Kitabı oku: «Kleinstadt-Hyänen», sayfa 3

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Daniela

Es ist schon fast 21 Uhr, als Daniela den uralten grünen Mercedes ihrer Schwiegereltern auf den Hof im Langenklint lenkt. Eigentlich hätte sie ihren freien Abend, an dem sie die Beaufsichtigung der Kinder und Eriks kranker Eltern ausnahmsweise einmal ihrem Ehemann überlassen hat, gerne noch ein bisschen ausgeweitet. Doch nachdem sie im Ziegenstall die furchtbar leckere Currywurst verspeist hatte, die unter Eingeweihten auch „Werksforelle“ genannt wird, weil sie aus der gleichen Produktion stammt wie das legendäre Kantinengericht des nahen Autobauers, gelang es ihr kaum noch, ihre Augen offen zu halten. Schließlich war sie bereits seit fünf Uhr auf den Beinen!

Ihr Tag hatte damit begonnen, dass sie die Kühe fütterte und den Stall säuberte. Anschließend hatte sie das Frühstück bereitet für ihren Mann Erik, ihre vier Kinder sowie ihre Schwiegereltern, die hinten auf dem Hof in einem eigenen Wohnhaus, dem sogenannten Altenteil leben. Daniela hatte dafür sorgen müssen, dass ihre drei Töchter Sarah, Vicky und Madeleine sowie ihr Sohn Malte den Weg aus dem Bett ins Badezimmer fanden, und zwar in der dafür festgelegten Reihenfolge, die sich nach dem jeweiligen Stunden- beziehungsweise Busfahrplan richtet. Zwischendurch hatte sie ihren dementen Schwiegervater, der am Küchentisch saß und lautstark nach seinem Kaffee und einem Schinkenbrot verlangte, mit dem Gewünschten versorgt. Normalerweise kümmert sich ihre Schwiegermutter beim Frühstück um ihn, doch heute war Alfons ihr vermutlich entwischt, denn er war besonders früh dran und ohne seine Frau bei ihnen aufgetaucht. Kurz darauf hatte ihr Mann Erik mit verschlafenem Gesicht in der Küchentür gestanden und vorwurfsvoll nach seinem Lieblingshemd gefragt. Sie hatte ihm erklären müssen, dass sie es zwar gewaschen, aber noch nicht gebügelt hatte, woraufhin er beleidigt von dannen gezogen war, ohne sich im mindesten dafür zuständig zu fühlen, den Kaffee aufzuwischen, den sein Vater auf der Wachstuchdecke verschüttet hatte, als er die Tageszeitung umständlich aufgeschlagen hatte.

Auch nach dem Frühstück, als ihr Mann und die Kinder glücklich vom Hof gerollt beziehungsweise gegangen und ihre Schwiegereltern in ihr eigenes Haus zurückgekehrt waren, hatte es keine Verschnaufpause gegeben. Daniela hatte sich um die Buchhaltung des Betriebs gekümmert, Futtermittel bestellt, die Kühe gemolken und zwischendurch ihren Schwiegervater mehrfach davon abhalten müssen, sich auf den Trecker zu setzen und die Gülle aus dem Kuhstall, die sie am folgenden Tag zur nahegelegenen Bio-gasanlage bringen wollte, auf den Feldern zu entsorgen. Ihre Argument, dass sie das Land erstens schon vor vielen Jahren an Hinnerk Schmidt verpachtet hatten und zweitens das Ausbringen von Gülle heutzutage in den Wintermonaten verboten ist, hatte ihn überhaupt nicht interessiert. Die Diskussion über dieses Thema hatte sie im Laufe des Vormittages noch fünf weitere Male führen müssen. Dann war es auch schon Zeit fürs Mittagessen gewesen, das ihre Schwiegereltern aus alter Gewohnheit stets pünktlich um halb eins einnahmen, während ihre Töchter um eins, halb zwei und Viertel nach zwei aus der Schule kamen und dann einen riesigen Kohldampf hatten, der umgehend gestillt werden wollte. Malte, ihr Ältester, macht eine Lehre als Tischler und isst auswärts, sodass sie sich um seine Verpflegung glücklicherweise nicht mehr kümmern muss.

Nachmittags hatte Daniela nach der Hausaufgabenbetreuung der beiden Jüngsten und einigen Hilfestellungen für die vierzehnjährige Madeleine, die zu bequem gewesen war, selbst nachzudenken, noch einmal nach den Kühen sehen und eine Tränke reparieren müssen. Kurz, bevor sie sich um siebzehn Uhr auf den Weg in die Stadt gemacht hatte, hatte sie es sogar noch geschafft, ein paar von Eriks Hemden zu bügeln. Zwar fand sie, dass er das eigentlich auch selbst können musste, aber da er das nicht fand und sie eine Neuauflage ihrer morgendlichen Diskussion am folgenden Tag um sein nicht einsatzbereites Lieblingshemd fürchtete, hatte sie es um des lieben Friedens willen erledigt. Ihr Einknicken vor seiner Bequemlichkeit hatte sie vor sich selbst damit gerechtfertigt, dass er ihr versprochen hatte – wenn auch nur widerwillig – an diesem Abend auf die Kinder aufzupassen und ihnen das Abendbrot zu bereiten. Zu diesem Zweck wollte er sogar früher aus seiner Versicherungsagentur nach Hause kommen. Das hatte zwar nicht geklappt – jedenfalls war er zum verabredeten Zeitpunkt noch nicht daheim gewesen, um eine nahtlose Übergabe der Kinderbeaufsichtigung sicherzustellen – doch immerhin hatte Daniela ihre älteste Tochter Madeleine dafür gewinnen können, auf ihre fünf beziehungsweise sieben Jahre jüngeren Schwestern aufzupassen. Das war nur unter Protest der ältesten Tochter gelungen, denn Madeleine hatte ihre Freundin Emilia zu Besuch und nicht die mindeste Lust, ihre Zimmertür offen zu lassen, um wenigstens mit einem Ohr nach ihren jüngeren Geschwistern zu horchen, bis der Vater endlich den Weg nach Hause gefunden hätte. Daniela versuchte zunächst, sie mit dem Argument zu ködern, dass es sich schließlich nur noch um wenige Minuten handeln könne, bis der Vater endlich daheim wäre. Doch daran hatte ihre älteste Tochter genauso wenig geglaubt wie sie selbst. Erst, als Daniela Madeleine gestattet hatte, sich zum Ausgleich für ihren Einsatz eine ganze Folge von Germanys Next Topmodel – und zwar bis zum Schluss! – ansehen zu dürfen, hatte sie eingewilligt.

Erschöpft parkt Daniela nun das altersschwache Auto neben dem schicken dunkelblauen Leasing-Fahrzeug ihres Gatten. Wenigstens ist er mittlerweile zuhause eingetroffen, denkt sie bissig. Im nächsten Moment schalt sie sich ungnädig. Sie muss ja nicht gleich zickig werden, sagt sie sich, nur, weil ihr Mann nicht rechtzeitig aus der Versicherungsagentur nach Hause gekommen ist, um sie abzulösen. Sicher hatte er noch ein Kundengespräch, das er nicht einfach so unterbrechen konnte, vermutet sie und ist sofort wieder friedlich gestimmt. Überhaupt gelingt es Daniela selten, mehr als ein paar Minuten lang böse auf Erik zu sein, wenn er sich wieder einmal aus seinen familiären Pflichten herausgewunden hat. Nachtragend zu sein liegt ihr nicht. Stattdessen freut sie sich jetzt lieber auf ihr gemütliches Sofa. Dort, so hofft sie, kann sie den Abend vor dem Fernseher neben ihrem Mann bei einer Flasche Bier ausklingen lassen, bis sie endgültig reif fürs Bett ist.

Mit Schwung knallt Daniela die Autotür zu, die bei einer weniger energischen Behandlung nicht mehr schließt. Im schwachen Schein der leuchtenden Wand aus Glasbausteinen, die in den Siebzigern so schwer in Mode waren, läuft sie auf die Haustür zu. Als sie sie öffnet, kommt ihr die neunjährige Vicky kreischend aus dem Obergeschoss entgegen. Auf Socken stürmt sie die Treppe herunter und wirft sich ihrer Mutter in die Arme.

„Nanu, junge Dame, du bist ja noch gar nicht im Bett“, stellt Daniela verwundert fest. „Ab ins Bad und Zähne putzen!“

„Och nö! Dann muss Sarah aber auch!“, protestiert der kleine blonde Wirbelwind, der optisch eine Miniaturausgabe ihrer Mutter ist.

Daniela zieht die Augenbrauen in die Höhe. „Wie? Sarah ist auch noch nicht im Bett?“, ruft sie erstaunt. Für die Siebenjährige wäre normalerweise schon vor einer Stunde Schlafenszeit gewesen. „Da hat euer Vater wohl die Zeit vergessen“, schimpft Daniela, seufzt resigniert, packt ihre Tochter unter den Armen und zieht sie hoch auf ihre Hüfte, um sie nach oben ins Badezimmer zu tragen. „Wo ist er überhaupt?“, fragt sie. Dabei schaut sie in Richtung des Wohnzimmers, aus dessen angelehnter Tür der Fernseher zu hören ist, aus dem die Botschaft eines Werbespots für Enthaarungscreme plärrt.

„Der ist nochmal weggegangen“, schallt es aus der Küche. Kurz darauf steht Madeleine kauend mit einer frisch geöffneten Tüte Chips in der Hand im Flur.

Daniela runzelt die Stirn. „Wohin?“, fragt sie verwundert und mit einer Spur Besorgnis in der Stimme. Einen Moment lang befürchtet sie, dass etwas mit ihren Schwiegereltern nicht in Ordnung ist und Erik den dementen Alfons oder die krebskranke Inge ins Krankenhaus hatte fahren müssen. Aber dann hätte sein Auto ja nicht auf dem Hof gestanden, widerspricht sie sich im nächsten Moment selbst.

Madeleine zuckt die Schultern. „Matze Schröder kam vorbei und hat mit seinem neuen Trecker angegeben. Er hat Papa dazu überredet, mit in die Kneipe zu gehen und noch einen Absacker zu nehmen. Er würde einen ausgeben, hat er gesagt.“

Nun ist es dann doch vorbei mit Danielas gnädiger Stimmung, zu der sie sich vorhin im Auto noch durchgerungen hatte. Missbilligend zieht sie die Augenbrauen hoch. Das ist ja wohl die Höhe! Da überlässt sie es ihrem Mann einmal, auf die Kinder aufzupassen und notfalls zur Stelle zu sein, wenn seine kranken Eltern Hilfe brauchen – eine Aufgabe, die normalerweise sie selbst tagein tagaus klaglos erfüllt – und er schafft es nicht einmal heute, seinen Pflichten nachzukommen?

Madeleine realisiert, dass ihre Mutter nicht erfreut ist. „Mit mir musst du das nicht diskutieren!“, mault sie und hebt abwehrend die Hände. „Ich kann mir Besseres vorstellen, als ständig für euch den Babysitter zu spielen.“

Daniela seufzt und bemüht sich um ein Lächeln. „Lieb von dir, dass du eingesprungen bist, mein Schatz“, sagt sie und reißt sich zusammen. Ihre Tochter soll nicht denken, dass sie ihren Unmut an ihr auslassen will. „Ich bin wirklich froh, dass ich dich habe!“, fügt sie dankbar hinzu.

Madeleine nickt gnädig. „Das hat Papa auch gesagt“, sagt sie und versucht es beiläufig klingen zu lassen. Doch Daniela merkt ihr an, wie stolz ihre Tochter auf ihre Rolle als Stütze ihrer Eltern ist und dass sie sich dabei sehr erwachsen fühlt. Als wolle sie diesen Eindruck noch unterstreichen, zieht Madeleine die Stirn kraus und meint altklug: „Wir müssen ein bisschen darauf achtgeben, Papa nicht zu überfordern!“ Bei diesen Worten greift sie erneut in die Chipstüte.

Daniela, die gerade mit Vicky auf dem Arm die Treppe ins Obergeschoss erklimmen wollte, hält mitten in der Bewegung inne. Sie blickt Madeleine teils amüsiert, teils fragend an und wartet darauf, dass die ihre Bemerkung erläutert.

Ihre älteste Tochter schiebt sich erst einmal eine Hand voll gewürzter Kartoffelscheiben in den Mund. Erst dann spricht sie weiter. „Na ja, Papa arbeitet von früh bis spät. Dann kommt er nach Hause und muss sich auch noch um die Kleinen kümmern“, womit sie ihre Schwestern Sarah und Vicky meint. „Außerdem hat er die Sorge um seine Eltern an der Backe. Das ist ihm manchmal einfach alles zu viel!“, erläutert sie ihrer Mutter die Sachlage, die die scheinbar noch nicht begriffen hat.

Die Amüsiertheit verschwindet aus Danielas Gesicht. Zurück bleibt ein Ausdruck grenzenloser Verständnislosigkeit. „Wie kommst du denn auf so etwas?“, fragt sie ihre Tochter, als sie ihre Sprache wiedergefunden hat.

Madeleine schüttelt ob der Begriffsstutzigkeit ihrer Mutter den Kopf. „Denk doch mal nach!“, fordert sie ihre Erzeugerin auf und versprüht dabei eine Ladung winziger Chipskrümel in Danielas Richtung. „Würde dich das nicht belasten, wenn du so viel um die Ohren hättest wie Papa?“

Danielas Miene zeigt nun die komplette geistige Leere, die im Kopf eines Menschen herrscht, der die Welt nicht mehr versteht und gleichzeitig weiß, dass es komplett sinnlos ist, es überhaupt versuchen zu wollen.

Ungeduldig rollt Madeleine die Augen gen Himmel. „Papa hat es selbst gesagt! Bei all dem Stress, den er heute hatte, müsse er jetzt einfach mal an sich denken. Deshalb ist er dann mit Matze losgezogen, um noch ein Bier trinken zu gehen. Matze hat ihn auf dem neuen Trecker mitgenommen.“ Missbilligend schüttelt ihre Tochter den Kopf. „Redet ihr eigentlich nicht miteinander, wenn du nicht mal weißt, was Papa alles um die Ohren hat?“

Einen Moment lang ist Daniela unfähig, etwas zu sagen. Schließlich krächzt sie, weil ihr beim besten Willen nicht einfallen will, was Madeleine meinen könnte: „Von was für einem Stress, den dein Vater hatte, ist denn hier eigentlich die Rede?“

„Na, Opa ist doch wieder ausgebüxt! Er hat den Acker gedüngt, den Hinnerk Schmidt von uns gepachtet hat. Du kannst dir vorstellen, wie glücklich der Öko-Heini war, dass Opa ihm eine satte Ladung Gülle auf seinem Bio-Acker hinterlassen hat! Den halben Tank hatte er schon entleert, bevor Hinnerk es gemerkt hat und ihn stoppen konnte“, raunzt ihre Tochter sie an, als sei Daniela höchstpersönlich für die Tat verantwortlich.

„Ach, du Scheiße!“, rutscht es Daniela heraus.

„Mama!“, ruft Madeleine protestierend und erinnert ihre Mutter dadurch daran, dass man erstens dieses Wort nicht in den Mund nimmt und zweitens schon gar nicht im Beisein der jüngeren Geschwister.

„Scheiße!“, kreischt Vicky denn auch gleich vergnügt auf. „Mama hat Scheiße gesagt!“

„Wann war das?“, fragt Daniela, den Ausbruch ihrer kleinen Tochter ignorierend.

„Kurz nachdem Papa nach Hause kam“, antwortet Made-leine, die damit zugeben muss, dass ihre Mutter unter diesen Umständen nichts von den neuerlichen Eskapaden des dementen Großvaters wissen kann.

„Hat Inge denn nicht gemerkt, dass Opa stiften gegangen ist?“, fragt Daniela hilflos, obwohl sie weiß, wie überflüssig diese Frage ist. Die Gründe für das Unglück eruieren zu wollen, ändert an den Fakten jetzt auch nichts mehr.

„Das hat Papa sie auch gefragt. Er war ganz schön sauer. Mann, hat der geschimpft!“, erzählt Madeleine. Voller Empörung über die Nachlässigkeit ihrer Großmutter schüttelt sie den Kopf. Daniela wirft ihr einen fragenden Blick zu und schließlich lässt sich ihre Tochter dazu herab, auch die restliche Geschichte zu erzählen. „Oma hat wohl wieder geraucht und deshalb nichts mitbekommen. Jedenfalls habe ich das herausgehört, als Papa und sie miteinander zankten.“ Madeleine runzelt die Stirn. „Also, warum Rauchen ein Grund dafür sein soll, nicht mitzubekommen, dass Opa abhaut und Mist baut, verstehe ich nicht. Doch bei Papa hat Omas Ausrede scheint’s gezogen und er war dann auch nicht mehr sauer.“

Daniela steigen Tränen in die Augen. Schnell versucht sie sie wegzublinzeln.

„Ist was?“, fragt Madeleine, die die Regung im Gesicht ihrer Mutter dennoch bemerkt hat.

Die schüttelt den Kopf. „Ich habe nur innerlich gegähnt“, lügt sie. Sie setzt eine betont zuversichtliche Miene auf und wendet sich Vicky zu, die ihren Kopf müde auf ihrer Schulter abgelegt hat. „Und wir beide gehen jetzt in die Heia.“

Mit einem Ruck fährt der Kopf ihrer kleinen Tochter in die Höhe. „Sarah aber auch!“, fordert sie beleidigt.

„Natürlich muss Sarah auch in die Heia“, bestätigt Daniela. Sie wendet sich noch einmal Madeleine zu. „Ich bringe die Kleinen ins Bett und sehe danach nochmal bei Oma und Opa nach dem Rechten. Du machst nicht mehr so lange?“

„GNTM hat doch gerade erst angefangen!“, protestiert Madeleine.

Daniela nickt gottergeben. Sie hat es ihrer Tochter versprochen, und nachdem sie sich an diesem Abend wirklich sehr um die Geschwisterbetreuung verdient gemacht hat, bringt sie es nicht übers Herz, sie vor dem großen Finale ins Bett zu schicken. Auch, wenn sie weiß, dass es dafür morgen umso länger dauern wird, ihre Große aus den Federn zu bekommen. Wieder einmal fragt sie sich, ob diese Fernsehmacher keine halbwüchsigen Töchter haben und ob sie es wirklich okay finden, wenn vierzehnjährige Teenager erst um kurz vor elf an einem ganz normalen Wochentag schlafen gehen. Doch auch die Auseinandersetzung mit dieser Frage wird sie nicht wirklich weiterbringen, ermahnt sie sich. Also schaut sie nur seufzend Madeleine hinterher, die sich eilig vor den Fernseher verzieht, weil die Werbepause vorbei ist und sie keine Sekunde von den Abenteuern der angehenden Models verpassen will. Dann muss Daniela wirklich ein Gähnen unterdrücken. Erschöpft dreht sie sich um und trägt ihre Tochter, die wie ihre Mutter kaum noch die Augen offenhalten kann, die Treppe hoch ins obere Geschoss.

***

Fünfundzwanzig Minuten später verlässt Daniela das Haus. Zuvor hatte sie noch ihre beiden kleineren Töchter ins Badezimmer gescheucht und dann ins Bett gebracht, um ihnen dort eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, bei der sie selbst fast eingeschlafen wäre. Anschließend hatte sie ihrer Tochter Madeleine das Versprechen abgenommen, gleich nach dem Finale von GNTM selbst ins Bett zu gehen. Nun tastet sie sich im Wintermantel und mit den praktischen grünen Crocs für Hof und Garten an den Füßen den dunklen, matschigen Feldweg entlang zum Haus der Schwiegereltern. Es liegt hinter dem Kuhstall auf einem kleinen Stück Land, das Inge und Alfons, nachdem sie die Verantwortung für die Landwirtschaft abgegeben hatten, in einen picobello gepflegten Garten mit ordentlich gestutzten Hecken und im Sommer üppig blühenden Beeten verwandelt haben. Der Garten ist ihre ganze Freude. Zu der Zeit, als sie selbst noch den Hof geführt hatten, hatte die Zeit für solche Dinge gefehlt.

Als Daniela den Kuhstall passiert, sieht sie Licht im Gewächshaus, das gleich neben dem Haupthaus steht. Wie sie erwartet hat, entdeckt Daniela ihre Schwiegermutter hinter einem riesigen Oleander, der hier überwintert. An einem alten Esstisch, auf dem Inge normalerweise ihre Blumen und Kräuter umtopft, hat sie sich eine kleine Sitzecke eingerichtet mit zwei Plastikstühlen und einem halbhohen Regal, in welchem sie neben einigen Utensilien zur Pflanzenpflege einen Wasserkocher, eine Teekanne und einige Becher untergebracht hat.

Im Schein einer alten Petroleumlampe auf dem Tisch erblickt Daniela das eingefallene Antlitz ihrer Schwiegermutter. Gerade zieht Inge an einer selbstgedrehten Zigarette, was ihr Gesicht noch hagerer wirken lässt als sonst. Daniela schluckt, und für einen Moment droht sie erneut die Traurigkeit zu übermannen. Sie beobachtet, wie die Zweiundsiebzigjährige, die es sich in eine dicke Decke gehüllt in einem der Plastikstühle bequem gemacht und ihre Beine auf dem anderen abgelegt hat, den Rauch genussvoll inhaliert, dann die Backen aufbläst und anschließend den Qualm in einem Schwall wieder ausstößt. Dabei wirkt die Frau recht zufrieden, ja, man könnte auch sagen heiter und guter Dinge.

Daniela reißt sich zusammen und ruft gespielt gut gelaunt: „Wusste ich es doch, dass ich dich hier finde!“

Die ältere Dame hebt den Kopf, schaut sie an und verzieht das Gesicht zu einem Grinsen. „Wenn ich meine Auszeit brauche, ist das hier der beste Platz der Welt“, erläutert sie ihrer Schwiegertochter mit ihrer tiefen, rauen Stimme. Ächzend richtet sie sich auf und schiebt ihre Beine vom zweiten Plastikstuhl. Mit einer knappen Geste fordert sie Daniela auf, darauf Platz zu nehmen. Die zieht den Stuhl an sich heran, fegt zwei eingetrocknete Lehmbrocken von der Sitzfläche, die Inges Schuhe dort hinterlassen haben, und lässt sich schwerfällig nieder.

„Hast du Schmerzen?“, fragt sie ihre Schwiegermutter und blickt ihr prüfend ins Gesicht.

Die Angesprochene lächelt und sieht mit grimmiger Entschlossenheit auf die unregelmäßig geformte, rot glimmende Papiertüte zwischen ihren knochigen Fingern. „Wenn‘s zu schlimm wird, entspannt mich das Zeug ganz gut.“ Erneut nimmt sie einen Zug und inhaliert tief in ihre Lungen hinein. „Um die Aussetzer meines Göttergatten mit Humor zu nehmen, hilft es ebenfalls“, fügt sie sarkastisch hinzu.

Daniela seufzt. Das bringt ihr ihrerseits einen prüfenden Blick der Schwiegermutter ein. Wortlos reicht Inge ihr die glimmende Papiertüte hinüber, die Daniela kommentarlos ergreift. Sie zieht daran fast ebenso genießerisch wie es Inge vor ihr getan hat. Anschließend entlässt sie den Rauch in einem langgezogenen Luftstoß wieder aus ihrer Lunge und reicht den letzten Rest der Tüte zurück an ihre Schwiegermutter.

„Ich weiß, dass ich bei der Erziehung meines Sohnes Fehler gemacht habe, und es tut mir leid“, bemerkt Inge aufs Geratewohl.

Daniela ringt sich ein schiefes Lächeln ab und schüttelt müde den Kopf. „Du hast nichts falsch gemacht. Erik ist halt ein Mann.“

„Pah!“ Inge lässt ein kurzes verächtliches Lachen hören. „Er ist wie sein Vater.“

„Weil der auch ein Mann ist?“, fragt Daniela spöttisch.

Inge presst die Lippen aufeinander, zieht die Mundwinkel herab und nickt zustimmend. Dann zieht sie ein letztes Mal an dem Glimmstängel und drückt den verbliebenen Stummel im Aschenbecher aus. „Ich bezweifle, dass das als Entschuldigung ausreicht, aber im Kern magst du recht haben“, gibt sie zu. Sie hebt den Kopf und mustert ihre Schwiegertochter mit wissendem Blick. „Erik hat sich mal wieder verpisst, stimmt‘s?“

Daniela nickt. Automatisch beginnt sie, ihren Mann zu verteidigen. „Für ihn ist es auch nicht immer leicht“, setzt sie an und stutzt. Ist das nicht genau die gleiche Argumentation, die ihre Tochter vorhin gebraucht hat und der sie nicht wirklich etwas abgewinnen konnte? Und jetzt sagt sie es selbst? Sie schüttelt den Kopf. Eigentlich weiß sie doch ganz genau, dass es in dieser Situation kaum jemanden gibt, der es leichter hat als ihr Mann. Sein dementer Vater wird von seiner Mutter betreut, die unheilbar an Krebs erkrankt ist. Um beide wiederum kümmert sich seine Frau, die auch die Kinder und die Landwirtschaft versorgt. Tagsüber ist Erik fein raus, sobald er im schicken Anzug das Haus verlässt und in sein von einer Reinigungskraft gepflegtes Filialbüro fährt. Abends und am Wochenende setzt er sich auf den Trecker, wenn er Abwechslung vom Bürojob braucht, und schmeißt bestenfalls den Grill an, um „für die Familie zu kochen“, wie er es nennt. Dabei lässt er die Salate von seiner Frau schnibbeln, die nebenbei noch den Tisch deckt und Brötchen im Ofen aufbackt.

„Vermutlich bin ich selbst schuld, weil ich ihm immer alles abnehme“, sagt Daniela selbstkritisch. „Außerdem bin ich froh, dass er das Geld nach Hause bringt. Von der Landwirtschaft allein könnten wir nicht leben.“

Inge nickt. „Da hast du natürlich recht“, gibt sie zu. „Trotzdem solltest du ein bisschen auf dich aufpassen. Lass dir nicht zu viel gefallen! Er wird es dir nicht danken.“

Daniela lächelt müde. „Ich weiß“, sagt sie. Doch dann ändert sich ihr Blick und in ihre eben noch müden Augen tritt ein warmer Glanz.

Inge bemerkt es wohl. „Du liebst ihn“, stellt sie fest, und es klingt fast ein wenig mitleidig.

Daniela nickt schuldbewusst.

Inge seufzt. „Ich habe Alfons auch geliebt.“

Überrascht wendet Daniela den Kopf. „Habe geliebt?“, fragt sie zweifelnd.

Inge zieht die Augenbrauen hoch und denkt nach. „Nein, vermutlich hast du recht. Ich liebe ihn immer noch. Sonst würde ich das Ganze“, sie nickt in Richtung des Wohnhauses, „gar nicht aushalten.“ Nach einer Pause fährt sie fort. „Aber es ist nicht mehr dasselbe“, murmelt sie.

„Weil er nicht mehr derselbe ist?“, will Daniela wissen. Sie betrachtet ihre Schwiegermutter, die reglos in ihrem weißen Plastikstuhl sitzt, voller Mitgefühl, während die über ihre Frage nachzudenken scheint.

Inge schüttelt schließlich den Kopf. „Nein, das war schon früher so. Vor seiner Krankheit“, gibt sie zu.

Erstaunt zieht Daniela die Augenbrauen empor. Inge bemerkt ihren fragenden Blick. Ein grimmig-süffisantes Lächeln malt sich auf ihrem Gesicht. „Er ist fremdgegangen“, klärt sie ihre Schwiegertochter auf.

Vor Schreck verschluckt sich Daniela und muss husten. Als sie sich wieder gefangen hat, fragt sie: „Bist du dir sicher?“

Inge grinst und es wirkt erneut beinahe mitleidig, als sie antwortet: „Ja, das bin ich wohl. Ich habe die beiden erwischt, als es gerade ordentlich zur Sache ging.“ Sie schüttelt den Kopf. „Da gab es nichts mehr abzustreiten“, murmelt sie. Ihr Blick wirkt plötzlich abwesend, als würde sie die betreffende Szene noch einmal vor ihrem geistigen Auge an sich vorüberziehen lassen.

Daniela schweigt betroffen. „Du bist bei ihm geblieben“, stellt sie nach einer Weile fest. Ihre Frage, die bei dieser Feststellung mitschwingt, ist deutlich herauszuhören: Warum hast du ihn nicht verlassen?

Inge versteht, was Daniela wissen will. „Wir waren schon nicht mehr ganz jung, als ich dahinter kam“, antwortet sie. Dann denkt sie nach und ergänzt: „Beziehungsweise, als ich die Augen nicht mehr davor verschließen konnte, dass er mich hintergeht, weil ich die beiden im Kuhstall erwischt habe.“

Daniela ist schockiert. „Wer war sie?“, will sie wissen.

Ihre Schwiegermutter schüttelt abwehrend den Kopf. „Ist nicht so wichtig“, erklärt sie. „Sie war nicht die Erste und nicht die Einzige.“

Danielas Kinnlade sinkt herab. Sie kann nicht glauben, was sie da hört. Beinahe zwanzig Jahre ist sie schon mit Erik zusammen und seit jener Zeit geht sie auch im Haus seiner Eltern ein und aus. Doch in all der Zeit ist ihr niemals aufgefallen, dass etwas in dieser Richtung in der Ehe von Alfons und Inge nicht stimmen könnte. Erik selbst hat nie etwas darüber erzählt.

„Weiß euer Sohn davon?“, fragt sie atemlos.

Inge bricht in schallendes Gelächter aus. Daniela schaut sie verständnislos an, bis ihre Schwiegermutter sich wieder im Griff hat und nur noch vor sich hingniggert. „Klar weiß er davon“, antwortet sie und schließt mit einem „Hihihi“.

Schockiert lehnt sich Daniela in ihrem Stuhl zurück und lässt das Gehörte auf sich wirken. Sie weiß längst, dass sie in solchen Dingen recht naiv ist und es immer als Letzte mitbekommt, wenn irgendwo in ihrem Bekanntenkreis die Karten in Beziehungsangelegenheiten neu gemischt werden. Aber dass sie nicht einmal etwas davon merkt, wenn so etwas in ihrer eigenen Familie geschieht, ist neu für sie. Und erschreckend!

Während sie noch dabei ist, diese Erkenntnis zu verdauen, fährt Inge fort: „Deshalb sag‘ ich ja: Lass dir nicht so viel gefallen! Er wird es dir nicht danken.“ Plötzlich scheint ein Gedanke durch ihren Kopf zu wandern, der sie erheitert. Sie grinst spitzbübisch und lehnt sich vertraulich zu ihrer Schwiegertochter hinüber. „Wenn dir mal alles zu viel wird, kann ich dir nur raten, dir auch ein Verhältnis zuzulegen“, raunt sie.

Belustigt schaut Daniela sie an. „Du hast geraucht“, entgegnet sie gespielt missbilligend.

Inge lacht. „Das auch“, gibt sie zu. „Aber im Ernst: Warum sollen sich Frauen jeden Spaß verkneifen? Ihre Männer tun es doch auch nicht. Und manchmal ist ein kleiner Seitensprung vielleicht das Vernünftigste, was man tun kann, anstatt gleich die ganze Ehe zu zerstören. Du weißt genauso gut wie ich, dass da viel mehr dran hängt als nur Sex und Liebe.“ Inge seufzt.

Daniela wirft ihr einen mitfühlenden Blick zu. Gleichzeitig weiß sie, dass das, was ihre Schwiegermutter andeutet, für sie selbst keine Option wäre. Mit einem Mann zusammenzuleben, der sie hintergeht? Unmöglich. Ihn selbst zu betrügen? Völlig undenkbar!

„Es tut mir leid“, sagt Daniela zu Inge, ohne auf deren Rat einzugehen. Gleichzeitig spürt sie, wie erleichtert sie darüber ist, dass es hier um das Schicksal ihrer Schwiegermutter geht und nicht um ihr eigenes.

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