Kitabı oku: «Kleinstadt-Hyänen»
Gesa Walkhoff
Kleinstadt-Hyänen
Zickenalarm in Gifhorn
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Julia
Das Wiedersehen
Daniela
Miriam
Nephele
Thekla
Vorbereitungen
Unter Druck
Spielchen
Entdeckungen
Lügen
Eifersucht
Explosionen
Vertuschung
Prüfungen
Entscheidungen
Showdown
Epilog
Impressum neobooks
Julia
Für Bahni, Rienelt, Anike, Mareile und Sven.
Keine Ahnung, wie ich das ohne euch hätte schaffen können.
„Hrrrgrrrrmpf!“
Julia presst ihre Zähne so fest aufeinander, dass ihre Kiefermuskulatur weiß hervortritt. Mit einem scharfen Laut zieht sie die Luft durch ihre Nase ein und stößt sie in einem heftigen Schwall durch den Mund wieder aus. Sie schließt ihre Augen und versucht, sich zu beruhigen. Als sie sie wieder öffnet, merkt sie, dass sie den Hörer noch immer mit eisernem Griff umklammert hält. Mit angewidertem Blick, als sei er zuvor in eine Jauchegrube gefallen, wirft sie ihn zurück auf die Gabel des Telefons, das auf ihrem Schreibtisch im Gifhorner Rathaus steht.
„Dieser jämmerliche Darmausgang wird mich kennenlernen! Den hänge ich an seinen Klöten am Glockenturm der Nicolai-Kirche auf. Das schwöre ich beim Leben meiner Mutter!“
Noch einmal schließt Julia die Augen und saugt Luft durch ihre Nasenlöcher ein. Sie stützt ihre Ellbogen auf der Schreibtischunterlage auf, faltet ihre Hände wie zu einem Gebet und lässt ihre Stirn auf ihre Fingerspitzen sinken. So verweilt sie reglos, wie in tiefe innere Einkehr versunken. Plötzlich, als sei mit einem Mal alles Leben aus ihr gewichen, sackt sie in sich zusammen und lässt sich rücklinks gegen die Lehne ihres voluminösen Schreibtischsessels fallen. Ihr Blick ist starr geradeaus ins Leere gerichtet. Nachdem sie weitere Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit erscheinen, reglos in dieser Position verharrt hat, hebt sich ihr Brustkorb und senkt sich wieder, wobei sie einen tiefen Seufzer ausstößt. Langsam, als sei jede ihrer Bewegungen mit einer immensen Kraftanstrengung verbunden, beugt sich Julia vor und langt nach ihrem privaten Mobiltelefon, das auf der echtledernen Schreibtischunterlage liegt. Sie tippt eine Nummer ein, hält das Gerät ans Ohr und wartet.
„Ahrens“, meldet sich eine schneidige Frauenstimme.
„Ich bin‘s, Mutter“, grüßt Julia kleinlaut zurück.
„Was ist passiert?“ fragt ihre Mutter alarmiert.
Julia seufzt erneut. Mit einem Mal fühlt sie sich entsetzlich müde und es fällt ihr unsagbar schwer, sich zu konzentrieren. So, als habe ihr jemand den Stecker gezogen. Das ist ein Zustand, den sie bislang nicht kannte, denn sie, die Bürgermeisterin der beschaulichen Kleinstadt am Südrand der Heide, findet für jedes Problem eine Lösung. Selbst, wenn sie einmal keine solche ad hoc parat hat, vermag sie doch stets, im Nullkommanichts eine Strategie aus dem Hut zu zaubern, wie sie eine aussichtlos erscheinende Angelegenheit doch noch zu ihren Gunsten herumdrehen kann. Geht nicht, gibt’s nicht in Julias Welt. Sie ist jederzeit auf alles vorbereitet und nichts und niemand kann sie aus dem Konzept bringen. Dafür bewundern sie die einen und fürchten sie die anderen. Doch dieses Mal ist es anders. Noch nie hat sich Julia so hilflos gefühlt. Das macht ihr Angst.
„Reiß dich zusammen, Kind, und raus mit der Sprache!“, herrscht Dorothea Ahrens ihre Tochter an. Unter ihrer offenkundigen Ungeduld ist ihre Besorgnis deutlich herauszuhören, denn auch sie kennt ihre Tochter so nicht.
Für einen Moment herrscht Stille in der Leitung. Dann platzt Julia heraus: „Ich bin aufgeflogen.“
Ihre Mutter seufzt mitleidig. „Vielleicht ist es gut, dass es endlich `raus ist.“
Empört fährt Julia aus ihrem Sessel in die Höhe. „Bist du wahnsinnig geworden?“, faucht sie.
„Nicht in diesem Ton!“, ermahnt Dorothea ihre Tochter.
Julia rollt die Augen. Niedergeschlagen lässt sie sich erneut gegen die Lehne ihres Schreibtischsessels fallen und fährt sich mit der freien Hand über das Gesicht. „Entschuldige bitte, Mutter, aber deine Bemerkung war wenig hilfreich.“
Dorothea seufzt erneut. So, wie eine Mutter es eben tut, wenn sie meint, genau zu wissen, was richtig für ihr Kind ist, das Kind das aber nicht einsehen will. „Sei froh, dass das Versteckspiel ein Ende hat! Ich habe diese ganze Scharade schon immer für reichlich albern gehalten. Wie lange hättest du das noch durchziehen wollen? Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis alles herauskommt. Also kneif die Arschbacken zusammen und steh dazu!“
„Pffff!“, zischt Julia durch ihre Vorderzähne hindurch. „Damit ist meine Karriere als Bürgermeisterin beendet. Das wird mir niemand verzeihen.“
„Möglich“, bestätigt ihre Mutter knapp, „aber ich habe dich trotzdem lieb.“
Wider Willen muss Julia schmunzeln. Doch lange hält ihre Erheiterung nicht an. „Meine berufliche und vermutlich sogar meine private Existenz hängen daran“, erklärt sie düster.
Durchs Telefon hört sie, wie ihre Mutter zustimmend seufzt. Julia schüttelt resigniert den Kopf. Einen Augenblick lang ist sie versucht, ihrer Erzeugerin recht zu geben. Wozu sich gegen etwas wehren, das sie sowieso nicht ändern kann?
Unwillkürlich wandern ihre Gedanken zurück zu dem Telefonat, das sie vor einigen Minuten geführt hat. Sie erinnert sich an die Stimme des Reporters vom örtlichen Käseblatt, die vor Bosheit und geheucheltem Verständnis nur so triefte, als er ihr auseinandersetzte, dass er es den Lesern der Zeitung schuldig sei, sie über die Wahrheit aufzuklären. Dabei dürfe er selbstverständlich keine Rücksicht auf etwaige persönliche Befindlichkeiten nehmen. Schließlich sei es die vornehmste Aufgabe der Presse, als Kontrollin-stanz über das politische Geschehen zu wachen. Nicht umsonst würde man sie auch als „vierte Gewalt“ im Staat bezeichnen, und nur unter ganz, ganz, ganz besonderen Umständen sei überhaupt denkbar, dass er die Gifhorner Öffentlichkeit im Unklaren über die Vergehen der Bürgermeisterin lasse. Er könne so etwas eigentlich nur dann mit seinem Gewissen als rechtschaffener Bürger vereinbaren, wenn sie ihm verspräche, ihn bei seiner Kandidatur für den Stadtrat zu unterstützen – nur zum Vorteil der Stadt und ihrer Bürger selbstverständlich. Wenn mit ihm als Stadtratsmitglied Ehrlichkeit, Anstand und Transparenz in Gifhorn zu neuer Blüte gelangen würden, könnte er es im Gegenzug eventuell in Betracht ziehen, von einer Enthüllung ihres „Treibens“, wie er es nannte, abzusehen und so weiter und so fort. Julia realisiert, wie sich ihr Herzschlag erneut beschleunigt, als sie an den unerträglich selbstgefälligen Vortrag des Anrufers denkt. „Von dieser Schabe in Menschengestalt werde ich mir meine Karriere nicht ruinieren lassen“, knurrt sie.
„Von wem sprichst du eigentlich?“, fragt ihre Mutter.
„Lars Kotzlowski“, presst Julia zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Koslowski? Der kleine Schmierfink vom Ise-Boten?“ Julias Mutter stöhnt auf. „Ich wusste immer, dass aus dem nichts rechtes werden würde. Warum ausgerechnet der Reporter wurde, habe ich nie verstanden. Im Aufsatz schreiben war er völlig unbegabt, und ich finde, das merkt man seinen Artikeln heute noch an.“
„Hast du den etwa auch unterrichtet?“, fragt Julia entsetzt.
„Ich konnte mir meine Schüler nicht aussuchen, auch wenn ich das manches Mal bedauert habe“, kontert ihre Mutter trocken. „Ja, er war einer meiner Schutzbefohlenen in der Grundschule. Einer der wenigen, die ich nicht mochte, weil er damals schon heimtückisch war. Wobei man fast noch Verständnis für ihn haben musste, denn dass er so missraten war, ist sicherlich auch den schwierigen Verhältnissen zuzuschreiben, aus denen er kam. Sein Vater war Jurist und seine Mutter saß im niedersächsischen Landtag. Grässliche Leute! Mischten sich in alles ein, hatten von nichts eine Ahnung und …“
„Schon gut, Mutter“, unterbricht Julia sie. Momentan fehlen ihr die Nerven dafür, sich Anekdoten aus dem früheren Schulalltag ihrer Mutter anzuhören. „Ich habe leider gleich schon den nächsten Termin und muss jetzt Schluss machen.“
„Was wirst du tun?“, fragt Dorothea dennoch.
„Das weiß ich noch nicht“, antwortet Julia nachdenklich. „Vermutlich werde ich Kotzlowski erst mal nach allen Regeln der Kunst vermöbeln und dann weitersehen.“
„Eine ordentliche Tracht Prügel zur rechten Zeit hätte ihm in seiner Kindheit bestimmt nicht geschadet. Ich war immer dagegen, die Prügelstrafe komplett abzuschaffen – ganz besonders in der Schule. Man sieht ja, was dabei herauskommt! Allerdings befürchte ich, dass es deiner Karriere ebenfalls schaden würde, wenn du nachholst, was seine pflichtvergessenen Eltern versäumt haben“, gibt Dorothea zu bedenken. Sie überlegt einen Moment, dann ändert sich ihr Ton. Mit eindringlicher Stimme fügt sie hinzu: „Im Ernst, Julia, ich habe mir große Mühe gegeben, dich zu einem Menschen zu erziehen, der aufrecht durchs Leben geht. Findest du nicht, dass es an der Zeit ist, reinen Tisch zu machen?“
„Damit dieser Schreiberling sich an die Brust heften kann, die Bürgermeisterin Gifhorns geteert und gefedert aus dem Rathaus gejagt zu haben? Ich bitte dich!“, begehrt Julia auf.
„Teeren und Federn tat man vorwiegend im wilden Westen des vorletzten Jahrhunderts. In Deutschland ist das nie richtig in Mode gekommen“, korrigiert ihre Mutter sie. „‘Mit Schimpf und Schande aus dem Amt jagen‘ trifft es eher, und damit muss man als Lokalpolitiker heutzutage doch wohl klarkommen, oder?“
Julia rollt die Augen und schüttelt den Kopf über die kleinliche Berichtigung ihrer Formulierung durch ihre Gesprächspartnerin. „Dann lass es mich so ausdrücken: Ich habe nicht vor, meine berufliche Existenz aufs Spiel zu setzen. Ich habe zu hart dafür gekämpft und auf zu Vieles verzichtet, um jetzt einfach aufzugeben. Aber trotzdem danke fürs Zuhören!“
„Du weißt, dass ich immer für dich da bin, mein Kind. Ich habe jederzeit ein Essen und ein warmes Bettchen für dich.“
„Mutter!“, stöhnt Julia genervt auf.
„Schon gut!“, wehrt diese ab. „Ich weiß, ich weiß. Lieber würdest du dich erschießen, als zurück nach Hause zu ziehen. Das hast du oft genug gesagt.“
„Richtig“, bestätigt Julia mit einem gequälten Lächeln. „Ich bin sicher, es ist besser für uns beide.“ Sie atmet tief durch. „Trotzdem danke fürs Angebot. Und jetzt muss ich los. Wir sehen uns.“
„Mach‘s gut mein Kind. Und melde dich, wenn ich etwas für dich tun kann!“
„Ja, Mama“, antwortet Julia artig. Dann beendet sie kopfschüttelnd das Gespräch.
***
Wenige Augenblicke später reißt Julia die Tür zu ihrem Vorzimmer auf und rauscht durch das Reich ihrer Sekretärin. Ingeborg Meinhardt ist eine Institution im Gifhorner Rathaus. Die Dame, deren Berufsbezeichnung hinter vorgehaltener Hand „Gewitterziege“ lautet, sieht auch so aus, wie man sich eine solche vorstellt: Sie ist groß, dürr und trägt ihre mit grauen Strähnen durchwirkten Haare zu einem strengen Dutt zurückgebunden, wodurch sie ihre breite Stirn und ihr spitz zulaufendes Kinn betont. Seit Menschengedenken hütet Ingeborg Meinhardt die Pforte zum Büro des jeweiligen Bürgermeisters und dirigiert sämtliche seiner Angelegenheiten mit harter Hand. Julias zahlreiche Vorgänger wussten es zu schätzen, dass sie ihnen eine Menge Dinge vom Hals hielt, mit denen sie sich nicht beschäftigen wollten. Auch Julia genießt diesen Vorzug ihrer Sekretärin. Deshalb lässt auch sie ihr freie Hand zu entscheiden, wem sie wann und ob überhaupt Zutritt zu ihrem Büro gewährt. Obwohl sie zugeben muss, dass sie den Umgang Ingeborg Meinhardts mit den Mitarbeitern des Hauses manches Mal eine Spur zu autoritär und nicht mehr zeitgemäß findet. Andererseits hat sie als Bürgermeisterin alle Hände voll damit zu tun, die Geschicke der Stadt zu lenken. Und solange Ruhe im Rathaus herrscht – und das tut es! – sieht sie keinen Anlass, an den Verhältnissen etwas zu ändern.
„Ich habe noch einen privaten Termin und komme heute nicht mehr rein“, teilt Julia ihrer Sekretärin im Vorübergehen mit. An der Tür zum Flur dreht sie sich noch einmal um. „Schönen Feierabend!“, wünscht sie.
Statt einer Antwort sieht Ingeborg Meinhardt die Bürgermeisterin über den Rand ihrer schmalen Brille hinweg prüfend und eine Winzigkeit missbilligend an. Julia stutzt. Sie lässt ihren Blick aufmerksam an ihrer Garderobe hinabwandern. Der schmal geschnittene dunkelblaue Anzug sitzt einwandfrei, die Manschetten ihrer Bluse strahlen in makellosem Weiß und schauen genau anderthalb Zentimeter aus den Ärmeln ihres Blazers hervor. Auf ihren dunkelbraunen Pumps und ihrer Handtasche in der gleichen Farbe zeigt sich kein Stäubchen, ebenso wenig auf dem dunkelbraunen Wintermantel, den sie über dem Arm trägt. Irritiert hebt sie den Blick und sieht Ingeborg Meinhardt fragend an. Wortlos führt die ihre Hand zum Hals und nestelt an einem nicht vorhandenen Kragen. Julia versteht. Sie wirft einen Blick in den Spiegel, der neben der Garderobe im Vorzimmer hängt. Ein schmales, dezent geschminktes Gesicht, umrahmt von halblangen, braunen Haaren, die sie im Nacken zu einem Zopf zurückgebunden hat, schaut ihr entgegen. Unter ihrem Gesicht hat sich der linke Teil des Kragens ihrer weißen Bluse über das Revers des Blazers gelegt, während der andere ordentlich darunter liegt. Julia richtet den Kragen. Anschließend dreht sie den Kopf prüfend nach links und nach rechts, um den Sitz ihrer Frisur zu begutachten. Zufrieden mit dem Ergebnis wendet sie sich erneut Ingeborg Meinhardt zu. Die nickt zustimmend und sagt: „Ihnen auch einen schönen Feierabend.“ Dann heftet sie ihre Augen wieder auf den Bildschirm, der auf ihrem wohlsortierten Schreibtisch ruht.
Julia dreht sich endgültig um und schließt die Tür hinter sich. Mit energischen Schritten eilt sie den Flur entlang, vorbei an der Bildergalerie ihrer ausschließlich männlichen Vorgänger, der Tür zum kleinen Sitzungsraum und einer Dattelpalme im fragwürdigen Zustand, die ihre kärglichen sechseinhalb Wedel trotzig in die Höhe streckt. Während die Bürgermeisterin leichten Schrittes die Treppe ins Erdgeschoss hinunterspringt, schlüpft sie in ihren Mantel, grüßt kurz in Richtung der Pförtnerloge, während sie die Halle quert, stößt dann die gläserne Eingangstür auf und tritt ins Freie. Ein kalter Wind weht ihr entgegen. Julia stellt den Kragen ihres Mantels hoch, um sich dagegen zu schützen. Während sie den Marktplatz überquert, schaut sie empor zum schiefergedeckten Glockenturm der hellrosafarben gestrichenen Nicolai-Kirche. Ihre hellblauen Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, als sie sich vorstellt, wie sie ihren Intimfeind von der örtlichen Presse dort oben befestigen würde. Einen Moment später hat sie sich wieder im Griff. Es ist Teil ihrer Überlebensstrategie, jederzeit einen unverwüstlichen Eindruck zu hinterlassen. Wenn deine Gegner merken, dass sie dich aus der Reserve locken können, hast du schon verloren, ist ihre Überzeugung. Und verlieren tut sie nicht. Niemals! Sie sammelt höchstens Erfahrungen.
Mit aufgeräumter Miene eilt sie die Fußgängerzone hinunter.
Das Wiedersehen
Wenige Minuten später betritt Julia ein Lokal namens „Ziegenstall“. Suchend blickt sie sich nach der Restaurant-Chefin um. Nephele Papas, eine mollige Frau mit langen schwarzen Haaren und einem herzförmigen Gesicht, das von ihren großen ausdrucksstarken Augen dominiert wird, die sie mit dickem schwarzen Kajal zusätzlich betont, kommt hinter dem Tresen hervor und eilt strahlend auf sie zu. Wie immer ist die Wirtin ganz in schwarz gekleidet. Heute ermöglichen der tiefe Ausschnitt ihres knielangen Kleides und die fast durchsichtigen Ärmel aus schwarzer Spitze einen großzügigen Ausblick auf diverse romantische Tattoos in Form von Rosen, verschlungenen Ranken und Schmetterlingen. Eine feine goldene Kette mit einem Kreuz bildet den einzigen Lichtpunkt ihrer Garderobe.
„Julia! Wie schön dich zu sehen“, begrüßt Nephele ihren Gast und breitet erfreut die Arme aus. Während die beiden sich gegenseitig ein Küsschen links und eines rechts auf die Wange hauchen, meint die Wirtin: „Daniela ist schon da. Ich habe sie an einem Tisch weit weg vom Trubel, der hier vorne am Eingang herrscht, platziert. Dort sind wir hoffentlich ungestört.“
Julias Augen folgen Nepheles Kopfnicken. Im hintersten Winkel des Lokals, direkt am Fenster zum Parkplatz hinaus, entdeckt sie die Frau, von der die Rede ist. Sie trägt ihre langen blonden Locken zusammengefasst zu einem unordentlichen Dutt und hat ihre üppigen Rundungen in ein robustes Leinenhemd in verwaschenem Rot und eine blaue Jeans gepresst. Dazu trägt sie derbe Schuhe, die Julias kritischer Einschätzung nach bestimmt schon mehrere Wochen lang nicht mehr geputzt worden sind. Obwohl die Frau ungeschminkt ist und augenscheinlich nicht viel Zeit darauf verwendet hat, sich für das Treffen herzurichten, wirkt sie fast sexy in ihrem legeren Outfit, das ihre weibliche Figur vorteilhaft betont. Ihre Attraktivität wird noch verstärkt durch die ebenmäßigen Gesichtszüge, die denen eines naiven Rauschgoldengels gleichen.
Während sich Julia und Nephele dem Tisch nähern, ist Daniela vollauf damit beschäftigt, etwas in ihr Smartphone einzutippen. Erst, als Julia und Nephele direkt vor ihr stehen, bemerkt sie sie und hebt ihren Blick vom Display. Ein strahlendes Lächeln erhellt ihr Gesicht.
„Julia! Meine Güte, was hast du dich verändert! Ich glaube, ich habe dich seit unserem Abi-Ball nicht mehr gesehen. Nur in der Zeitung, natürlich. Du hast ja richtig Karriere gemacht als Bürgermeisterin Gifhorns! Beeindruckend!“, sprudelt es aus ihr heraus. Sie springt auf und umarmt ihre alte Schulfreundin.
„Du dagegen hast dich scheinbar überhaupt nicht verändert“, erwidert Julia, als sie sich einander gegenüber an den Tisch setzen. „Dein frischer Teint ist der einer Zwanzigjährigen. Wie machst du das nur?“
Daniela zuckt die Schultern. „Das hängt vermutlich mit der guten Landluft zusammen. Ich habe in einen landwirtschaftlichen Betrieb eingeheiratet und auf unserem Hof gibt es immer eine Menge zu tun.“
Julia mustert ihre Freundin genauer. „Kinder hast du anscheinend auch“, bemerkt sie mit anzüglichem Grinsen. Dabei starrt sie auf den deutlich sichtbaren Abdruck, den eine kleine Hand, die vorher anscheinend in ein Nougatglas gegriffen hat, auf Danielas Schulter hinterlassen hat.
Daniela folgt ihrem Blick und verrenkt sich dabei fast den Hals. „Mist!“, schimpft sie. „Ich möchte es einmal schaffen, zivilisiert aus dem Haus zu gehen. Seit ich Kühe und Kinder habe, ist mir das noch nicht gelungen.“ Ärgerlich starrt sie auf das Missgeschick.
„Das ist doch nicht schlimm“, tröstet Nephele. „Wir sind doch unter uns.“
Daniela kramt in ihrer Hose nach einem Taschentuch, spuckt einmal kurz darauf und bearbeitet die Hinterlassenschaft. Viel Erfolg ist ihr damit jedoch nicht beschieden. Im Gegenteil: Zu dem Fleck gesellen sich nun auch noch kleine weiße Papierfasern. Unzufrieden mit dem Ergebnis schüttelt sie den Kopf.
„Es fällt kaum noch auf“, lügt Julia und lächelt Daniela aufmunternd zu.
„Bestimmt nicht“, bestätigt Nephele und wirft Julia ein verschwörerisches Lächeln zu.
Daniela schaut die beiden misstrauisch an. „Ich glaube, ihr schwindelt mich an“, stellt sie mit ernstem Gesicht fest, woraufhin alle drei in schallendes Gelächter ausbrechen.
„Wer beschwindelt wen?“, fragt eine Stimme hinter ihnen. Die Köpfe der drei fahren zu der schlanken Frau mit den langen roten Haaren herum, die wie aus dem Nichts neben ihrem Tisch aufgetaucht ist. Unter ihrem cremefarbenen Wintermantel trägt sie eine enge, makellos weiße Jeans und darüber eine todschicke rehbraune Rüschenbluse, die sich elegant an ihren schlanken Körper schmiegt. Dazu hat sie modische dunkelbraune, spitz zulaufende Stiefeletten mit hohen Absätzen an den Füßen, die exakt den gleichen Farbton aufweisen wie ihre Coco-Chanel-Handtasche, die sie über dem Arm trägt. Eine lange silberne Kette mit einem riesigen tropfenförmigen Bernstein adelt ihr Outfit. Ihr fragender Blick wandert von einer der am Tisch sitzenden Frauen zur nächsten. Dann verharrt er bei Daniela, besser gesagt auf deren Schulter.
„Um Gottes willen, was ist das?“, ruft sie entsetzt. „Das sieht ja aus, als hätte sich jemand an dir den Hintern abgewischt!“ Angewidert verzieht die Rothaarige das Gesicht. Julia und Nephele werfen sich einen amüsierten Blick zu, während Danielas Gesicht von einer zarten Röte überzogen wird.
„Es ist nur ein bisschen Nutella. Ich habe halt Kinder“, rechtfertigt sie sich.
Die Rothaarige schnauft und schüttelt abschätzig den Kopf. „Ich habe auch Kinder. Das ist noch lange kein Grund, sich so gehen zu lassen!“, versetzt sie herablassend.
„Wie schön, Miriam, dass auch du den Weg zu uns gefunden hast“, beeilt sich Julia einzuwerfen, bevor die Situation für die arme Daniela noch unangenehmer werden kann. Innerlich kann sie über Miriam nur den Kopf schütteln. Vermutlich muss man Arztgattin sein und darf keine größeren Probleme als einen abgebrochenen Fingernagel haben, um aus einem simplen Fleck eine so große Sache zu machen, denkt sie bei sich. Gleichzeitig fragt sie sich, ob es vielleicht keine so gute Idee war, Miriam ins Veranstaltungskomitee für die Ausrichtung der Abi-Jubiläumsfeier zu bitten. Julia kann sich noch gut daran erinnern, dass ihre Freundin schon zu Schulzeiten nicht durch übermäßigen Arbeitseinsatz, dafür umso mehr durch eine hohe Anspruchshaltung aufgefallen ist. Für die verwöhnte Tochter ehrgeiziger Eltern war stets nur das Beste gut genug gewesen. Miriam hatte niemals geruht, bis sie das, was ihr ihrer Meinung nach zustand, auch bekam. Auseinandersetzungen darum waren für Mitschüler wie für Lehrer oft sehr anstrengend gewesen. Darüber hinaus findet Julia es komplett überflüssig, die arme Daniela so anzugiften. Noch dazu, wo alle Anwesenden früher nicht nur auf das gleiche Gymnasium gegangen sind, sondern auch miteinander befreundet waren. Doch wie immer ist Julias Miene nichts von ihren Gedanken anzusehen. Stattdessen deutet sie mit einem kurzen Nicken auf den freien Platz neben sich. „Vielleicht magst du dich trotzdem zu uns setzen, auch wenn unsere Garderobe nicht hundertprozentig deinen Ansprüchen genügt?“, fragt sie spöttisch.
„Natürlich.“ Miriam ringt sich ein Lächeln ab und rutscht zu ihr auf die Bank. Irritiert sieht Julia ihr dabei zu. Wenn sie nicht wüsste, dass es völlig undenkbar ist, weil es überhaupt nicht zu Miriam passt, dann hätte sie geschworen, dass deren Wangen eine leichte rosa Färbung angenommen haben. Doch Miriam Schamgefühl zu unterstellen, wäre nun wirklich zu weit hergeholt!
Einen Moment lang herrscht betretene Stille am Tisch. Schließlich bricht Nephele das Schweigen. „Du liebe Güte, wie unaufmerksam von mir! Ihr sitzt ja alle noch auf dem Trockenen! Was haltet ihr von einem Prosecco? Auf die alten Zeiten? Ich lade euch ein.“
Dieses Angebot verbessert die Stimmung im Nu. Alle stimmen begeistert zu und Nephele gibt die Bestellung an eine ihrer Angestellten weiter. Anschließend wendet sie sich wieder der Runde am Tisch zu. „Jetzt warten wir nur noch auf Thekla, stimmt‘s?“, fragt sie Julia, die Initiatorin des Treffens. „Ich wusste gar nicht, dass sie wieder im Lande ist. Das Letzte, was ich hörte, war, dass sie nach Hollywood gegangen ist?“
Julia nickt. „Ich war selbst erstaunt, als sie mir schrieb, dass sie wieder in Gifhorn sei. Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie auf die Terminabfrage zur Jubiläumsfeier, die ich per Mail an alle verschickt habe, überhaupt antwortet. Was soll sie sich dafür interessieren, wenn sie auf der anderen Seite des Globus lebt?“
Daniela schaut überrascht. „Im Ernst? Thekla ist wieder hier? Unmöglich! Wer kommt denn freiwillig von Hollywood zurück nach Gifhorn?“ Sie klingt ehrlich betroffen. Unbeabsichtigt erntet sie mit dieser Bemerkung einen Heiterkeitsausbruch der anderen Frauen.
„Ich bitte dich! Was sind denn das für Töne?“, schimpft Julia gespielt empört. „Gifhorn ist die idyllische Mühlenstadt am südlichen Rand der Lüneburger Heide. Hierher kommen sogar Touristen!“
Nun wollen sich alle beinahe ausschütten vor Lachen. Die junge Bedienung, die in diesem Moment mit dem Prosecco in einem silberfarbenen Kühler und fünf Gläsern an den Tisch herantritt, lächelt unsicher in die Runde. Man kann ihr quasi von der Stirn ablesen, dass sie der Meinung ist, dass die Damen keinen Prosecco mehr benötigen, um in Stimmung zu kommen. Ihre Chefin nickt ihr beruhigend zu. „Klassentreffen“, sagt sie mit vielsagendem Blick. Augenblicklich erhellt ein verständnisvolles Lächeln die Miene der jungen Frau. Sie stellt das Tablett auf dem Tisch ab und öffnet die Flasche. Anschließend entfernt sie sich, als Nephele ihr zu verstehen gibt, dass sie das Einschenken des Getränks selbst besorgen wird.
„Vielleicht sollten wir noch auf Thekla warten?“, fragt die Gastwirtin in die Runde.
„Nicht nötig“, ertönt es neben ihr. Überrascht dreht sich Nephele um und schaut direkt in die vergnügt strahlenden dunkelbraunen Augen einer schlanken, hochgewachsenen Frau. Deren ausdrucksstarkes Gesicht, das niemand so schnell vergisst, der es je gesehen hat, ziert ein breites Grinsen. Die langen Beine der Frau stecken in engen grauen zerrissenen Jeans, über denen sie ein weißes Tanktop und einen weiten grobmaschigen dunkelbraunen Wollpullover trägt. Ihr langes zerzaustes aschblondes Haar hat sie mit einem um ihren Kopf geschlungenen bunt gemusterten Tuch halbwegs gebändigt. „Tut mir leid, Mädels, dass ich zu spät bin. Die Gifhorner Rush Hour ist der Horror!“, schimpft sie und rollt die Augen genervt gen Himmel.
Für diese nicht ganz ernst gemeinte Bemerkung erntet sie großes Gelächter. Während Thekla sich auf die Bank neben Daniela schiebt, füllt Nephele den Prosecco in die Gläser und verteilt sie an ihre Gäste. „Auf unser Wiedersehen und eine erfolgreiche Planung unseres Abi-Jubiläums!“, ruft sie und erhebt ihr Glas. Die anderen folgen ihrem Beispiel.
„Wie schön, dass wir uns nach so langer Zeit endlich wiedersehen. Es fühlt sich fast so an, als wäre es gestern gewesen, als wir Abitur gemacht haben!“, meint Thekla.
„Mir geht es genauso“, stimmt Daniela ihr zu. „Wenn ich überlege, was wir fünf früher für einen Mist angestellt haben, dann kann ich gar nicht verstehen, wie wir uns so komplett aus den Augen verlieren konnten. Hatten wir uns nicht damals bei der Abi-Party am Waldsee ewige Freundschaft geschworen?“, fragt sie.
„Stimmt“, bestätigt Thekla schmunzelnd. „Möglicherweise hatte dieser höchst sentimentale Akt aber auch mit dem Joint zu tun, den wir bei dieser Gelegenheit haben kreisen lassen.“ Ein amüsiertes Raunen geht durch die Runde. Daraufhin korrigiert Nephele ihren Trinkspruch: „Auf die Freundschaft!“, ruft sie und prostet den anderen zu. „Auf die Freundschaft!“, echoen die vier übrigen im Chor.
Nachdem sie angestoßen und einen Schluck getrunken haben, tauschen sich die fünf beim Prosecco darüber aus, wie sie die vergangenen zwanzig Jahre seit ihrem Schulabschluss verbracht haben. Bis auf Nephele und Julia, die sich des Öfteren in der Stadt oder im Lokal über den Weg laufen, wo Julia ab und an zu Mittag isst, haben sich die fünf seither kaum oder gar nicht mehr gesehen.
Daniela berichtet, wie sie kurz nach dem Abitur ihre Jugendliebe Erik heiratete und wenig später ihre Ausbildung als Bürokauffrau abbrach, als sie schwanger wurde. Nephele erzählt von ihren erfolglosen Bemühungen, nach dem Abi an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig aufgenommen zu werden, und wie sie sich, um Geld zu verdienen, mit Jobs im Service über Wasser gehalten hat. „Als ich dann mit Ilias schwanger wurde und sein Vater glücklicherweise das Weite suchte, musste ich mich allein durchschlagen. Da mir klar war, dass das als Bedienung schlecht funktionieren würde, habe ich meine Eltern angepumpt und einen hohen Kredit aufgenommen, um dieses Lokal kaufen zu können“, erklärt sie.
„Hat Ilias Vater dich nicht unterstützt?“, fragt Miriam erstaunt. „Du liebe Güte! Das wäre mir nicht passiert! So weit hätte der Kerl gar nicht rennen können, dass ich ihn nicht gefunden und ausgepresst hätte wie eine Zitrone!“
Thekla, Julia und Daniela lachen, obwohl oder gerade weil sie wissen, dass Miriam es todernst meint. Wenn es um ihren Vorteil geht – das wissen alle – schreckt sie vor nichts zurück.
Nephele schüttelt den Kopf und seufzt. „Bei Männern habe ich leider noch nie ein glückliches Händchen besessen. Bei dem schon gar nicht! Ich war heilfroh, als ich den Kerl los war. Ich hätte ihm sogar etwas dafür bezahlt, damit er aus meinem Leben verschwindet!“ Miriam sieht sie verständnislos an, doch Nephele scheint zu finden, dass sie das Thema erschöpfend behandelt hat. Bevor die andere nachhaken kann, hat sie den Spieß schon umgedreht. „Wo wir gerade dabei sind“, meint sie mit anzüglichem Lächeln, während sie ihren Blick an Miriams teurer Garderobe herabwandern lässt und schließlich bei der Coco-Chanel-Tasche landet, die diese neben sich auf der Sitzbank abgestellt hat. „Wie ist das eigentlich bei dir? Du hast ja bereits erwähnt, dass du Kinder hast. Allem Anschein nach zahlt sich das aus?“
Die anderen wenden sich nun ebenfalls mit gespannter Aufmerksamkeit Miriam zu. Bei jeder anderen hätten sie vielleicht Mitleid gehabt, wenn sie auf diese Weise bloßgestellt worden wäre. Doch bei Miriam, das wissen alle, ist übertriebenes Feingefühl überflüssig. Als wolle sie diese Einschätzung bestätigen, streicht sich die Angesprochene mit einer gezierten Geste eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelt zufrieden. „Selbstverständlich tut es das. Mein Mann führt eine gutgehende Privatklinik für plastische und ästhetische Chirurgie. Wir können ganz gut davon leben.“