Kitabı oku: «Der Politiker»
Geri Schnell
Der Politiker
70 Jahre deutsche Geschichte
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Der Politiker
Einleitung
Erster Schultag /1920
Im Amtshaus /1922
Inflation /1923
Die Währungsreform /1924
Die goldenen zwanziger Jahre /1925
Das Gymnasium /1925
Mutige Zeitgenossen /1927
Der schwarze Freitag /1929
Ein neues Jahrzehnt /1930
Hitler in Worms /1932
Gefährliche Strassen /1932
Die Universität /1933
Die Machtübernahme /1933
Die allgemeine Wehrpflicht /1935
Olympiade in Garmisch /1936
Probleme mit Gabi /1937
Wir sind die Grössten /1938
Panzertruppen /1939
Säbelrasseln /1939
Umschulung /1940
Der Luftkrieg /1940
Unternehmen Barbarossa /1941
Das Hospital /1941
Der Spezialauftrag /1941
Warschau /1942
Der Aufstand im Ghetto /1942
Partisanen /1942
Der Schneesturm /1943
Die Hütte im Sumpf /1943
Auf der Flucht /1944
Die Heimkehr /1945
Winter in Worms /1945
Der Sohn Hans /1946
Die Rheinbrücke /1949
Die fünfzig Jahre /1950
Das Hochwasser /1955
Landtagswahl /1955
Joshua /1955
Der kalte Krieg /1956
Heikle Geschäfte /1959
Olympiade in Rom /1960
AKW-Abklärungen /1961
Grossmutter macht Probleme /1961
Kuba und andere Krisen /1961
Neue Art für Ferien /1962
Abwasser /1964
Kältewelle /1965
Mallorca /1965
Wahlkampf für Bonn /1965
Wettstreit im Weltraum /1966
Die Beatles kommen /1966
Studentenunruhe /1967
Tschechoslowakei Krise /1968
Das Apollo-Projekt/1969
Afrika /1972
Drogen /1971
RAF-Terror /1972
Rückkehr von Ruth /1973
Berater von Kohl /1974
Baubewilligung fürs AKW /1975
Südfrankreich /1976
Entführung der Landshut /1977
Verheerende Unfälle /1978
Drama im Dschungel /1979
Chefin Ruth /1980
Demos gegen AKW /1981
Bundeskanzler Kohl /1982
Die Hochzeit von Ruth /1983
Hamburg/1984
Geburt des Enkels /1985
Challenger Katastrophe /1986
Tschernobyl /1986
Flugzeug in Moskau /1987
Gorbatschow /1988
Bad-Gastein/1989
Epilog
Impressum neobooks
Der Politiker
von
Geri Schnell
Einleitung
Frei erfundene Lebensgeschichte.
In der Geschichte spielen einige bekannte Persönlichkeiten eine Rolle. Ich habe mich bemüht, die Aussagen dieser Personen möglichst authentisch und neutral wiederzugeben. Manchmal konnte ich echte Zitate finden, doch meistens musste ich mich in diese Personen hineindenken und ihre Aussage selber kreieren. Solche Aussagen sind also nicht authentisch und sind in keiner Weise mit der Person in Verbindung zu bringen. Zudem liegen die geschilderten Ereignisse rund 30 Jahre zurück und beleidigende Aussagen wären verjährt.
Die Personen welche in dieser Geschichte erwähnt werden, können sich immerhin rühmen, dass Sie in der deutschen Geschichte eine Rolle spielten, sonst würden Sie nicht erwähnt!
Erster Schultag /1920
Der Reihe nach stehen die Erstklässler auf und erzählen Frau Kunz, wie sie heissen und was ihre Väter für einen Beruf ausüben. Im Jahre 1920 ist das nicht so einfach. Die meisten Kinder haben gar keinen Vater, bei einigen lebt nicht mal mehr die Mutter. Die Waisenkinder die hier zur Schule gehen, haben Glück, sie sind von einer Tante oder von den Grosseltern aufgenommen worden.
«Ich heisse Wilhelm Wolf», erklärt der Dreikäsehoch, «mein Vater ist Beamter.»
Die anderen Kinder wundern sich. Wilhelm hat einen Vater und der arbeitet sogar. Bald sind alle Kinder durch und die erste Schulstunde beginnt.
«Wie heisst die Stadt hier?»
«Worms!», schreien alle durcheinander.
«Richtig!»
Sie hat etwas Mühe, die erste Stunde zu gestalten. Es ist ihre erste Schulstunde. Die Stelle als Lehrerin hat sie nur bekommen, weil sich zu wenige Männer beworben haben. Schliesslich fand der Stadtrat, für Erstklässler könnte es auch mit einer Frau funktionieren. Ein bisschen Rechnen und Schreiben wird sie den Kleinen schon vermitteln können. Das mit der Disziplin müssen dann die Lehrer in den nächsten Klassen nachholen.
Die anwesenden Eltern machen Frau Kunz nervös, zudem muss sie sich all die Namen der Kinder merken. Es schickt sich nicht, wenn die Lehrerin die Kinder mit falschen Namen anspricht.
Mehr für die Eltern gedacht, erzählt sie, dass ihr Mann im Krieg geblieben ist. Verdun wie so viele andere auch. Dann erklärt sie noch die Hausordnung.
«Ich mag es gar nicht, wenn man zu spät zum Unterricht erscheint und wer dazwischen schwatzt, muss mit einer Strafe rechnen. Ihr Handgelenk sei gut im Schuss.»
Dabei wippt sie drohend mit dem Stock auf und ab. Was das zu bedeuten hat, werden die Kinder noch schnell genug erfahren. Mit den Gedanken ist sie jedoch bei Wilhelm, dem kleinen Bengel. Er passt ihr gar nicht, genauer, sein Vater gefällt ihr nicht. Sie verkraftet es einfach nicht, dass ihr Mann im Krieg geblieben ist und der Vater dieses Jungen ohne einen Kratzer davongekommen ist. Die Welt ist ungerecht. Sie gibt sich einen Ruck, sie muss die erste Schulstunde anständig zu Ende bringen. Das Schlimmste steht ihr noch bevor, sie muss dem Herrn Beamten noch die Hand reichen und ein paar Worte mit ihm wechseln.
Die Begrüssung der Familie Wolf ist für sie eine weitere Demütigung.
«Wir verlange, dass Sie unseren Sohn mit dem richtigen Namen ansprechen! Er heisst Wilhelm, wie der Kaiser, ich hoffe, sie halten sich daran.»
«Wie Sie wünschen, ob sich die anderen Kinder daran halten, kann ich nicht versprechen.»
«Das wäre aber ihre Aufgabe, an einer Schule sollte Zucht und Ordnung herrschen. Ich denke, mit ihrem Handgelenk werden sie das schon hinkriegen!»
Während dem Gespräch steht Frau Wolf in ihrem schlichten schwarzen Rock und mit Kopftuch ohne ein Wort zu sagen daneben. Es ist eindeutig, wer in der Familie das Sagen hat. Sie kennt die Frau vom sehen her. Sie ist oft in der Kirche anzutreffen. Vermutlich weiss der Priester mehr über Frau Wolf, als ihr Mann. In der Kirche ist die Frau Wolf nicht zu übersehen. Sie bekreuzigt sich während einer Messe sicher zehn Mal. Zudem betet sie mehrere Rosenkränze und geht regelmässig zur Beichte. Sie ist vermutlich religiöser als viele Ordensschwestern.
Mit einer Handbewegung entschuldigt sich Witwe Kunz bei den Wolfs: «Es sind noch andere Eltern da, welche sie verabschieden muss.»
Danach reicht sie zum Abschied beiden die Hand. Nach dem Händedruck bekreuzigt sich Frau Wolf und blickt zu Boden.
Wie zu erwarten war, werden die Kinder mehrheitlich von Frauen begleitet. Etwas peinlich war die Begrüssung von Rosas Vater. Er streckte ihr den linken Arm entgegen, denn den rechten hatte er im Krieg verloren.
Endlich ist die erste Schulstunde, inklusive eines ersten Kennenlernens der Eltern zu Ende. Noch einmal steht sie zum Abschluss vor der Klasse. Ein erbärmlicher Haufen verwahrloster Kinder. Die Zeiten sind schlecht, es fehlt an allem. Trotzdem haben es alle geschafft, ihren Kindern die obligatorische Schultüte zu schenken. In einigen Tüten sind nur Äpfel und ein paar Nüsse, dank dem Zeitungspapier, in das sie verpackt sind, wirken sie gross.
Erleichtert stellt sie fest, dass der Vater von Willi - Entschuldigung - Wilhelm, die Tüte nicht überfüllt hat. Zumindest hat er Anstand, denn als Steuerbeamter weiss der Mann genau, dass die meisten Stadtbewohner ums Überleben kämpfen und jeden Tag schauen müssen, wie sie ihre Kleinen satt kriegen.
Nach einigen Wochen hat sich der Schulbetrieb eingespielt. Der Wilhelm ist der strebsamste. Das macht es für Witwe Kunz einfacher. Schüler die aktiv mitmachen, sind für jeden Lehrer ein Gewinn. Natürlich nennen ihn die Schüler Willi ohne dass es bis jetzt von Seite des Beamten eine Beanstandung abgesetzt hätte. Anscheinend ist Willi keine Petze.
Für die meisten Schüler ist die Schule ein Platz um sich zu erholen. Sie hat sich rumgehöhrt, einige wohnen in stinkigen, feuchten Löchern, anders kann man die Behausungen nicht nennen. Mittlerweile hat sich auch eingespielt, dass Willi von seinen Eltern eine zu grosse Pausenration mitbekommt, die wird auf die weniger begüterten Schüler verteilt. Es ist erstaunlich, wie das unter den Kindern funktioniert ohne dass sie etwas damit zu tun hat.
So lässt sich das Schuljahr gut an. Witwe Kunz ist zufrieden. Was bei ihr nicht funktioniert ist das Privatleben. Es gibt einfach keine Männer, dabei zählte sie sich mit ihren fünfunddreissig Jahren nicht zu den Frauen, die mit Männer abgeschlossen haben. Nur in dieser Beziehung läuft in Worms nichts. Die wenigen Männer im richtigen Alter, sind alle kriegsversehrt oder wie Herr Wolf verheiratet. Sie hatte es versucht. Dass einem Mann ein Bein fehlt, darauf könnte sie sich noch einstellen, aber dass bei jedem lauten Geräusch, panikartige Schreikrämpfe auftreten, daran kann sie sich nicht gewöhnen.
Am Wochenende fährt sie deshalb nach Mannheim. Vielleicht gibt es in grösseren Städten noch Männer. Den Plan hat sie schon vor Monaten gefasst, doch bis heute hatte sie sich nicht getraut. Jetzt ist sie immerhin schon auf dem Bahnhof, um nach Mannheim zu fahren. Sie hat schon oft daran gedacht, ihren Plan umzusetzen, doch immer fand sie eine Ausrede. Einmal war ihr Zyklus ungünstig, sie hätte riskiert schwanger zu werden und darauf hat sie nun gar keine Lust, die Bälger in der Schule reichen ihr. Einig Male war das Wetter schlecht, da sie, wenn alles schief läuft, draussen übernachten muss, ist das nicht akzeptabel.
Als sie in Mannheim den Zug verlässt, schaut sie sich um. Sie ist beruhigt, kein bekanntes Gesicht aus Worms ist auszumachen. Die paar Leute welche in Worms zugestiegen sind, eilen schnell weiter, während sie sich Zeit lässt.
Sie hat sich gut vorbereitet, lange hat sie an einem Rock geschneidert, bis sie darin sehr sexy wirkt. In Worms dürfte sie damit nie auf die Strasse. Auf der Zugfahrt trägt sie darüber noch einen zweiten Rock, nun muss sie diesen nur noch ausziehen und in dem Korb stecken. Noch ist sie nicht sicher, ob sie sich getraut, doch, dann wäre das Geld für das Ticket, herausgeworfenes Geld und das kann sie sich als Lehrerin nicht leisten.
Für den Besuch in einer Kneipe ist es noch zu früh. Sie spaziert am Rhein entlang und hält Ausschau nach Schlafplätzen, falls der Abend nicht so laufen sollt, wie sie es erhofft. Unter einer Brücke könnte sie zur Not schlafen, aber es währe sehr ungemütlich. Den letzten Zug nach Worms wird sie auf jeden Fall verpassen.
Endlich wird es dunkel. Jetzt macht sie sich auf die Suche nach einer geeigneten Kneipe. Den alltagstauglichen Rock hat sie bereits ausgezogen, sie fühlt sich nackt und ist verunsichert. In der ersten Kneipe wird sie abgewiesen, alle Plätze sind reserviert.
«Fräulein, versuchen sie es in der Glocke!», gibt ihr der Kellner einen Hinweis. Zum Glück zeigt er ihr noch die Richtung an.
Nach der nächsten Strassenkreuzung sieht sie das Schild, respektive die goldene Glocke, welche über der Türe hängt.
Noch einmal schnellt ihr Puls in die Höhe. Am liebsten möchte sie umkehren, doch sie wagt es und tritt ein. Es herrscht bereits viel Betrieb. Es gibt ein lange Bar, an welcher die Leute stehen und miteinander reden und an der Wand einige Tische.
Sie stellt sich etwas abseits an, als ob sie etwas zum Trinken bestellen möchte, es aber nicht schafft, dem Barmann ihre Bestellung durchzugeben. Es ist ihr recht so, sie will gar kein Bier, schon gar nicht, wenn sie es selber bezahlen müsste.
Während dem Warten beobachtet sie die Männer. An einem Tisch fallen ihr vier dunkelhaarige Männer auf. Das sind sicher keine deutschen, das wäre der Idealfall, so kann sie kritischen Fragen ausweichen. Sie verschiebt sich an der Bar so, dass sie von den Männern gesehen werden muss. Es dauert noch unendlich lange, bis einer auf sie aufmerksam wird.
«Fräulein, darf ich sie an unseren Tisch einladen?», fragt er in holprigem Deutsch.
Sie spielt kurz die Überraschte, dann willigt sie ein. Ein Stuhl wird dazwischen geschoben. Jetzt wird ist etwas eng, den Männern gefällt’s.
«Wünschen Fräulein ein Glas Wein?»
«Gerne», sie ist froh, dass es kein Bier gibt, Wein ist natürlich vornehmer.
Langsam kommt Stimmung auf. Die vier Herren sind französische Beamte, welche die Lieferung der Reparationen überwachen. Sie fühlt sich wie eine Verräterin, doch im Lokal scheint es niemand zu stören. Die Herren fühlen sich hier wie zuhause. Von der Unterhaltung bekommt sie nicht viel mit, sie hatte in der Schule Lektionen in der französischen Sprache, doch wenn die Franzosen unter sich sprechen, kann sie nur erahnen, um was es geht.
Wenn sie auch nicht direkt mit ihr sprechen, so sind zumindest ihre Hände aktiv. Anfänglich berühren sich ihre Hände, später auch mal ihre Beine. Ihre Blicke sind auch mit ihrem Dekolleté beschäftigt. Durch ein leichtes Vorbeugen erleichtert sie, es den Männer, das zusehen, was sie wollen.
Nach dem dritten Glas Wein, wird sie auch schon mal herzlich umarmt, dabei wird auch ihr Busen gestreift. Ab und zu spielt sie eine Abwehrbewegung vor, aber immer nur so heftig, dass die Männer nicht am nächsten Versuch gehindert werden. Sie ist schon erregt, sowas hatte sie, seit ihr Mann in den Krieg gezogen ist, nicht mehr erlebt. Genau genommen, hat sie noch gar nie eine solche Erregung gespürt. Sie ist zu einem Abenteuer bereit, nur weiss sie nicht, welchem der vier Herren sie ihre Gunst schenken soll, aber das ist nicht wichtig, die Herren werden sich ihre Beute schon aufteilen.
Was das Bezahlen von Wein angeht, herrscht jetzt Gleichstand, jeder hat ihr ein Glas spendiert, entsprechen locker ist ihre Stimmung. Sie ist bereit und geniesst es, wenn eine Hand an ihrem Oberschenkel soweit hochfährt, dass es eigentlich gegen die gute Moral verstösst.
Langsam leert sich die Kneipe und auch die Franzosen rüsten zum Aufbruch. Wie selbstverständlich wird sie von zwei Männer in die Mitte genommen und ohne gross zu fragen, marschieren sie los.
Zwei Querstrassen weiter, bleiben sie vor einem Haus stehen. Einer steckt den Schlüssel ins Schlüsselloch und öffnet die Tür. Als ob es selbstverständlich ist, führen sie Lollo, wie die Franzosen sie inzwischen nennen, nach oben.
Auf was hat sie sich da eingelassen? Das ist ja noch viel schlimmer, als sie es sich ausgedacht hatte. Die Möglichkeit, dass sie heute wieder einmal ein Mann spüren kann, steigt gewaltig.
Die Überraschung wird noch grösser, als sie feststellt, dass sie nur ein sehr kleines Zimmer bewohnen, in dem vier Betten eng beieinander stehen. Das kann ja heiter werden. Die vier Gläser Wein und die lange Zeit der Enthaltsamkeit tun ihre Wirkung.
Irgendwann muss sie dann eingeschlafen sein. Als sie wieder aufwacht, ist es draussen schon hell. So langsam begreift sie, was hier los ist.
Irgendwie muss sie hier weg, nur wie? Sie gibt den Männern durch Zeichen zu verstehen, dass sie gehen muss. Mit einer herzlichen Umarmung verabschiedet sie sich von jedem, dann geht's hinaus auf die Strasse. Der Bahnhof ist nicht weit. Sie bemerkt, dass ihr Korb mit Köstlichkeiten gefüllt ist! Sie wuchtet ihn auf den Kopf und marschiert los.
Im Zug nach Worms schaut sie sich ihren Lohn nochmals an, das sind ja richtige Schätze. Dabei schämt sie sich und wäre am liebsten im Boden versunken. Sie lehnt sich im Sitz zurück. Das Zugsabteil ist leer. Nun kommen nochmals Schuldgefühle auf. Muss sie die Ereignisse der letzten Nacht dem Priester beichten? Sie könnte ja ein bisschen schummeln. Aber nein, besser gar nichts erwähnen. Das letzte Mal, als sie das heikle Thema der Wünsche einer Witfrau beichtete, verkaufte ihr der Priester eine dicke Kerze mit dem Hinweis, sie frühestens in einem Jahr anzuzünden. Die Kerze steht immer noch neben ihrem Bett.
Am nächsten Montag steht sie wieder vor ihrer Klasse. Sie ist wieder die Lehrerin. Sonntagabend hatte sie mit den Geschenken einen Kuchen für die Kinder gebacken, den sie in der Pause verteilt. Wenn die Kinder eine Ahnung hätten, wie sie zu den Zutaten gekommen ist, sie würden sich wundern und noch mehr ihre Eltern.
Mittlerweile kommt sie mit der Klasse gut zurecht. Die meisten können schon recht gut lesen. Willi macht sich gut, ihm gefällt es in der Schule besser als Zuhause. Sein Vater bevorzugt die strenge Erziehung. Eben wie zu Kaiserszeit. Ein deutscher Junge muss gehorchen. Disziplinen ist alles, dass der Spass auf der Streckte blieb, ist für den Vater unwichtig. Auch nachdem der Kaiser abgedankt hatte, ist er immer noch stolz, dass eine Cousine von ihnen, in die Kaiserfamilie eingeheiratet hatte. Doch eines hat Willi den anderen Kinder voraus, bei ihm Zuhause gibt es immer genug zu essen. Dafür ist die Tischzeremonie eher mit einer Kaserne zu vergleichen, als mit einem Familientreffen.
Das erste Schuljahr geht zu Ende. Frau Kunz oder besser gesagt, Witwe Kunz, ihr in Worms üblicher Name, muss den Kindern Noten in die Zeugnisse schreiben. Etwas das sie gar nicht gerne machte, aber es muss sein. Seit ihrem Mannheimer Abenteuer ist sie ruhiger geworden. Ihre Schuldgefühle hat sie verdrängt. Anfänglich hatte sie Probleme mit der Feststellung, dass die Franzosen sie benutzt haben. Mittlerweile ist sie zur Überzeugung gelangt, dass sie die Männer benutzt hatte! Das macht es ihr wesentlich leichter, das Geschehene zu verarbeiten. Die Nacht in Mannheim ist aus dem Gedächtnis verschwunden.
Mit der Übergabe der Zeugnisse ist auch ein Gespräch mit den Eltern verbunden. Nervös erwartet sie Willis Vater. Hoffentlich vergisst sie nicht seinen Sohn Wilhelm zu nennen, obwohl er in der Klasse nur der Willi ist. Sie ist sicher, dass sein Vater davon noch nichts weiss. Da Wilhelm ausschliesslich gute Noten bekommt, ist sein Vater sehr stolz und als Folge davon, auch mit der Lehrerin zufrieden.
«Ich hoffe doch», meint er zum Abschluss des Gesprächs, «dass sie weiterhin sehr streng sind! Manchmal habe ich den Eindruck, dass er hier ein Herrenleben geniesst. Also nicht nachlassen und das Handgelenk entsprechend einsetzten.»
«Machen Sie sich keine Sorgen», sagt sie und reicht ihm die Hand zum Abschied, «die Kinder wissen genau, wo die Grenzen liegen und das nächste Jahr wird noch strenger.»
Der nächste Vater, welcher das Zeugnis besprechen muss, macht ihr mehr Sorgen. Der Vater von Joshua, er ist Uhrenmacher. Vor vier Monaten ist sein Frau bei der Geburt des zweiten Kindes samt Kind gestorben. Die Frau ist ihr am ersten Schultag aufgefallen, weil sie schwanger war. Den Mann hatte sie damals nicht gesehen. Natürlich war sie an der Beerdigung der Mutter und dem Kind von Joshua, hielt sich aber im Hintergrund. Sie hatte dem Mann kondoliert. Er war gebrochen. Keine Ausstrahlung und hatte keine Lebenskraft mehr.
Nun wird sie ihn erneut treffen. Das Zeugnis gibt keine Probleme. Joshua ist ein guter Schüler. Trotzdem wühlt sie das Treffen innerlich auf. Immerhin ist es ein Mann und soweit sie ihn in Erinnerung hat, war er nicht vom Krieg gezeichnet. Es klopft an der Tür, das muss er sein.
«Grüsse Gott Witwe Kunz», grüsst er und steckt ihr seine feingliedrige Hand entgegen, «ich bin Joshuas Vater.»
«Grüsse Gott Herr Goldberg, setzen sie sich. Die Bänke sind für uns Erwachsene etwas klein, aber die sind ja für die Kinder gedacht», entschuldigt sie sich.
Herr Goldberg ist eine stattliche Erscheinung, ihr fallen sofort seine dunklen Augen auf, welche sie freundlich mustern.
«Ich möchte mich noch bedanken», beginnt Herr Goldberg das Gespräch, «bedanken dafür, dass sie an der Beerdigung meiner Frau waren. Sie blieben im Hintergrund, das ist auch angepasst. Trotzdem ich habe es bemerkt! – Danke!»
«Das war doch selbstverständlich», erklärt Witwe Kunz, «wie kommen sie zurecht?»
«Es geht so, meine Schwester hat für Joshua die Mutterrolle übernommen, so geht es einigermassen. Ich kann auch viele Uhren nachts reparieren, dann schläft der Kleine.»
«Das ist natürlich ein Vorteil, wenn man einen eigenen Laden führt», meint sie und ist froh dass das Gespräch lockerer wird.
Schliesslich kommen sie auf das eigentliche Thema, nämlich Joshua zu sprechen. Da gibt es mehrheitlich positive Dinge zu erwähnen.
«Gut er ist noch etwas schüchtern, doch das ist kein Nachteil.»
Das Gespräch verläuft eigentlich, wie mit den anderen Jungs und doch sie sitzt sehr unruhig auf ihrem Stuhl. Sie hat nicht mehr oft Gelegenheit mit einem Mann allein zu reden und das macht sie nervös. Manchmal ist ihre Hand nur Millimeter von seiner entfernt. Eine ungeschickte Bewegung und sie könnten sich berühren. Doch beide vermeiden diese Geste.
Nach dem alle Themen durch sind, verabschiedet sich Herr Goldberg mit einem Händedruck, aber diese Berührung ist nicht dasselbe, wie wenn man sich zufällig gestreift hätte. Nun ist es zu spät, das schöne Gefühl, sich mit einem Mann allein zu unterhalten ist vorbei. Noch warten zwei Mütter zum Gespräch über ihre Töchter, dann ist sie fertig.
Nachts im Bett hat sie Mühe einzuschlafen. Schliesslich streicht sie Herr Goldberg endgültig aus dem Gedächtnis, er hat kein Interesse. Für ihn wäre es ein leichtes gewesen, die Hand leicht zu verschieben, doch er hat es nicht getan. Das Leben in Deutschland ist so schon hart genug. Alles wird teurer. Natürlich ist auch ihr Gehalt gestiegen, doch die Lohnerhöhung kommt immer zu spät, unter dem Strich bleibt immer weniger.