Kitabı oku: «Was für ein Leben!»
Die Erzählungen wurden von Gianni Celati für diese Ausgabe zusammengestellt. Leben auf der Weide, Ein modernen Held und Eine Episode aus dem Leben des Schriftstellers Virgilio Tritone erschienen erstmals auf Italienisch unter dem Titel Vite di pascolanti 2006 bei edizioni nottetempo in Rom. Diese und die übrigen Erzählungen wurden in den beiden Bänden Costumi degli italiani, Band 1: Un eroe moderno, Band 2: Il benessere arriva in casa Pucci 2008 bei quodlibet in Macerata veröffentlicht.
E-Book-Ausgabe 2020
© 2008 quodlibet, Macerata
© 2008 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin.
Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Photographie © corbis.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
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ISBN: 978 3 8031 4293 1
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3219 2
Leben auf der Weide
In seiner Jugend war Pucci schmächtig, schüchtern und schlecht angezogen und er ging mit gesenktem Kopf, der schief auf eine Seite hing, seiner Wege. Vielleicht hielt er seinen Kopf so, weil sein Gehirn nicht im Lot war, wie sein Vater sagte. Die erste Zeit seines Lebens, die mir in den Sinn kommt, ist die, als er in der Schule, in die auch ich ging, zum dritten Mal in derselben Klasse durchfiel.
Der Bau muss früher einmal ein Gefängnis oder ein Kloster gewesen sein, und im ersten Stock befand sich ein großer Salon mit Fresken an der Decke, die dort oben in der Höhe die Arbeiten des Herkules zeigten. An den zwei Längsseiten dieses Raumes, den ich Salon genannt habe, waren die Türen der Klassenzimmer. Jede Klasse eingesperrt in ihr Zimmer, durch die Fenster sah man nicht den Himmel, sondern andere Fenster anderer Zimmer, in die andere Klassen eingesperrt waren. Die Mädchen saßen immer in den vorderen Bänken, weil sie besser waren als die Jungen, abgesehen von einigen Jungen, die so gut waren wie die Mädchen. Ah, die Köpfe da vorne mit den immer gehobenen Fingern, um was zu sagen! Diese Finger erinnerten an Hunde, die sich auf die Hinterpfoten stellen, um ihrem Herrchen zu gefallen. Pucci hat nie den Finger gehoben, nicht ein einziges Mal in seinem Leben, und er versteckte sich in der letzten Bank, weil er nichts zu sagen hatte.
Am ersten Schultag waren wir alle wie Kugeln, die ziellos über einen Billardtisch rollten, der eine ein bisschen früher, der andere ein bisschen später, nach der Reihenfolge der Ankunft in den Bänken. Aber Pucci stellte fest, dass die Schüler, die sich in die vorderen Bänke gesetzt hatten, diejenigen waren, die in der Schule gut vorwärts kamen, und die Schüler, die sich in die hinteren Bänke gesetzt hatten, diejenigen waren, die im Lernen zurückblieben. Er saß in der letzten Bank neben einem Mitschüler namens Bordignoni, und sie waren die schlechtesten der ganzen Schule, ich übertreibe nicht. Haben sich die beiden je gefragt, was sie eigentlich da machten? Sie haben es sich nie gefragt. Pucci erschien die Schule als ein wunderlicher Ort, ein sehr wunderlicher, angefangen beim Namen: Humanistisches Gymnasium. Bordignoni war nicht einmal das aufgefallen und er sagte, er sei hier wegen eines Irrtums seiner Mama, die ihn in eine technische Fachschule habe einschreiben wollen, sich aber im Eingang getäuscht habe.
In dem Sommer, als Pucci zum dritten Mal durchfiel, besuchte er öfter seine Mitschülerin Veratti. Schönwetterlage, die Ferien waren gekommen, und jeder Schüler ging in Freiheit, wohin er wollte. Aber wenn es etwas gab, das Pucci klar erkannt hatte, war es das, dass er nicht kapierte, wozu die Schule gut ist, und infolgedessen auch nicht, wozu die Schulferien gut sein sollten. Das Einzige, was ihm gefiel, war, den ganzen Tag ziellos durch die Straßen zu streichen, dabei langsam mit den Füßen zu schleifen und manchmal stehen zu bleiben, um an der Fassade eines Hauses hochzuschauen. Und wie er so durch die Stadt ging, gelangte er in eine Straße mit Arkaden aus umgekehrten Us und dort wohnte die Veratti aus seiner Klasse.
Das Haustor aus dunklem Holz, Marmortreppen, dritter Stock, ein Stubenmädchen mit Spitzenrüschen machte die Tür auf. Die Veratti war eine, die in der Schule sehr gut war, während man Pucci nicht mehr an der Schule behalten wollte. Aber ihr war dieser streunende Mitschüler irgendwie sympathisch, der plötzlich vor der Tür stand, ohne je eingeladen worden zu sein; unter anderem passte er ihrer Mutter nicht, einer Dame mit abgenutzten Nerven, welcher der rechte Mundwinkel lahmte, wenn sie Pucci zulächeln musste. Doch die Tochter empfing ihn über das ganze Gesicht lächelnd, dass einem das Herz weit wurde, und dann spielte sie Klavier, damit er hören konnte, wie gut sie spielte.
Die Mitschülerin Veratti, von allen ein hübsches Mädchen genannt, stand fest auf ihren Beinen und hatte abgesehen davon, dass sie Klavier spielte und in der Schule gut war, noch eine Spezialität: ein strahlendes Lächeln, anstandshalber. Was in der damaligen Zeit großen Eindruck machte, denn wir wussten noch nicht, dass man einfach so lächeln kann wegen nichts und wieder nichts. Deswegen stellte man sich weißgottwas vor, weil man dachte, man sei ihr wunder wie sympathisch, während sie einen vielleicht nie angeschaut hatte. Vielleicht ging Pucci zu ihr, weil auch er auf diesen Zauber hereingefallen war? Kann sein. Er hörte ihr beim Klavierspielen zu, und wenn sie zu Ende gespielt hatte, ging er wieder weg, ohne ein Wort gesagt zu haben. Anzumerken ist auch: Puccis Eltern freuten sich, dass ihr Sohn von der Mitschülerin Veratti zu Hause empfangen wurde, denn der Papa der Veratti war Diplomingenieur Veratti.
Der beste Freund Puccis war in diesem Augenblick der Entwicklung seines Lebens Bordignoni. Es war Bordignoni, der ihm die berühmte Feststellung eingegeben hatte: Ist einer mal geboren, dann ist ihm schon der größte Teil von dem passiert, was ihm im Leben passieren wird. Das verstand man gut, wenn man Bordignoni anschaute, denn er war am ganzen Körper gewaltig, er hatte gewaltige Zähne, eine gewaltige Stirn, eine gewaltige Nase, gewaltige Augen, gewaltige Hände, Füße wie zwei Schaufeln, einen Hals, den man nicht von den Schultern unterscheiden konnte, so gewaltig war er. Außerdem hingen ihm die Lider immer halb über die Augen, den Himmel konnte Bordignoni also nicht sehen. Ich kann mir nicht vorstellen, warum auch er zur Veratti gehen wollte. Vielleicht war es auch bei ihm wegen des strahlenden Lächelns anstandshalber, das schon viele von uns verhext hatte, und ihn, den Jungen aus dem Arbeiterviertel Mame, erst recht beeindrucken musste.
Das Lächeln anstandshalber brachte Bordignoni ganz aus der Fassung, denn es war für ihn eine absolute Neuheit, wie, sagen wir, das Telefon für die Einwohner von Papuasien. Jedenfalls ging er nur einmal zur Veratti, denn sie fand ihn zu gewaltig und konnte es nicht ausstehen, dass er jedes Mal, wenn etwas seine Phantasie beeindruckte, seinen Lieblingsausruf hören ließ. Die Sonne schien durch die schönen Leinenvorhänge in die Wohnung der Veratti und Bordignoni sagte: »Leckmichdoch, so eine Sonne!« Um ins Klavierzimmer zu kommen, musste man auf Filzstücken über die gewachsten Böden schleifen, und Bordignoni sagte: »Leckmichdoch, ist das rutschig!« Auch als er der Veratti beim Klavierspielen zuhörte, hatte er gesagt: »Leckmichdoch, du spielst aber gut!« Damit war er verurteilt, und nachher musste Pucci allein zur Veratti gehen.
Nachmittags weideten Pucci und Bordignoni auf den Straßen, aber sie wussten nie wohin. Sie gingen, wohin sie ihre Schuhe trugen, und Pucci sagte nie ein Wort. Bordignoni dagegen wiederholte andauernd seinen Lieblingsausruf: Leckmichdoch hier, Leckmichdoch da, bei allem, was er unterwegs sah. So war es immer, trotz der halb heruntergelassenen Augenlider, die ihm einen guten Teil des Panoramas verdeckten. Eines Tages wussten sie nicht, wohin sie gehen sollten, und so beschlossen sie, den Trambahnschienen zu folgen, auf Straßen, die aus der Stadt hinausführten: nie gesehene Viertel, Gärten mit großen Bäumen, Vorstadthäuschen, Radler, vorbeifahrende Laster. Sie gingen und gingen, aber die Trambahnschienen hörten nicht auf, und Bordignoni sagte: »Leckmichdoch, wo gehen wir eigentlich hin?« Ich kann mich aber nicht erinnern, wie dieses sommerliche Abenteuer ausgegangen ist.
Doch mir kommt etwas in den Sinn, bei dem Bordignoni seine Augenlider mehr als gewöhnlich hochzog, das waren die Frauen mit ausladender Brustbildung. Da entsprang ihm sein Lieblingsausruf direkt aus dem Herzen: »Leckmichdoch! Schau mal die an, solche Brüste!« Pucci hatte kapiert, dass er ihm nicht zu antworten brauchte, um ihre Unterhaltungen weiterzuführen; er brauchte nur mit demselben Schritt weiterzuschlurfen, den glucksenden Ausrufen seines Freundes folgend. Pucci hörte ihm zu, genau so ruhig, wie er seiner Mutter zuhörte oder dem Surren eines Radios, das stundenlang lief, und man wusste gar nicht, wovon es redete. Auf ihren sommerlichen Gängen hatten sie einander nie was zu sagen, aber Bordignoni begann hin und wieder zu glucksen.
Jetzt denke ich an die Tage des nahenden Sommers, am frühen Morgen die Schatten sehr lang, wenig Leute auf der Straße und ein Hauch von Müdigkeit überall, dass es eine Freude war. Sonnige Straßen mit der Stille der leeren Tage, verschlafene und dem Blick gewogene Häuser. Und die Kühle in den Hauseingängen? Gehört zu den besten Erinnerungen. Jemand fuhr mit dem Fahrrad in der Sonne vorbei und du kamst dir vor wie am Äquator. Jemand stand am Fenster und sofort musstest du gähnen. An solchen Tagen behagte es einem, träg zu sein und zu summen wie die Fliegen in den Küchen auf dem Land, dann ohne Ziel die Schuhe mitzuziehen und wie die Hunde herumzustreunen auf der Suche nach einem Knochen. Die Gedanken zerflossen in der Bewegung der Füße, und man wusste nichts mehr von Vater, Mutter, Familie und hatte auch vergessen, dass man einen Vornamen und einen Nachnamen hatte.
Am liebsten hätte man sich wie die Katzen im Schatten auf den Bürgersteig gelegt, anstatt immer dieselben Runden zu drehen. Pucci und Bordignoni hatten ihre Wege und die waren wie etwas Hingekritzeltes: vom Stadtplatz zum Bahnhof und vom Bahnhof zu der Grünanlage hinter dem Rathaus, von der Grünanlage hinter dem Rathaus zum Sportplatz, vom Sportplatz zum Stadtviertel Doro und dann zurück zum Bahnhof und zum Stadtplatz. Fünf oder sechs Stunden auf dieser Weide, mit dem Widerschein der Sonne auf dem Straßenpflaster und in der warmen Luft, die einen schläfrig machte, am Ende schafften sie es nicht einmal mehr, einander ciao zu sagen.
Von der Stadt, in der es Pucci zugefallen war, zur Welt zu kommen und zur Schule zu gehen, habe ich im Moment nur die blassen Farben der Häuser im Sinn und die schmalen Straßen mit Kopfsteinpflaster, auf denen wir unterwegs waren, die Hände in den Taschen. Es gab einen Stadtplatz mit einem breiten Spazierstreifen und Arkaden, wo die Leute gegen Abend ihre Runden drehten. Viele machten unter den Arkaden im Café Commercio halt, wo sie vor dem Abendessen einen Aperitif tranken, hier kannten sich alle und grüßten sich alle freundlich. Da waren die Rechtsanwälte, die Notare, die Bankangestellten, die Honoratioren, die eleganten Fatzkes, die Söhne der Einzelhändler und die Sprosse der besten Familien mit ihrem Anhang von Freunden, die am mondänen Leben teilnehmen wollten. Dann waren da auch einfache Weidetiere wie Pucci, Bordignoni und ich, die mit der Woge abendlicher Freundlichkeiten kaum etwas zu tun hatten.
Wenn wir dort vorbeikamen, dann schaffte es Bordignoni nicht einmal mehr, seinen Lieblingsausruf zu glucksen, er wurde schüchtern und kleinlaut, wobei ihm die Augenlider fast ganz hinuntersanken. Offenbar passten seine Gefühle weder zu diesem Ort noch zu dem dort wehenden Lüftchen, einem Lüftchen gestopft voll Geschwätz und moralischer Urteile, das wir in unseren Ohren pfeifen hörten. Es war aber klar, dass die anderen seriöseren Bürger hier auf dem öffentlichen Platz zu Hause waren, da sie in aller Ruhe unter den Arkaden spazierengingen, wo es ranzig roch und die Luft gefärbt wirkte. Eine bläuliche Luft, weil die Glühbirnen an der Decke der Arkaden mit blauem Papier bedeckt waren, viele bei den Begegnungen gewechselte Worte und Lächeln und die Seelen der Bürger schwammen im gefärbten Licht.
Abends bot sich dann auf dem Platz noch ein nicht ganz uninteressantes Schauspiel, bei dem aber Bordignoni Depressionen bekam. Man sah Massen schöner Frauen, die ihre gute Figur und ihre schönen Kleider zur Schau stellten, wobei sie Herden von Männern zulächelten, die ihre Augen weit nach ihnen aufrissen. Das Lächeln, das die schönen Frauen über die Menge der brünstigen Männer ausgossen, galt nie einem abgerissenen oder zahnlosen oder beklagenswertem Typ; es war immer bestimmt für Personen, die man schon meilenweit entfernt als wohlhabend erkannte. Denn der wohlhabende Bürger glänzt stärker als der rechtschaffene, nicht wohlhabende Bürger, und oft sticht er hervor durch eine gesündere Gesichtsfarbe, gut frisiertes Haar, einen flinken Kopf wie ein Torpedo.
Auf jeden Fall hatten wir trotz unserer Ahnungslosigkeit begriffen, dass die schönen Frauen Wert darauf legen, nur von solchen Männern angeschaut zu werden, die über ein gutes Gehalt verfügten, weswegen sie sich freuten, auf der Welt zu sein, und womöglich auch eine Empfehlung des Katholischen Vereins hatten; während es einen so gewaltigen und abgerissenen Jungen wie Bordignoni nach ihrem Geschmack nicht einmal auf der Welt hätte geben sollen. Bordignoni, der seine Augenlider mehr als gewöhnlich hochschob, wenn er eine Frau erspähte, die nicht schön war, aber riesige Brüste hatte, ließ sie fast ganz herunterfallen, wenn er einer schönen Frau begegnete. Er wurde verzagt, weil er in Betracht zog, dass er für eine schöne Frau weniger interessant war als ein Prellstein.
Am Anfang des Sommers kam es manchmal vor, dass Pucci und ich uns auf unseren nachmittäglichen Gängen begegneten. Wir weideten ein bisschen zusammen, ohne den Mund aufzumachen, und sonntags trafen wir Bordignoni mit unserem verstörten Mitschüler namens Rinaldi. Mit ihnen gingen wir in ein Kino im Zentrum, dessen Fassade mit Trompeten und Geigen und anderem Zeug aus Gips geschmückt war; es war ein ehemaliges Theater, wo der rote Samt der Sitze aufgerissen war, das Stuckwerk von den Kranzgesimsen abbröckelte und wo der Abortgestank schwadenweise hereinkam, in der obersten Galerie, wo wir saßen. Die oberste Galerie wurde von Männern besucht, die Jungen aufzugabeln suchten und uns hinter den Säulen versteckt zuwisperten. »He, pss, pss!« Wenn wir vorbeigingen, zischelten sie etwas, um uns in die Klos zu locken: »He, du, hör mal, komm her!« Manchmal sahen wir Kerle aus der Unterwelt, die im Schatten mit Messern aufeinander losgingen oder Polizisten, die einen wegzerrten, während der Film weiterlief und viele Zuschauer nichts merkten.
Die interessantesten Filme, die wir sahen, waren Lustspielfilme und dann kamen die, in denen die Helden Verbrecher waren, die am Schluss ins Gefängnis kamen oder tot waren. »Ex operibus eorum cognoscetis eos«, sagt der Apostel Matthäus. Der Verbrecher, dem die moralische und bürgerliche Ordnung scheißegal ist, und der dann in den Knast oder zur Zwangsarbeit geschickt wird, zeigt viel mehr Kraft als der glückliche Held, der eine schöne Frau heiratet und herrschaftlich lebt. Die Filme mit den glücklichen Helden, die dann immer eine schöne Frau heiraten, waren sämtlich geistlos. Bordignoni murrte: »Leckmichdoch, stinklangweilig!« Und wir kamen aus dem Kino, die Hände in den Taschen, und dachten, ob es so was überhaupt gibt, so langweilige Leute, bei denen alles immer gutgeht. Der verstörte Rinaldi sagte, das gebe es nur in Amerika.
Wie jetzt die Feder so übers Papier gleitet, kommen viele Tatsachen hervor, die aus einem Sumpf vergessener Dinge aufsteigen, wobei sie Orte und Personen zum Vorschein bringen, die es irgendwo unter dem Himmel gegeben haben muss. Wie etwa die Leute, die sich jeden Abend zum Spaziergang auf dem Stadtplatz einfinden, immer pünktlich zur festgesetzten Zeit, alle gut gekleidet für die Zeremonie der gesellschaftlichen Begegnungen, aufs höchste von städtischem Geist beseelt. Ich erkenne die vom Schneidermeister Masi angefertigten Sakkos und Mäntel, die beim Hutmacher Zaniboni- Forti gekauften Hüte, die vom Geschäftsmann Paci importierten Regenmäntel, die eleganten Schuhe aus dem Schuhgeschäft Del Pane; ich erkenne alle, die auf den Platz kamen, jeder mit seinem schönen Anzug, seinem Hut, den neuen Schuhen, nur weil das ganze Leben zu dieser ewigen Abenddämmerung der Begegnungen führt. Natürlich erscheint im Lauf der Jahreszeiten der Nachwuchs, die Mannschaften der jungen Sprösslinge aus unserer Schule und der Stadt; und jeder kam zum abendlichen Treffen in der Überzeugung, die Welt erwarte nur ihn, oder auch verärgert, wenn es ihm vorkam, sie warte auf einen anderen statt auf ihn. Jeder dreißig oder vierzig Jahre lang hier, um seine Kleider zu zeigen, seine Vergleiche zu ziehen, seine Kommentare abzugeben, und dann weg, hinüber zu anderen ewigen Dingen.
Abends ermahnte Puccis Mutter ihren Sohn, er solle sich ernsthaft ans Lernen machen: »Aurelio, du musst verstehen, wir bringen große Opfer, damit du in die Schule gehen kannst.« Leidenschaftlich liebte sie die religiöse Bedeutung des Wortes >Opfer<, auch wenn sie nicht leidenschaftlich gern in die Kirche ging, aber dafür leidenschaftlich gern das Fleisch ihres Dekolletés ausstellte. Doch vielleicht war diese Ausstellung die Folge eines organischen Überflusses und nicht eines Verlangens, etwas herzuzeigen, da an Frau Pucci im Allgemeinen eine melancholische Zurückhaltung beeindruckte. Ich erinnere mich gut an sie, denn, als ich die ersten Jahre ins Gymnasium ging, schaute ich ihr gern auf der Straße nach, weil sie so schöne Formen hatte, dass ich davon träumen musste; großen Eindruck machte mir ihr langer, fester Schritt, vor allem aber gefielen mir ihre schwarzen Augen und ihr zurückhaltender Blick. Sie ging, ohne um sich zu schauen, wie jemand, der sich allein fühlt auf der Welt; dann begann sie manchmal auf dem Bürgersteig zu rennen, als wäre sie plötzlich ganz verzweifelt und wollte weglaufen, um sich zu verstecken.
Jedenfalls hätte es Frau Pucci auch leidenschaftlich gern gesehen, wenn ihr Sohn etwas gelernt hätte, und das war der Grund der Opfer und der allabendlichen Ermahnungen. Jetzt, wo sie auf die Ergebnisse am Ende des Schuljahrs wartete, redete sie so ähnlich wie jemand, der auf ein Pferd gesetzt hatte, mit demselben Hin und Her zwischen Furcht und Hoffnung. »Aurelio, meinst du, es geht gut?« »Ja, ja«, antwortete der Sohn. So beruhigte sie sich und sprach von was anderem. Doch dazu ist zu sagen, dass die schulischen Leistungen nicht zu Puccis Gedanken gehörten, nicht einmal zu einem winzigen Teil davon, deshalb konnten sie ihm auch keine schlimmen Vorahnungen einflößen, die er mit seiner Mutter hätte teilen können.
Abends wartete er im Übrigen nur darauf, dass die Stunde schlug, in der er mit seinem Freund Bordignoni ausging, und er aß geschwind seine Suppe. »Aurelio, iss nicht so schnell!« Dann löffelte er langsamer und spürte in dem Moment, wie ihn der Abend umfing mit dem Geräusch anderer Löffel und anderer Gabeln aus dem unteren Stockwerk, und es ging ihm durch den Kopf, ob nicht alle dasselbe machten und nicht alle dasselbe dachten wie er, während sie ihre Suppe aßen, und sogar, ob nicht in anderen Häusern andere Puccis saßen, die auf immer ihre Suppe in der Familie aßen, aber alle schleunigst rauswollten wie er. »Aurelio, hörst du mir zu?«, fragte die Mutter. »Ja, ja«, antwortete der Sohn. »Schläfst du eigentlich oder fehlt dir was?« Es waren leere Augenblicke, die meinem Freund Pucci nicht schlecht gefielen, man muss nämlich wissen, je leerer die Augenblicke waren, desto besser passten sie zu seinen Gefühlen.
Pucci hörte auf die abendlichen Geräusche bei den Pedralis im Erdgeschoss, wo das Radio in der höchsten Lautstärke lief, während er vor dem Fenster die Lichter anderer Häuser sah, die genauso waren wie seins. Dann betrachtete er den Wecker auf der Kredenz, ein bescheidenes Ding, doch unter den gnädigsten für sein Leben, denn er zeigte ihm den genauen Augenblick an, in dem er ruckartig aus der Tür und die Treppen hinunter zu laufen hatte. Es gefiel ihm, dass die Minuten vergingen, das Geplauder der Mutter in seinem Ohr immer schwächer wurde, bis nur noch wenige Augenblicke blieben, die dazu dienten, auf die Straße zu rennen, um die Gassenecke zu gehen und pünktlich zur Verabredung mit dem Freund Bordignoni zu erscheinen, um dann auf die abendliche Weide zu ziehen.
Als Belästigung empfand er es, wenn sein Vater heimkam, bevor der Wecker den genauen Augenblick zum Rausrennen anzeigte. Denn Puccis Vater hatte oft die Drohung auf den Lippen, ihn zum Arbeiten zu schicken oder ihn als Alternative in eine Erziehungsanstalt zu geben, wenn er auch diesmal durchfallen würde: »Pass auf, junger Mann, dass wir unser Geld nicht umsonst ausgeben! Wir haben schon genug Opfer gebracht!« Daraufhin griff die Mutter zur Verteidigung des Sohnes ein, wodurch sich das rechtzeitige Losrennen bei der vom Wecker angezeigten Minute verzögerte. Auf dem Angesicht des Vaters war ein tiefer Kummer zu lesen, wenn er daran dachte, dass sein Sohn nicht im Geringsten den Wunsch hatte, sich der Familie nützlich zu machen, sondern nur den, sie mit dem Eigensinn seiner Seele zu ruinieren. Aber der Vater kam abends fast immer spät nach Hause, und gewöhnlich schaffte es der Sohn, diese Unannehmlichkeit zu vermeiden.
Sobald Pucci auf der Straße war, verlangsamte er seinen Schritt. Er schaute den Nachtfaltern zu, die an eine Straßenlaterne stießen, dort oben um einen schwachen Lichtschein kreisten, im Bann von einer Art Taumel wie dem, den er von zu Hause kannte. Er stellte sich Fragen und gab sich Antworten, so gut er konnte, mithilfe der Ideen, die nach und nach in seinem Kopf auftauchten, wie wenn auf einem verwüsteten Acker etwas hervorsprießt. Später landete er in einer psychiatrischen Klinik, wo er immer still blieb und sich diese Erinnerungen eine nach der anderen wieder und wieder erzählte; und ich habe ihn manchmal dort besucht. Aber heute Abend sehe ich ihn wieder vor mir, wie er sich auf der Straße bewegte und seinen Grübeleien nachhing, immer seiner Bestimmung ergeben, manchmal von einem irrsinnigen Widerschein umhüllt, wie die Nachfalter, die an die Straßenlaterne stießen.
In den ersten Julitagen geschah es, dass Bordignoni sein Schülerdasein an den Nagel hängte und eine Arbeit als Gehilfe in einer Mechanikerwerkstatt fand. Seine ganze gewaltige Gestalt steckte jetzt in einem Mechanikeranzug, und er rechnete mit seinem Wochenlohn, um seine Gelüste mit gewissen Frauen zu befriedigen, die er auf der Straße erspäht hatte. Er hatte eine Mustersammlung, die er jeden Abend auf den Spaziergängen mit seinem Freund Pucci durchging, nehmen wir an: Eine Frau auf dem Fahrrad, die er auf ihren sommerlichen Gängen zwei Sekunden gesehen hatte, von der redete er, als stünde es in einer Zeitungsnotiz: »Pucci, weißt du noch, die auf dem Fahrrad mit ihren Wahnsinnsbrüsten?« Pucci antwortete nicht, aber der andere redete trotzdem weiter: »Wenn ich die wieder finde, dann entwischt sie mir bestimmt nicht mehr! Du wirst schon sehen!«
Mit seinem Wochenlohn als Mechanikergehilfe schaffte er sich jetzt eine schöne Garderobe an: Er kaufte sich Hemden mit rosa Streifen, unten weiter werdende Hosen, ein modisches Sakko mit rückwärtigem Schlitz, der ihm bei jedem Schritt über den Arsch hoch stieg. Und wenn er an den Sonntagen so ausstaffiert und mit maximal hochgezogenen Augenlidern spazieren ging, versuchte er Frauen mit ausladender Brustbildung zu erspähen. Er hatte die Theorie, dass eine Frau, wenn man ihr fest in die Augen schaut, sofort begreift, wie viel es geschlagen hat; und wenn sie nicht blöd ist, gibt sie einem zu verstehen, dass sie’s machen würde, wenn es möglich wäre. Das ist die Theorie, die unser Freund der Nachwelt überliefert hat. Aber wenn er unterwegs war, selbst so festlich gekleidet, schaffte er es nicht einmal, einer einzigen in die Augen zu schauen, egal ob alt oder jung, schön oder hässlich. Die Frauen schauten alle anderswohin, sie sahen Bordignoni gar nicht, als gäbe es ihn nicht auf der Welt. »Leckmichdoch«, sagte er sich, »da komm ich ja auf gar nichts!« Und nachher bei den abendlichen Gängen mit Pucci kehrte er in seiner Vorstellung immer wieder zu der Frau zurück, die er zwei Sekunden auf dem Fahrrad gesehen hatte und die seiner Meinung nach eine war, die es machte, denn die war nicht blöd: »Pucci, ich sag’s dir, die macht’s!«
So flogen die Träume des gewaltigen Jungen in Richtung Zukunft. Dann geschah es, dass er eines Sonntags zu Pucci geht, klingelt und wer macht ihm auf? Die Frau, die er zwei Monate vorher auf dem Fahrrad gesehen hat! Oder zumindest eine, die der aus seiner Mustersammlung sehr ähnlich sieht. Vor der Tür stehend riss Bordignoni seine Augen bis zur vollen Pupille auf, dann wurde er rot im Gesicht und am Hals, dann weiß vor Angst, weil ihm klar wurde, dass es Puccis Mutter war. Dann wurde er wieder er selbst mit seiner rosigen Hautfarbe, aber erst, als er mit seinem Freund in dessen Zimmerchen allein sein konnte und die Tür geschlossen war. Diese Emotion ging über seine Gewohnheiten hinaus und er blubberte zwischen den Zähnen: »Brrrg … rrrrg … Leckmichdoch, Pucci!« Der andere schaute ihn an, ohne zu verstehen, bis folgende Beschwerde erhoben wurde: »Aber wie? Du hast eine Mama, dass einem schwindlig wird, und sagst mir nichts davon?«
Bordignonis Besuche gefielen der Mutter nicht. Auch sie stellte fest, dass an dem Jungen alles zu gewaltig war, dass er die Augenlider immer halb heruntergelassen und außerdem ein Schweinegesicht hatte. »Dieser Bordignoni gefällt mir nicht, Aurelio. Der hat ein Gesicht, das mir nicht gefällt.« Doch Bordignoni geriet in Ekstase, wenn er vor ihr stand, von wegen der Liebesvorstellung in seinem Hirn, die ihm vor Kälte den Rücken erhitzte und vor Hitze seine Wangen zittern ließ. Er kam also ein paar Sonntage zu Pucci auf Besuch, um Frau Pucci den berühmten Blick zuzuwerfen, durch den die Frauen angeblich verstanden, wie viel es geschlagen hat. Daraufhin würde auch sie, wenn sie nicht blöd war, ein Zeichen geben müssen, dass sie es wenigstens ein bisschen machte. Es stellte sich aber heraus, dass es ziemlich schwierig war, ihr den überwältigenden Blick zuzuwerfen, denn wenn Bordignoni sie vor sich stehen sah, wurde er krebsrot und dann so weiß wie ein Bettlaken und er zitterte und floh schließlich verwirrt in Puccis Zimmerchen.
Kaum war er allein mit seinem Freund, wischte er sich den Schweiß ab und begann Fragen zu stellen, um zu kapieren, was bei seinen Liebesversuchen nicht klappte: »Hör mal, Pucci, nach deiner Meinung …« Es ist klar, dass Bordignoni irreredete mit dem Fieber eines Verliebten, von den Visionen durchdrungen, die ihm gekommen waren: »Sag mal, stellt sie ihr Zeug immer so zur Schau, dass ihr die Brüste aus dem Büstenhalter rausschlüpfen?« Pucci verstand nichts oder er hörte nicht auf ein gewisses Glucksen und drehte den Kopf auf eine andere Seite, wie es die Katzen machen, wenn sie nicht gestört werden wollen. Aber Bordignoni achtete nicht auf solche Feinheiten, sondern nur auf die Emotionen, die in ihm aufstiegen: »Ach Pucci, du hast ein Glück, du schon!«
Die Mutter versuchte ihre Gespräche zu unterbrechen, und kaum streckte sie den Kopf ins Zimmer, sah man Bordignoni erneut die Farbe wechseln, aber andersherum als bei seiner Ankunft. Das heißt, von rosig nach weiß, dann rot vor Scham, bis er dann auf der Straße wieder zu seinem natürlichen Rosig zurückkehrte, freilich mit einigen rötlichen Flecken. Bei der Phase des Hinausgehens war er aber immer sehr rot im Gesicht, eigentlich feuerrrot, wobei er Puccis Mutter schräg beäugte, über Stühle stolperte, mit dem Schädel gegen die Kante der Haustür schlug, wenn er versuchte ihr den überwältigenden Blick zuzuwerfen. Wenn er draußen war, hatte die Mutter immer eine Bitte an ihren Sohn: »Aurelio, du musst diesem Bordignoni sagen, er soll nicht mehr kommen, er lenkt dich nämlich vom Lernen ab. Hast du verstanden?« »Ja, ja.« »Und außerdem gefällt mir sein Gesicht nicht, mit diesen großen Augen, die mich immer anglotzen. Was hat denn der immer so zu schauen?«
Ich spüre, dass mir die Inspiration vor allem in die Feder fließt, wenn ich an die beinahe leere Stadt denke, an die bebende Luft über dem Pflaster, an die streunenden Hunde, die an den Mauern schnuppern und an die sommerlichen Spaziergänge mit Pucci und Bordignoni. Ein dritter Mitschüler war manchmal auf diesen Gängen dabei; er hieß Scagliarini und schien zu dem einzigen Zweck gemacht zu sein, die Verschwendung an Größe und Dicke bei Bordignoni auszugleichen. Denn wenn an Bordignoni alles dick und groß war und große Lust zeigte, sich noch weiter auszubreiten, so war Scagliarini dünn und beinahe ohne Ausbreitung. Nur sein Profil stach hervor, denn seine rechtwinkelige Nase ragte ihm um einige Zentimeter voraus.
Außerdem: wenn Pucci und Bordignoni Kleidung trugen, die einmal ihren Vätern oder Großvätern gehört hatten und ihnen recht und schlecht passten, so hatte Scagliarini Kleider, die nur ihm passen konnten. Wie der Anzug, den er immer trug, bestehend aus grauem gestreiftem Sakko, enger Hose und schmaler Krawatte mit kleinem Knoten, was ihn ein bisschen wie einen Gangster aussehen ließ. Die Kleidung entsprach seinen Vorstellungen von der Zukunft, denn er wusste, dass er Billardspieler und Pokerspieler werden musste, der nur nachts unterwegs war. Er wusste, dass er auf dem Weg war, der Mann mit dem goldenen Arm zu werden, deshalb trug er einen gestreiften Anzug wie ein Berufsspieler mit Sakko, Krawatte und immer an der Lippe hängender Zigarette.