltet die Sprache neu und in jedem Augenblick, weshalb schon Martin Luther sagt: »Man muss dem gemeinen Mann aufs Maul schauen, wenn man wissen will, was Sprache ist.« Sokrates sagt ungefähr dasselbe.
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Das Speisen am wohlgedeckten Tische meiner Eltern in Nummer Drei verlor für längere Zeit seinen Reiz, als ich einmal bei Krauses gegessen hatte. Ich saß mit Krause, seiner Frau, Gustav und Ida sowie einem alten Knecht um den gescheuerten Tisch. In der Mitte stand eine große, braune, tiefe Schüssel aus Bunzlauer Ton, in die wir, jeder mit seiner Gabel, hineinlangten. Wir griffen zu den Zinnlöffeln, als nur noch Brühe darin vorhanden war. Messer und Teller gab es nicht.
Es ging bei dieser schlichten Bauernmahlzeit schweigsam und manierlich zu. Dass man mit vollem Munde nicht spricht, sollte sich ja von selbst verstehen. Es kommen dabei, selbst in hohen und höchsten Kreisen, Sprudeleien und andere unappetitliche Dinge vor. Trotzdem wir mit ausgestrecktem Arm zulangen und den Bissen durch die Luft führen mussten, ehe wir ihn in den Mund steckten, wies die Tischplatte am Schluss keine Flecken auf. Was Frau Krause gekocht hatte, war ein Gemisch von Klößen und Sauerkraut in einer Brühe aus Schweinefleisch. Dieses Gericht war delikat. Niemals später genoss ich wiederum solches Sauerkraut. Es wurde von dem alten Knecht und von Krause, nachdem sie bedachtsam die Gabel darin gedreht und so die langen, dünnen Fäden wie auf einen Wocken gewickelt hatten, aus der Tunke herausgeholt. Dass sie dieselbe Gabel, die sie in den Mund gesteckt hatten, wieder in die gemeinsame Schüssel tauchten, fiel mir nicht auf. Die langsame Sorgfalt des Vorgangs ließ den Gedanken an etwas Unappetitliches gar nicht aufkommen.
Tischgebete sprach man bei den Mahlzeiten des Fuhrherrn nicht. Aber die ganze Prozedur dieser gelassenen Nahrungsaufnahme, bei der niemand, auch nicht die Kinder, im Geringsten Ungeduld, Hast oder Gier zeigte, war feierlich. Sie war beinahe selbst ein Gebet. Hier wusste man, was das tägliche Brot bedeutete, und der Instinkt entschied, welche Würde ihm zuzusprechen war.
Übrigens war durch die schwere, sommersprossige Hand und den heraklischen Arm des Fuhrherrn der Rhythmus dieses Familienmahles angezeigt. Niemand hatte sich unterfangen und seine Gabel oder den Löffel, während er es einmal tat, zweimal in die Schüssel getaucht.
Fuhrmann Krause war eine Art Spediteur. Der Transport des Brunnenversandes zur Bahnstation lag in seiner Hand. Ebenso holte er regelmäßig mit seinem Omnibus von ebender Bahnstation Freiburg die ankommenden Fremden ab und brachte dorthin die Abreisenden. Der Omnibus, wenn er nicht unterwegs war, stand in unserm Hof, wo seine Polster geklopft, seine Achsen geschmiert und das ganze Monstrum mehrmals die Woche von oben bis unten geputzt und gewaschen wurde. Das Klirren der hölzernen Eimer mit den eisernen Tragbogen, das Lärmen der Pferdeknechte machte die Musik dazu.
Ich denke dabei an die Sommerzeit, wo ich überall und nirgend zu Hause war. Die kurze Schulzeit ausgenommen, trieb ich mich in den Ställen zwischen den Pferden, in der Kutscherstube, im Hintergarten, vielfach auch auf den flachen, bemoosten Dächern der Saalbauten herum.
Fast nie erfüllte ich das Gebot meines Vaters: ohne Kopfbedeckung nicht auszugehen. Da ich also, ungehorsam, immer mit bloßem Kopfe herumrannte, vermied ich nach Möglichkeit, von meinem Vater gesehen zu werden. Auch setzte er gewiss nicht voraus, bis zu welchem Grade ich mich in die Gepflogenheiten der Straßenjungen einleben würde. Ich fing zum Beispiel, mit ihnen in einem Rudel vereint, den Omnibus, wenn er von der Bahn kam, vor dem Ziele ab und verfolgte ihn, ebenfalls mitten im Rudel, gehüllt in eine dichte Staubwolke. Der Zweck war, den anlangenden Kurgästen Handgepäck zu entreißen, um es gegen Entgelt hinter ihnen drein in das Logis zu schleppen. Ich habe das nur einmal getan, denn die Behandlung, die ich dabei erfuhr, die Last, die ich zu tragen hatte, und die Entlohnung durch einen Kupferdreier, den ich empfing, all das war angetan, mich von dieser Art Broterwerb abzubringen.
Fünftes Kapitel
Der Gasthof hatte im Winter etwas Vergeistertes. Das Leben seiner sommerlichen Daseinsform durchspensterte seine winterliche. Die Korridore, die einzelnen Logierzimmer, die Säle, die Küche, die Waschküche waren von den Schatten der Gestalten belebt, die im Sommer darin gehaust hatten. Manchmal, etwa wenn nächtlicher Novembersturm das Haus umbrauste, stand ich plötzlich wie angewurzelt in einem der ausgestorbenen, finsteren Flure still, weil, wie in einem hellen Blitz, das Sommerleben des Hauses auflärmte: Wagengerumpel, Eimergeklirr, Kinder- und Kutschergeschrei im Hof, in den Sälen Tellergeklapper und dumpfes Gesumm, Menschengewimmel auf der Straße, polnische Juden mit Pajes,1 und Rockelor2 Lärm, Lärm und wieder Lärm! Alles nur einen Augenblick: dann heulte Finsternis um die Mauern.
Wie furchtsame Schafe drängten wir Kinder uns zusammen: wir hatten etwa in Numero Neun ein fürchterliches Husten gehört. Es war das Logierzimmer, in dem ein Lungenkranker vor Jahren gestorben war. Oder von irgendeiner leeren Stube aus wurde nachts die Schelle gezogen: Furcht und Grausen schüttelte uns. Solche Vorfälle wurden meist nicht aufgeklärt.
Mein Vater liebte Nachtlichte. Ein solches kleines, knisterndes Lichtwesen, das auf einer Ölschicht in einem Glas Wasser schwamm, hatte die trostlose Aufgabe, den Weg durch den eisigen Kleinen Saal zur Privatküche sichtbar zu machen. »Gerhart, geh doch mal! Gerhart, hole doch mal!« hieß es in den behaglich durchheizten Wohnzimmern. Dann musste ich wohl oder übel in den Bereich des Nachtlichts hinaus, der hohen Fenster, erblindet durch Eisblumen, des Saals mit den frierenden Rembrandtbildern an der Wand, musste mir Mut machen, musste hindurchjagen, musste durch die leere Hotelküche, die nach rostigem Eisen roch und wo der Wind Häufchen Schnee auf den kalten Herdplatten jagte, drehte und wirbelte.
Aber wir wären nicht Kinder gewesen, wenn nicht der Kobold in uns auch dieser Drangsal eine lustige Seite abgewonnen hätte. Meine Schwester Johanna ging uns hierin voran. Es handelte sich um das von Kindern so gern geübte Erschrecken. Einer von uns überwand seine Furcht und versteckte sich in der Finsternis. Kam der Beauftragte dann in Sicht, etwa langsam oder furchtsam vorschreitend, so schlug der Versteckte wohl mit einem Stock auf ein Möbelstück, was der Furchtsame mit einem Schrei und Flucht beantwortete. Oder der Beauftragte flog wie gehetzt von Eingangstür zu Ausgangstür, und diese wurde von außen zugehalten. Er rannte zurück, fand, dass auch die Eingangstür verriegelt war, und sah sich den grinsenden Bilddämonen an der Wand und allen möglichen Ängsten preisgegeben.
Fast möchte ich es als Glück meiner Jugend bezeichnen, dass sich unser Dasein nur im Winter zu einem echten Familienleben einengte: im Sommer trat an seine Stelle für mich eine überaus glänzende Vielfalt immerwährender Festlichkeit.
In der zweiten Hälfte des Monats April zogen Hausdiener und Zimmermädchen auf. Das große Reinemachen begann. Die hohen Glastüren des Großen Saals, durch die man eine Terrasse betrat, wurden weit aufgesperrt, desgleichen die Fenster des Kleinen Saals und aller Logierzimmer. Man trug die Matratzen an regenfreien Tagen vor das Haus, wo alsbald Schleußerinnen und Hausknechte unter lauten Späßen und Gelächter die Ausklopfer schwangen. Der ganze Ort widerhallte davon. Es wurden dabei manche Namen gerufen von Leuten, die nicht durchaus beliebt waren, wodurch die Schläge schneller und kräftiger niederknallten.
Des Ungeziefers wegen wurden inzwischen die Fugen der Bettstellen mit Petroleum abgepinselt. In den Fenstern standen die Mädchen halsbrecherisch, wuschen die Scheiben und rieben sie trocken. Oder der Schrubber herrschte, und die Dielen schwammen in schmutzigem Wasser. Überall roch es nach Seife und nassen Hadern, und die milden Lüfte des Frühlings drangen ins innerste Innere des Hauses ein.
Ich empfand dies alles als etwas Beglückendes, wälzte mich auf den Matratzen herum oder berauschte mich zwischen den allerlei Polstermöbeln, die man ebenfalls, um sie auszuklopfen, in den vorderen Ziergarten gebracht hatte. Der Reiz des Ungewöhnlichen, Sessel und Sofas zwischen Gartenbeeten zu finden, versetzte mich in Begeisterung.
Eines Tages hatte dann der Gasthof zur Preußischen Krone zu seiner eigentlichen Bestimmung zurückgefunden. Die Lungen seiner Fenster bewirkten gesundes Ein- und Ausatmen. Durch seine hellen, wiederum sehenden Augen ergoss sich Licht und spülte aus allen Winkeln die Finsternis. Die Zimmer glänzten vor Wohnlichkeit. Die Kerzen in den silbernen Leuchtern trugen frische Manschetten. Von Kellnern wurden Gläser geputzt. Frau Riedl, genannt die Mamsell,3 war eingetroffen. Sie hatte hinter einem Büfett vor der Küche ihren Stand, um, wenn es so weit war, die Speisen von dort den Kellnern weiterzureichen. Die Küche, in die nun der Koch eingezogen war, erschien heiter, hell und gar nicht mehr fürchterlich. Lorbeer, Palme, Zypresse und Feigenbaum, alles in Kübeln, schmückten die Außenwand und so die Terrasse vor dem Großen Saal. Die Vögel lärmten in den Anlagen. Einige gedeckte Tische waren im Garten aufgestellt.
Krause wusch seinen Omnibus, während um ihn die Schwalben schrillten, die in den Ställen und Unterm Saal zu Neste trugen. Sandberg stand vor der offenen Ladentür und weidete sich an seinem Schaufenster, in dem er die Schnittwaren neu geordnet hatte. Im Eingangsraum des Gasthofes hatte ein Bijouteriehändler seine Auslage.
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So war die Krone aus ihrem Winterschlaf erwacht, hatte ihre Wiedergeburt, ja ihre Auferstehung gefeiert, sich gewaschen, geputzt und Festkleider angelegt. Und nun mussten die Kurgäste kommen, die den Vorteil von alledem haben und bringen sollten. Denn die alte Krone war nicht nur eine Glucke, die winters ihre Flügel über uns hielt, sondern sie legte auch goldene Eier.
Eine Persönlichkeit, die immer wieder besonderen Eindruck machte, war der jeweilige Koch. Man nannte ihn allgemein den Chef. Ein solcher Chef nahm mich, solange ich klein genug dazu war, sooft er konnte, auf den Arm, und ein Name, den er mir gab, Pflaumenfritze, ist mir in Erinnerung. Er trug mich nämlich jedes Mal in die Speisekammer und ließ mich in einen Sack gedörrter Pflaumen hineinlangen.
Ein anderer Koch, ein junger Mensch, der mich ebenfalls auf den Arm genommen hatte, ist mir erinnerlich und ein niedlicher Vorgang, der die ganze Küche erheiterte: der lustige Chef nahm mit den Fingern frisch gekochte Spargel von einer Platte, tauchte die Spitzen in Butter und ließ sie mich abbeißen, der übriggebliebene Stengel flog zum offenen Fenster hinaus.
Frau Milo hieß eine Kochköchin, die neben dem Chef wirkte. Auch sie nahm mich eines Tages – etwa dreijährig mochte ich gewesen sein – auf den Arm. Da fiel mir auf, dass irgendetwas an ihr befremdlich hervorragte. Ich hatte den Begriff einer weiblichen Brust noch nicht, so klopfte ich mit der Hand auf den unbegreiflichen Gegenstand und stellte die Frage, was das wäre, worauf die ganze Küche vor Lachen fast außer sich geriet und Frau Milo dunkelrot im Gesicht wurde.
Vom Arme irgendjemandes aus sah ich zum ersten Mal die wohlgeordnete Speisekammer vom Dachrödenshof. Das war ein benachbartes Haus, das mein Großvater Straehler, der Brunneninspektor, gebaut hatte und in dem er mit zwei unverheirateten Töchtern wohnte.
Das Interesse der Köche und ähnlicher kinderlieber Menschen setzte aus, als ich älter geworden war und zur Schule ging. Es wäre mir auch nur lästig gewesen.
Ein Wildling wie ich fürchtete Zwang von allen Erwachsenen. Wo ich nur konnte, mied ich sie. Die bloße Berührung durch einen von ihnen war mir unleidlich.
1 Schläfenlocken <<<
2 Mantel mit Schulterkragen <<<
3 Berufsbezeichnung; meist Hausgehilfin <<<
Sechstes Kapitel
Den Zwang und Kerker der Schule konnte man freilich nicht ausschalten.
Im Winter war der Schulweg bis auf Prügeleien und Schneeballschlachten ohne Belang. Im Sommer wurde er dadurch gewürzt, dass wir am geöffneten Kurtheater vorbei mussten. Es war ein Holzbau, äußerlich eine verwitterte Bretterbaracke, die mein Großvater, wie auch Brunnen- und Elisenhalle, Annaturm und anderes, durch seinen Freund und Maler-Architekten Josef Friedrich Raabe, der zu Goethe in engen Beziehungen stand, hatte errichten lassen. Wenn wir zur Schule gingen, waren meist Proben, und vor den Eingängen standen die Schauspieler. Was im Theater selbst vorgehen mochte, blieb uns Kindern lange ein Mysterium; umso wilder wucherten die Gerüchte. Einst wurde mir ein Jüngling gezeigt, der heute sein Benefiz hatte. Was sollte das sein: Benefiz? Etwas Furchtbares sicherlich. Ohne es zu ahnen, kamen wir der altgriechischen Ritualbühne und den Gepflogenheiten des römischen Kolosseums in unsren Gedanken sehr nahe, denn uns war der Jüngling todgeweiht. Es hieß, er müsse am Abend zum Schluss des Stückes sich selber erstechen, oder er werde hingerichtet.
Diese Sache erschien mir selbstverständlich. Von einem flüchtigen Gruseln abgesehen, nahm ich sie hin, als ob man gesagt hätte, morgen werden uns in der Schule Bibelsprüche abgehört.
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Der alte Lehrer Brendel, der seine Fingerkniebel gewöhnlich auf die erste Schulbank stützte und darum eine dicke Hornhaut auf ihnen hatte, war der fleischgewordene Zorn. Zorn war Anfang, Mitte und Ende seines Unterrichts. Er würde sich nichts vergeben haben, wenn er unversehens einmal gelacht hätte. Als er gelegentlich mit seinem gelben Rohrstock, um einen Schüler abzustrafen, in die Bank langte, erhielt ich, nicht der Gemeinte, den wuchtigen Schlag, worauf er denn doch betretene Worte stammelte.
Am Schluss der Stunde sang man: »Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen!« Wir setzten stillschweigend hinzu: dafür, dass die Schule zu Ende ist. Nie jauchzte ein tiefer gefühlter Dank zum Himmel. Mit dem letzten Ton brausten wir auf die Straße.
Dass wir in den Kurgästen und in ihren wohlgekleideten, wohlgeputzten Kindern höhere Wesen sehen mussten, war eine Unvermeidlichkeit: kamen sie doch aus Hamburg, Bremen, Berlin, Danzig, ja aus Sankt Petersburg oder Warschau, Städten, von denen ich wenig wusste, deren Namen jedoch wie Sonnen glänzten. Es waren durchaus nicht nur Lungenkranke, die Salzbrunn aufsuchten, wenn auch der hustende, krächzende, Schleim auswerfende Schwindsuchtskandidat zum Bilde des Bades gehörte. Er bewegte sich aber in den Wogen einer ihn nicht beachtenden, heiterbunten Lebewelt, die sich auf der Brunnenpromenade und in der dorischen Tempelhalle täglich mehrmals zusammenfand. Man übte damals noch eine selbstverständliche Duldsamkeit. Der Gesunde, der Leicht-, der Schwererkrankte wurden überall und so auch in der Preußischen Krone unbedenklich und wahllos aufgenommen.
Wie gesagt, die Fremden waren uns Kindern Halbgötter. Um ihretwillen wurden Berge von Fleisch verarbeitet, Frachtkisten mit Seefisch kamen, die besten Gemüse wurden für sie geputzt, die auserlesensten Früchte verarbeitet. Im Innern des Brunnenhofes, eines Logierhauses, das zum Bade gehörte und das mein Vater gepachtet hatte, war ein großes Steinbassin, aus dem man jederzeit mit dem Netz lebende Bachforellen fischen konnte. Dass des Abends Champagnerpfropfen im Saale knallten, war keine Seltenheit.
Alles dies ward von den Fremden beansprucht und, was mehr ist, von ihnen bezahlt. Sie kamen und lebten aus vollen Säckeln. So habe ich wohl sicherlich den Begriff von Geld und Geldeswert schon um jene Zeit gehabt und gewusst, dass es darauf ankam, möglichst viel davon in den Kassenbehältern des Gasthofs zurückzubehalten.
In Beziehung auf die Kinder von Kurgästen kommt mir ein sehr frühes Erlebnis mit Carl in Erinnerung. Man hatte im Vordergarten einen Baum gefällt, der kahle Stamm lag auf der Erde. Eng aneinander gequetscht wie Sperlinge, hatten wir Kleinen darauf Platz genommen. Vornan, allerdings hinter einem weißgekleideten Mägdlein mit bunten Bändern im offenen Haar, das er aus irgendeinem Grunde von rückwärts umarmt halten musste, saß Carl. Ich kam zuletzt als der Kleinste der Kleinen. Meine Ohnmacht brannte vor Scham und Eifersucht, mein Elend aber war darum so groß, weil ich meine Gefühle verschweigen musste. Ich erkannte deutlich die Lächerlichkeit, der ich Knirps sonst verfallen wäre.
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Wir hatten anfänglich nicht die gleiche Schulzeit, Carl und ich, so machte jeder den Schulweg allein. Später, als ich in seine Klasse aufstieg, legten wir ihn gemeinsam zurück. Ich erkläre es mir als naiv-sadistischen Zug, dass mein Bruder mich manchmal hinten beim Kragen packte, wenn wir die Schule verlassen hatten, und mich, zu meiner Qual, wie einen Arretierten vor sich her nach Hause beförderte. Ich vermehrte dabei meine Leiden durch nutzlosen Widerstand.
Eines Tages auf dem Nachhausewege wurde mir Carls Betragen überaus wunderlich. Aus der Schule getreten, suchte er sogleich einen Ruheplatz, dann einen zweiten. Der Posthof, ein Kastanienhain, war mit hängenden Ketten zwischen niedrigen Granitpfeilern eingefasst: Carl suchte auf einer der Ketten Ruhe. Dann kam die Straße mit mehreren Prellsteinen: er schleppte sich von Prellstein zu Prellstein fort. So sind wir allmählich nach Hause gelangt. Eine halbe Stunde später erfuhr ich, dass meinen Bruder eine schwere Krankheit befallen habe.
Die Mutter weinte und stellte sich den denkbar schlimmsten Ausgang vor. Der Vater war ernst: man müsse sich auf alles gefasst machen, nur Gott könne wissen, ob wir Carl behalten würden oder nicht. Aber dennoch: er hoffe zu Gott.
Ich erlebte nun eine Reihe sorgenvoller Tage und auch Nächte mit, da ich zuweilen von meiner Schwester Johanna, als gelte es, von meinem Bruder Abschied zu nehmen, geweckt wurde oder auch von den Geräuschen erwachte, die, da eigentlich niemand im Hause schlief, die ganze Nacht nicht aufhörten. Mein Vater zog außer meinem Onkel, Doktor Straehler, noch einen älteren Arzt, Doktor Richter, ein ortsbekanntes Original, hinzu. Wenn mein Bruder die Krankheit – es handelte sich um eine Lungenentzündung – dann überstand, so retteten ihn, wie mein Vater wenigstens annahm, seine Ratschläge.
Tagelang verbrachte Carl im Zustand der Bewusstlosigkeit. Barbier Krause, ein zweiter Krause, zugleich Heilgehilfe, wie es damals üblich war, der seine Stube in einem kleinen Anbau schrägüber von der Schenkstube hatte, setzte Schröpfköpfe und operierte mit Blutegeln. Die Krankenstube betrat ich nicht.
Meine Schwester und meine Mutter müssen mich von dem, was dort geschah, unterrichtet haben. Der Kranke, von schrecklichen Fantasien geplagt, sah Reihen von Leichnamen, die unter dem Gasthof zur Krone bestattet waren. Als der brave Barbier ihm Schröpfköpfe setzte, rang er seine Hände zum Himmel, und indem er sich beklagte, in was für Hände er gefallen sei, gab er sich selbst die tragikomische Antwort: in Bierhände. Es kam die Krisis und damit der große und befreiende Augenblick, als plötzlich das Fieber gesunken war und Doktor Richter erklären konnte, die Gefahr sei nach Menschenermessen vorüber.
Es ist natürlich, dass meine Mutter mich unter Freudentränen in die Arme schloss. Aber auch mein Vater, von dem ich bis dahin ebensowenig glaubte, dass er lachen wie dass er weinen könne, nahm seine Brille ab und tupfte sich mit dem Tuche die Augen. Als man den Kranken, der mit seltsamer Klarheit seinen eigenen Zustand verfolgt hatte, von dem glücklichen Umschwung verständigte, ergriff ihn eine glückselige Erschütterung. Wir mussten alle zu ihm hineinkommen: »Vater, Vater, ich bin gerettet! Gerhart, denk doch, ich bin gerettet! Mutter, Mutter, ich bin gerettet! Hannchen, hörst du, ich bin gerettet!« wiederholte er, uns die Hände, so gut es gehen wollte, entgegenstreckend, in einem fort. Es hieß so viel: ich darf wieder bei euch bleiben.
Bei diesem Anlass, der mich wohl zum ersten Mal in ein andres als mein eignes Schicksal verwickelte, wurde mir deutlich, welche Fülle verborgener Liebe unter dem so gleichmäßig nüchternen Wesen eines Vaters, einer Mutter beschlossen liegen kann. Von diesen unsichtbaren Kräften und Verbundenheiten hatte ich bis dahin nichts gewusst. Fast befremdeten sie mich, als sie zutage traten, da sie scheinbar über mich hinweggingen, meinem Bruder und nicht mir galten. Und so wurde mir nicht ohne eine gelinde Bestürzung klar, dass mein Bruder nicht nur mein Bruder, sondern der Sohn meiner Eltern war und wie groß der Anteil werden konnte, den ich ihm von ihrer Liebe abtreten musste.
Dieses Ereignis muss in die Zeiten der Familienenge gefallen sein, wo dann das leere und doch wohl einigermaßen öde Haus den verdüsternden Rahmen bildete. Fieberfantasien des Knaben fanden so auch in uns Gesunden geeignetsten Boden für ihr Fortwuchern, so die von den in langer Reihe unter den Fundamenten des Gasthofs zur Preußischen Krone eingesargten Toten. Noch bis in die Tage der Rekonvaleszenz hinein wollte Carls Glaube an dieses Gesicht nicht nachlassen, sodass man allen Ernstes erwog, der Sache durch Grabungen nachzugehen.