Kitabı oku: «Stadt, Land, Klima», sayfa 2

Yazı tipi:

Von Stadt zu Stadt

Wir nennen unsere Wohnung den Great Room. Für einen einzelnen Raum sind die Ausmaße beachtlich: Die Decke ist bis zu vier Meter hoch. Das Klavier ist elektronisch, die Kaffeemühle für die Zubereitung des Morgenkaffees, während die Kinder noch schlafen, funktioniert manuell. Meine Arbeit an diesem Buch (und jede andere konzentrierte Tätigkeit) verdanke ich den Audioingenieuren der Firma Sennheiser, deren geräuschreduzierende Kopfhörer ich zwei Straßen weiter gekauft habe.

Ansonsten ist hier alles „gleich um die Ecke“. Das Lebensmittelgeschäft: zwei Straßen in die eine Richtung. Das Schwimmbad: am Weg zum Lebensmittelgeschäft. Die öffentliche Bücherei: zwei Straßen in die andere Richtung, am Weg zu unserem Lieblingsbuchladen, der sich eine Straße weiter befindet. Ich sitze am Schreibtisch – dem einzigen Schreibtisch in unserer Wohnung, versteht sich – und kann aus dem Fenster gleichzeitig auf das katholische Eventzentrum von New York und auf die örtliche Abtreibungsklinik blicken: Die beiden teilen sich eine Außenwand. Über Effizienz und Diversität im Abstrakten zu referieren, ist das eine. Beide täglich zu leben, ist noch mal etwas ganz anderes.

Jede Stadt hat ihre Besonderheiten. New York ist in manchen Bereichen sicher einzigartig. Dennoch gilt: Stadt ist Stadt. New York hat etwa mit Berlin viel mehr gemeinsam als mit einer geografisch viel näher gelegenen Gemeinde oder Kleinstadt im ländlichen Bundesstaat New York. Dasselbe gilt für Berlin und Wien, verglichen mit jeder kleinen Gemeinde in Brandenburg oder im Burgenland. Stadt ist Stadt – fast egal, wo auf der Welt: Städte gleichen sich auf entscheidende Weise. Die jeweiligen ländlichen Regionen, die sie umgeben, tun es ebenso. Warum das so ist – und warum das für das Klima von enormer Bedeutung ist –, darum geht es in diesem Buch.


Ich kann mich noch gut an ein Gespräch mit meinem Opa erinnern, damals, im Garten in Amstetten. Es war den ganzen Tag über schon nebelig gewesen: Tiefdruck. In Peking, Delhi, Lagos, Mexiko-Stadt oder Los Angeles steigen die Ozonwerte bei solchen Wetterbedingungen in gefährliche Bereiche – Großstädte und ihre Verschmutzung.8 Plötzlich stank es auch hier. Nicht etwa nach Rauch und Ruß von der Heizung des Nachbarn. Viel stärker. Meine Augen begannen zu tränen.

„Oh ja, das ist die Vöest“, sagte Opa. Er meinte damit Österreichs größtes Stahlwerk, fünfzig Kilometer weiter westlich, im oberösterreichischen Linz, gelegen: „Die Vöest putzt ihre Hochöfen.“ Ob es wirklich die Vöest war oder vielleicht auch eine der vielen anderen Fabriken, die es in und rund um Amstetten – am „Land“ – gab, weiß ich zwar bis heute nicht. So viel aber zum oft geäußerten Vorurteil, dass nur Großstädte schmutzig, umwelt- und gesundheitsschädlich seien.

Andererseits kann ich mich auch noch gut an einen der vielen Sonntagsbesuche erinnern: Diesmal waren Cousins meines Vaters, die ihren eigenen Bauernhof bewirtschafteten, bei uns zu Gast. Plötzlich erstarrte der Großcousin, hielt ein paar Sekunden inne und sagte nur: „Bei euch in der Stadt ist es so ruhig. Bei uns am Land fährt immer irgendwo ein Auto vorbei.“

Stadt und Land sind eben auch relativ. Neben räumlicher Dichte und technischer Effizienz geht es vor allem um eines: die Lebenseinstellung.

Vor ein paar Jahren, als ich aus den Vereinigten Staaten wieder einmal auf Kurzbesuch zu meinen Eltern nach Österreich kam, habe ich zum ersten Mal in Amstetten ein Brompton-Faltrad gesichtet, am dortigen Bahnhof. Damals war ich selbst mit einem solchen Faltrad einmal wöchentlich zwischen Cambridge und New York unterwegs: mit dem Rad zur Bahn, nach der Zugfahrt wieder weiter per Rad. Von Stadt zu Stadt.

Für die Besitzerin dieses Faltrades ging die Fahrt von Amstetten nach Wien, zur Arbeit. Den Morgencappuccino hatte sie dabei, Laptop und geräuschreduzierende Kopfhörer ebenso. Ihre beiden kurzen Telefongespräche im Zug führte sie auf Deutsch und Englisch. Diese pendelnde Faltradfahrerin, Mitte dreißig, hätte leicht auch ich selbst sein können. Ich wusste nichts über ihre Wohnverhältnisse – ob Haus oder Wohnung, ob 48 oder 78 Quadratmeter oder doch mehr, und ob sie sich diese Quadratmeter mit jemandem teilte, mit Kindern, mit ihren Eltern oder sonst jemandem. Ich hatte keine Ahnung, ob sie mit den 70 Quadratmetern von meiner Familie und mir tauschen würde und ob sie vielleicht doch lieber direkt in Wien, in der Nähe des Arbeitsplatzes, leben würde – keine Ahnung also, ob sich die äußeren Symbole auch mit der Einstellung dieser Person deckten. Mein Stadtmensch-Radar schlug jedenfalls an.

Stadtmenschen finden sich überall und in den verschiedensten Situationen. Die Einstellung ist etwas Persönliches. Und sie ist flexibel – sie hängt von vielen externen Faktoren ab.

Menschen, die in Städten leben und arbeiten, gibt es viele, wie auch die Daten zur globalen Urbanisierung bestätigen. Doch wie viele davon sind Stadtmenschen? Die Frage nach dem Warum ist dabei oft entscheidend.


Teil I
WARUM

Von Stelzenhäusern und Passivhausluftschlössern, der wunderbaren Welt der Klimabuchhaltung und unserem Natursch(m)utz

1 Klima
Omas Stelzenhaus

Der Stadtteil SoHo in New York – der Bezirk Soho in London: Die Namen der beiden Viertel mögen verschiedene Ursprünge haben. Doch ähnlicher könnten sich zwei großstädtische Nachbarschaften auf zwei verschiedenen Kontinenten kaum sein. Hier wie dort finden sich zahlreiche Theater, Restaurants, Kopfsteinpflaster. Es sind die urbanen Spielplätze der Reichen und Schönen und jener, die es noch werden wollen. Egal ob Berlin, Barcelona oder Basel: Jede größere Stadt hat eine solche Spielwiese.

Bengaluru, die Zehn-Millionen-Stadt im Süden Indiens, hat sie, Bangkok in Thailand ebenso. In Bangkok findet man sie mitunter entlang der Sukhumvit-Straße. Dort schwebt eine effiziente Einschienenbahn über den Verkehr hinweg. Es gibt Cafés, Millionen-Dollar-Wohnungen, Theater und Restaurants – Stadtleben eben: global, urban, teuer. Bangkoker Jungfamilien sind dort inzwischen rar: Die Aufstiegsorientierten, die gute Jobs, genug Geld und damit auch die Wahl haben, zieht es mittlerweile in die unzähligen auf dem Reißbrett entworfenen Suburbs.

Und dann gibt es noch die ländlichen Gegenden Thailands. Dort zieht es kaum jemanden hin – außer vielleicht nach dem Erwerbsleben, in der Pension. Vier Stunden nordöstlich von Bangkok liegt Phimai. Manche Rucksacktouristen kommen hier vorbei, um die historischen Ruinen zu erkunden. Diese sind zwar nicht so bedeutend wie die Tempelanlage Angkor Wat im benachbarten Kambodscha, aber ein Wat, ein buddhistischer Tempel, sind sie allemal.

Fünf Gehminuten vom historischen Tempel entfernt wohnt meine Oma. Also die andere Oma, jene meiner Frau Siri. Wir nennen sie (Yai). Sie ist alt und der Ort klein genug, dass sie in der unmittelbaren Umgebung noch unter ihrem Mädchennamen bekannt ist: Yu Phimai – „die in Phimai Ansässige“. Vor achtzig Jahren war sie die lokale Schönheitskönigin; mittlerweile ist sie über hundert Jahre alt. Lesen und Schreiben lernte sie nie – Schule hätte nur von der Arbeit am Reisfeld abgelenkt. Das Foto von der Abschlusszeremonie ihrer Enkelin Siri an der Harvard University hängt in ihrem eigenen Great Room.

Omas Haus ist alt genug, dass es auf Stelzen steht – mit einem Kanu, das an den Stiegen angebunden auf seinen Einsatz wartet. Das darunterliegende Land wird seit jeher einmal jährlich überflutet. Die Oma kann nur herzlich über die Nachbarhäuser lachen, deren Erdgeschosse jährlich unter Wasser stehen: Warum sollte man sich so ein Haus bauen? Warum nicht mit der Natur, mit dem Klima leben?

Die Fluten sind in den letzten Jahren unberechenbarer, gefährlicher geworden. Und heißer ist es mittlerweile auch. Heiß war es in Thailand schon immer. Aber früher reichte meist die allabendliche Brise zur Abkühlung. Mittlerweile verfügt Omas Haus sowohl über einen Kühlschrank als auch über eine vom Arzt verordnete Klimaanlage.


Natur und Klima bedeuten in der Stadt etwas gänzlich anderes als am Land. Einerseits ist das Leben in der Stadt von den täglichen Launen der Natur deutlich stärker abgeschirmt: Zwei der Dachfenster unserer Wohnung in New York öffnen sich automatisch, wenn der CO2-Gehalt im Innenraum zu hoch steigt. Sie schließen sich automatisch, wenn es zu regnen beginnt. Bei hohem CO2-Gehalt drinnen und Regen draußen vibriert das Handy: „Fenster öffnen.“

Andererseits sind durch den Klimawandel ganze Städte in existenzieller Gefahr. Die jährliche Flut im ländlichen Phimai ist eine Sache – die Vororte der Millionenmetropole Bangkok befinden sich da schon in einer gänzlich anderen Lage. Dort hat zwar selbstverständlich jedes Haus eine Klimaanlage; eine Garage fürs Auto ohnehin. Auf Stelzen baut dort jedoch niemand. Eine Überflutung in Teilen Bangkoks legt wiederum die thailändische Wirtschaft und wichtige Teile der globalen Autozulieferkette und somit die Produktion von Benzinfressern am anderen Ende der Welt lahm. (Klimaschutzironie ist eine ganz eigene Kunstform.)

Rapide ansteigende Meeresspiegel bedeuten für viele Küstenstädte auf der ganzen Erde nichts Gutes. Ein paar einzelne Häuser umzusiedeln, ist schon schwer genug. Doch Städte wie Bangkok oder auch New York auf höherem Niveau wiederaufzubauen, wäre noch mal ein gänzlich anderes Vorhaben. Natürlich wäre New York – oder noch viel dringender etwa Bangkok, Manila oder Miami – nicht die erste Stadt, die die Menschheit aufgrund von Klimawandel aufgeben müsste. Uruk etwa, im heutigen Irak gelegen, hatte vor ungefähr 5000 Jahren über 40.000 Bewohner und war damit die größte Stadt der Welt. Heute ist sie eine archäologische Ausgrabungsstätte in der Wüste.9 Die Launen von Natur und Mensch sorgten dafür.

Ein großer Unterschied zur heutigen Situation ist freilich der Faktor Zeit: Der Fall von Uruk zog sich über 3000 Jahre hinweg. Viele Teile Bangkoks, Manilas oder Miamis haben hingegen keine hundert Jahre mehr.10 Der zweite große Unterschied: Eigentlich wissen wir all das schon jetzt. Ungewissheiten gibt es zwar genug, doch selbst die optimistischsten Prognosen sind schlimm genug.

Dabei geht es mittlerweile nicht mehr „nur“ um Prognosen. New York etwa gehört seit Kurzem nicht mehr zur Kontinentalklimazone, sondern zur humiden subtropischen. Das bedeutet: wärmere Winter, heißere Sommer – mit sintflutartigen nachmittäglichen Wolkenbrüchen.11 Sowohl Hitzetage als auch Tropennächte nehmen auch in Berlin von Jahr zu Jahr zu. Es ist abzusehen, dass das, was wir heute als „Mittelmeerklima“ bezeichnen, künftig in Norddeutschland Normalität sein wird. Dabei ist am Klimawandel eigentlich nichts „normal“.

Trotzdem wird mehr und mehr gebaut, überall – meist ohne Stelzen. Banken und Versicherungsgesellschaften beziehen Prognosen hinsichtlich der steigenden Meeresspiegel und immer stärkeren Überflutungen inzwischen zusehends in ihre Entscheidungen ein. Ein Baukredit mit dreißig Jahren Laufzeit bedeutet, dass der Bank noch bis Mitte des Jahrhunderts Teile des Hauses gehören werden. Banken und Versicherungen werden als eine der Ersten zu spüren bekommen, wenn die hundertjährige Überschwemmung alle paar Jahre auftritt. Versicherungsprämien schnellen entsprechend in die Höhe – oder die Versicherungspolice wird in gewissen Gegenden einfach gar nicht mehr angeboten.

Dennoch subventioniert staatliche Politik solche Bauten an gefährdeten Standorten oft immer noch. Das gilt für Überflutungszonen von Donau und Elbe ebenso wie für Küstenstädte von Bangkok bis Miami und New York.

Klimamoral

Wo sollen wir leben? Und wie? Und warum genau dort?

Der Klimawandel betrifft alle und alles, und er sorgt dafür, dass jeder noch so „unberührte“ Teil der Welt alles andere als unberührt bleibt. Der Autor und Umweltaktivist Bill McKibben rief bereits 1989 das „Ende der Natur“ („The End of Nature“) aus.12 Getrennt vom Menschen existierende Natur – an die sich der Mensch ungefragt anpasst, indem er sich ihr etwa im Stelzenhaus geradezu unterwirft – gibt es schon lange nicht mehr. Natur wird reguliert, kontrolliert, an den Menschen angepasst. Die Natur gänzlich den städtischen Betonwüsten unterzuordnen, ist der größte Einschnitt überhaupt.

Die einzige moralisch richtige Konsequenz also: am Land leben? Vielleicht. Am Land – und vom Land – zu leben, mag moralisch richtig sein. Allerdings tun das die wenigsten. Das mag auch vollkommen in Ordnung sein – Moral war noch nie ein Massenphänomen. Reine Theorie sollte die Moral natürlich auch nicht bleiben. Es geht hier nicht um den ambitionierten Asketen, der seine Tage am liebsten im Kloster verbringt. Es geht um Familie. Es geht um Alltag, um Arbeit, um Leben. Dabei ist klar, dass die wenigsten am Land auch vom Land leben. (Jene, die an den abgelegensten Orten wohnen, verlassen sich allzu oft auf die modernsten Technologien. Wenn das Telefonnetzwerk nicht reicht, braucht man schließlich das eigene Satellitentelefon.)

Doch auch die Stadt besteht den Klimamoraltest: Das Leben ist kompakt. Die Wohnungen und Büros sind verhältnismäßig klein. Die meisten Produkte und Waren werden zwar importiert – vom umliegenden Land oder von noch weiter her –, dafür spielt sich das tägliche Leben oft im 15-Minuten-Radius ab. Rad, Bahn, Bus und Fußwege dominieren die Mobilität, Autos gibt es weniger, im Privatleben oft gar keine.

Damit sind bereits wichtige Faktoren angedeutet: die Größe der Wohnfläche etwa, und wie effizient es jeweils ist, die städtischen 70 Quadratmeter verglichen mit den ländlichen 140 im Sommer zu kühlen und im Winter zu heizen. Alltagsmobilität und -konsum sind ebenso wichtig: Wer produziert und konsumiert was wie – und warum? Steigt der Konsum, weil es das Leben da wie dort verlangt? (Schließlich kommt man am Land nicht ohne Auto aus.) Oder ist dies vor allem mit gesellschaftlichen Normen und Erwartungen verbunden? (Vielleicht gäbe es einen besseren Weg, aber „das macht man eben hier so“: es „war immer schon so“.) Welche dieser Faktoren den entscheidenden Unterschied machen, werden wir in diesem Buch schrittweise eruieren.

So viel schon jetzt: Wenn ich „Stadt“ sage, dann meine ich es so: die Stadt. Nicht Suburbs, wo – ganz egal ob in Nordamerika, Europa oder anderswo auf der Welt – die wahren Klimasünder wohnen, mit großen Häusern, großen Autos, doppelt so viel CO2-Ausstoß wie überall anders.13

Suburbs sind also schlecht, Stadt und Land gut – Ende des Kapitels?

Nicht ganz. Denn zunächst wirft diese Diagnose mehr Fragen auf, als sie beantwortet: Suburbia als Klimasünder abzutun, ist das eine – aber was bedeutet es in Sachen Klimapolitik? Was kann ich persönlich beitragen, um die Situation zu verbessern? Was soll ich tun? Und die entscheidende Frage: Welche Faktoren machen den Unterschied?

Klimabuchhaltung

All diese Fragen führen uns in die wundervolle Welt der Klimabuchhaltung. Meine Einführung in dieses Feld erhielt ich 1998, als 18-Jähriger, in meiner allerersten Woche an der Uni.

Manche Professorinnen und Professoren arbeiten allein: ein Block Papier, ein scharf gespitzter Bleistift, ein Computer, ein paar Ideen, die es zu verfeinern gilt. Theorie. Andere wiederum arbeiten am liebsten im Labor. Ideen sind auch dort die Grundlage – aber am Ende geht es darum, sie umzusetzen. Weiße Mäntel, Pipetten und mysteriöse Flüssigkeiten gibt es in den Labors der Ökonomen kaum. Für uns bedeutet Labor zumeist: eine große Gruppe an Studentinnen und Studenten, die an Datensätzen tüfteln. Je mehr Gehirnzellen und Schweißperlen sich rund um einen Datensatz versammeln, desto größer ist die Chance, dass am Ende etwas Revolutionäres herauskommt.

Auch Dale Jorgenson hatte so ein Labor. Der 1933 geborene Wirtschaftswissenschaftler hatte es schon seit Jahrzehnten betrieben, wie unter anderem die Türme von Magnetstreifen bewiesen, die neben meinem Schreibtisch aufgestapelt waren. In unserem Büro wurde gemunkelt, dass auf einem dieser Magnetstreifen der Prototyp für das Konzept des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts gespeichert war. Einer meiner zahlreichen Vorgänger im Labor hatte die ehrenvolle Aufgabe erhalten, alle Daten von diesen Magnetstreifen auf Disketten zu übertragen.

Jorgenson selbst hatte einst für Wassily Leontief gearbeitet. Dieser hatte 1973 für seine Input-Output-Analysen, welche ein wichtiger Bestandteil der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung sind, den Nobelpreis erhalten. Jorgenson ist viel mehr als „nur“ ein Buchhalter, doch Zahlen und Fakten sind sein Leben. Er ist politisch konservativ, aber nimmt dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – den Klimawandel seit jeher äußerst ernst. Seine Aufgabe für mich lautete: Bäume zählen.

Die amerikanische Akademie der Wissenschaften arbeitete damals an einer Studie zum Thema „Nature’s Numbers“ („Die Zahlen der Natur“).14 Der Anhang dieser Studie schlug vor, die Theorie anhand des denkbar einfachsten Beispiels in die Praxis umzusetzen, nämlich: die Baumbestände der Vereinigten Staaten in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung miteinzubeziehen.

Ich ging das Thema im Sommer 1999 an und ließ es erst 2002 wieder los, als ich meine Diplomarbeit abgab.15 Der unterhaltsamste Teil meiner Arbeit dazu war, fünfzig bundesstaatliche Forstverwaltungen anzuschreiben, deren oft noch per Schreibmaschine verfasste Berichte der letzten Jahrzehnte zu sammeln – und dann alle Werte in den Computer einzutippen. (Ja, meine College-Erfahrung war äußerst typisch: Meine Freundin Siri, mit der ich seit 2002 verheiratet bin, gab mir als allererstes Weihnachtsgeschenk ein 200-seitiges Kompendium der Vereinten Nationen zum Thema „Integrierte Umwelt- und volkswirtschaftliche Gesamtrechnung“.16)

Eine der Erkenntnisse meiner Diplomarbeit lautete: In Amerika wuchsen die Baumbestände in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Jahr für Jahr nach. Die Gründe dafür: Einerseits zogen mehr und mehr Amerikaner in die Städte, andererseits verlagerte sich die Landwirtschaft von kleinen Höfen im Nordosten des Landes auf riesige Betriebe im Mittleren Westen. Das führte zu massiver Aufforstung, vor allem im Nordosten des Landes.17

Doch meine noch wichtigere, viel grundlegendere Einsicht war: Nur das, was man beziffern kann, zählt auch. Dabei sind sowohl die praktischen Details – die Buchhaltung – als auch die graue Theorie entscheidend.


Ich bezifferte damals den Wert aller amerikanischen Bäume auf rund 100 Milliarden US-Dollar; in heutigen Dollar wäre das etwa doppelt so viel. Damit hatte ich aber ausschließlich den Wert des Holzes selbst berechnet.

Bäume haben freilich einen immanenten Wert, der weit über den rein kommerziellen Messwert des Holzes hinausgeht. Ein einziger Baum, auf den ich von meinem Fenster aus blicken kann, macht unsere Stadtwohnung deutlich lebenswerter: Das Haus wird dadurch insgesamt schöner, das Straßenbild angenehmer. Entsprechend positiv wirkt sich der Baum auf den Marktwert unserer Wohnung aus. Trotzdem wird diese Wertschöpfung in unseren offiziellen volkswirtschaftlichen Statistiken nicht dem Baum zugeschrieben.

Dann gibt es auch unzählige ökologische Funktionen von Bäumen, die meine rudimentären Berechnungen nicht miteinbezogen haben. Deren Wert lässt sich nur schwer beziffern: Ein Jahr vor meinem ersten Treffen mit Professor Jorgenson war eine prominente Studie in der Fachzeitschrift Nature erschienen, die den Wert aller weltweiten „Serviceleistungen“, die natürliche Ökosysteme für die Erde erbringen, auf durchschnittlich 33 Billionen (!) Dollar im Jahr bezifferte.18 Dieser Wert war beinahe doppelt so hoch wie das damalige globale jährliche Wirtschaftsaufkommen von 18 Billionen Dollar. (Beide wären auch in heutigen Dollar etwa doppelt so hoch.)

Die zentrale Botschaft dabei war: Natur ist wertvoll. Das ist sie – doch die Nature-Studie wurde von vielen Seiten zurecht herb kritisiert. Denn am Ende sind diese 33 Billionen Dollar immer noch eine äußerst grobe Unterschätzung der Unendlichkeit: Die Menschheit würde ganz ohne Bäume nicht überleben können. Der allerletzte Baum müsste demnach unendlich viel wert sein. Und was für den allerletzten Baum gilt, das gilt gleichermaßen für den letzten Tropfen sauberen Wassers, den letzten Grashalm, die letzte Biene.

Diese Logik mag makaber erscheinen, aber sie bringt das Wesentliche auf den Punkt: Bei der Ermittlung solcher Werte kann es nicht um den Gesamtwert gehen. Die wirkliche Frage ist jene nach dem marginalen Wert, also: Wie viel ist der erste gefällte Baum wert, nicht der letzte?

Im Rahmen meiner Diplomarbeit war es gerade noch in Ordnung, den Wert aller Bäume in einem einzelnen Land – selbst einem so großen wie den Vereinigten Staaten – zu berechnen. Doch den Wert aller Bäume weltweit zu berechnen, wäre absurd. Wir kennen ihn bereits: unendlich.

Dieselbe Logik deutet auch auf den entscheidenden Unterschied zwischen dem ersten Schritt in eine gewisse Richtung und dem durchschnittlichen Schritt hin: Wenn der allerletzte Baum unendlich viel wert ist, dann ist es streng genommen der durchschnittliche ebenso. Denn unendlich dividiert durch jede noch so große Zahl ist immer noch: unendlich. Die wichtigste Frage lautet daher: Wie viel ist der nächste Baum wert; der erste, der gefällt wird?

Von dieser Schlussfolgerung erzählte mir Professor Jorgenson im September 1998 in seinem Büro freilich nichts. Er verwies mich nur auf die Nature-Studie – und ließ mich Kritik und Logik alleine herausfinden. Ein guter Lehrer eben. Die gleichen Einsichten, die ich damals machen durfte, sind auch für uns hier unumgänglich.

₺679,10