Kitabı oku: «Der lange Winter»

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Über dieses Buch

Von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag wächst der Schnee, es sind Kristalle ohne Gewicht, die sich vereinen und bis zum Fensterbrett der untersten Fenster hinaufwachsen. Der Haufen kriecht hoch wie eine Hecke, eine Mauer, er verdunkelt die Küchen.

Wenn ich vor Vandas Fenster vorübergehe, schaue ich immer, ob sie hinter den Scheiben steht. Ich hoffe es jedes Mal. Der Gussstein ist direkt vor dem Fenster; sie kämmt sich die Haare im hellen Tageslicht, wobei sie die Arme hebt und den Kopf etwas nach hinten wirft.


Fotografie Yvonne Boehler

Giovanni Orelli, geboren am 30. Oktober 1928 in Bedretto, studierte in Zürich und Mailand und war Lehrer in Lugano. Seine erste Erzählung «L'anno della valanga» machte ihn schnell bekannt. Es folgten verschiedene Romane und Gedichtbände. Auf Deutsch erschienen «Der lange Winter», «Ein Fest im Dorf» und «Monopoly». Heute lebt Giovanni Orelli in Lugano.

«Giovanni Orelli gehört gewiss zu den kühnsten, doch auch zu den heitersten Poeten dieses Landes. Ärmer wäre die italienische Literatur und wären die Literaturen der Schweiz ohne die melancholische Anarchie seiner Gedichte und seiner Prosa.» Neue Zürcher Zeitung

Giovanni Orelli

Der lange Winter

Vorwort von Alice Vollenweider

Aus dem Italienischen von Charlotte Birnbaum

Limmat Verlag

Zürich

Vorwort

Mit dem Buch «L’anno della valanga» hat nicht nur Giovanni Orellis Schriftstellerkarriere begonnen, sondern auch ein neuer Abschnitt in der Tessiner Literatur. In diesem kurzen Roman ist es ihm gelungen, ein Thema der Heimatliteratur aus genauer Beobachtung ohne Pathos oder Sentiment in mythische Erfahrung zu verwandeln. Ein Bergdorf wird eingeschneit und nach fast zwei Monaten wegen drohender Lawinengefahr evakuiert. Der Stoff ist autobiografisch: Orelli hat den schlimmen Lawinenwinter 1951, der in der Schweiz 98 Todesopfer forderte, als 23-jähriger Lehrer in seinem Heimatdorf Bedretto erlebt. Zehn Jahre wartete er, bis er sich daranmachte, das traumatische Erlebnis zu exorzieren, zehn Jahre, während denen er in Zürich und Mailand Italianistik studierte, promovierte und sich als Lehrer ans Gymnasium in Lugano wählen ließ, wo er heute noch lebt.

Die literarische Qualität des Buches fand in der Schweiz und in Italien Beachtung: 1964 wurde es als Manuskript mit dem Charles-Veillon-Preis ausgezeichnet, 1965 erschien es bei Mondadori in Mailand und ein paar Monate später – im Frühjahr 1966 – kam die deutsche Übersetzung beim Rascher Verlag in Zürich heraus. Seltsamerweise blieb die erste Orelli-Anerkennung in der deutschen Schweiz ohne Folgen. Die beiden weiteren Titel, die auf Deutsch erschienen, waren unsorgfältig übersetzt oder nachlässig betreut, so dass sein Name bis heute nur für hartnäckige Liebhaber der Tessiner Literatur ein wichtiger Bezugspunkt geblieben ist. Trotzdem hat Giovanni Orelli vor zehn Jahren als einziger Tessiner Schriftsteller seinen Nachlass dem Literaturarchiv in Bern geschenkt. Aus kulturpolitischen Motiven und aus der Lust, Sprachgrenzen in der Literatur zu überwinden. Und vielleicht war auch die Erinnerung an den frühen Erfolg seines ersten Buches mit im Spiel.

Heute kann man festellen, dass der Erstling auch nach 48 Jahren von seiner ursprünglichen Faszination und Frische nichts verloren hat. Die Chronik der beiden Monate im Schneegefängnis wird vom Ich-Erzähler polyphon erzählt; er kennt seine Dorfgenossen, vor allem die jungen Mädchen und Burschen, so gut, dass er sie in Gesprächen und Begegnungen auf der Straße, in der Kirche, in Stall, Küche und Wirtsstube auftreten lässt, ihnen zuhört, ihre lebendige Gegenwart in einem Netz von Beziehungen, Begegnungen und Empfindungen festhält. Konkret und präzis wird die Bedrohung durch den unaufhörlichen Schneefall geschildert: Die Wahrnehmung bleibt durchwegs auf den alltäglichen Erfahrungsbereich bezogen. Kein Wort fällt über die Landschaft: Nur der hohe Berg wird erwähnt, von dem die Lawine droht, und der Wald, der das Dorf vor der Lawine schützen soll. Den Schnee beobachtet man auf der Straße, auf den Fensterbrettern und auf dem Rücken der Kühe, die von der Tränke kommen. Giovanni Orelli kennt die Magie des Genaunehmens: Der lautlose Schneefall, der alle Konturen verändert und das Dorf langsam unter einer weißen Decke verschwinden lässt, erzeugt untergründige Spannung. Fast unmerklich wächst aus dem Vertrauten das Unheimliche. Die Familien rücken in den Häusern des Dorfkerns zusammen, die immer tiefer hinter Schneemauern versinken. Die Firstbalken biegen sich unter der Last, und der Gedanke an den Tod lässt manche Dorfbewohner nachts keinen Schlaf mehr finden. Gleichzeitig wächst aber auch die Lust am Leben, der Hunger nach Liebe, man bleibt länger auf, in der Osteria wird mehr Wein getrunken und die jungen Leute nutzen, trotz strenger Mütter und Priester, ihre Zeit für Liebesbegegnungen. Die tödliche Umklammerung durch den Schnee weckt Zweifel, Auflehnung und die Sehnsucht nach einem größeren Horizont.

Orellis Bericht vom langen Winter endet mit dem Regierungsentscheid, das Gebirgsdorf zu räumen, bis die Lawinengefahr vorbei ist. Menschen und Tiere finden unten im Tal provisorisch Unterkunft. Die Dorfgemeinschaft löst sich auf; die Jungen suchen sich eine Arbeit und die Alten kehren allein ins Dorf zurück. Das wird auf ein paar Seiten so sachlich und nüchtern berichtet, wie es der neuen Alltagssituation entspricht. Nur ganz am Schluss lässt Orelli für einen Augenblick Pathos aufkommen, wo der Ich-Erzähler mit einem sizilianischen Arbeiter einen Schluck Wein trinkt und seine Erfahrung in dem stolzen Satz zusammenfasst: «Ich grüße den Winter und den Berg und die Lawine, die mich endlich zum Menschen gemacht haben.»

Alice Vollenweider

Alla memoria di mia madre e di mio padre

Der Winter

Matten, Häuser, Bäume und Berg sind mit Schnee bedeckt; und die Raben bedeuten weiteren Schnee. Oben in einem Haus, gerade unter dem Giebel, öffnet sich ein Fenster; aber man kann nicht sehen, wer es ist, die Höhlung bleibt finster. Zwei Jungen, die auf der Straße vorüberkommen, blicken hinauf, ich höre sie sagen:

«Was willst du?»

«Ich habe den Schnee in den Knochen, ich wußte es genau.»

Die alte Frau schließt das Fenster wieder. Unter dem Schnee erscheint unser Wald noch dichter. Ab und zu wird der pulvrige Schnee, der sich still auf den oberen Zweigen der Lärchen und Fichten aufhäuft, schwerer und biegt den Ast; dann fällt er ab, schüttelt weiteren Schnee von anderen, niedrigeren Ästen und verwandelt den Baum in eine weiße Wolke. Die von der Schneelast befreiten Äste schwanken eine Weile in der Luft und beginnen durch den weiter fallenden Schnee langsam wieder weiß zu werden. Unter den Bäumen, zwischen dem einen und dem nächsten Stamm, ist alles schwarz. Einmal stand hinter der zweiten Lärche ein Wolf ruhig auf gespreizten Beinen und blickte auf den Schnee und das Dorf. Jetzt ist unter meinem Fenster nur eine Katze, die sich mit vorsichtigen Schritten im Schnee bewegt, schnuppert und fortläuft.

Unten in der Küche sagen sie mir, es werde um vier Uhr begonnen haben.

Mag es nun Schicksal sein oder nicht – aber es fängt immer morgens um vier Uhr an. Serafinos Maria, die um diese Zeit aufsteht, hat, ohne zu warten, dass vom Tal der Klang des Ave-Maria heraufkommt, die Jalousie geöffnet: Und da fing es an, feinkörnig zu schneien. Als die jungen Burschen noch den Mut hatten, sich unter den Decken auf die andere Seite zu drehen, schickte sie schon ihre Kühe zum Brunnen. «Ich sage euch, nach der Zeit, in der sie das Maul in das Brunnenwasser tauchten, kehrten sie schon mit gut drei Finger hoch Schnee auf dem Rücken in den Stall heim.»

Auch tagsüber beginnt es nach vier Uhr wieder zu schneien. Vorher wird der Himmel höher, wohl wegen der schwachen Sonne, die, wenn auch unsichtbar, dort über den Nebelstreifen scheint. Dann, um die Zeit, da die Sonne gewöhnlich hinter dem hohen Berg verschwindet, senkt sich das Grau des Himmels bis zur Grenze der Dächer, und der Schnee beginnt wieder zu fallen. Vielleicht wird das Wetter die Nacht über geregelt von dem Gesetz, das, wie es heißt, die Geburt bei den Kühen lenkt: Vielleicht ist es eine Wirkung des Mondes, auch wenn man den Mond über den dichten Nebelstreifen nicht sieht; die Bauern wachen bei den Kühen bis Mitternacht, und wenn diese bis dahin nicht gekalbt haben, können sich die Männer getrost drei, vier Stunden auf die Streu werfen – das Kalb wird am frühen Morgen geboren werden.

Wenn ich um Mitternacht zu Bett gehe, hört auch der Schnee auf zu fallen, man sieht nur das Schwarz des Himmels. Abends um vier Uhr beginnt es damit, dass die Luft weicher wird, und dann riecht man den Nebel, der von den Dachfirsten herunterkommt.

Und dann fängt es an; im Anfang ist es ein dichtes Schneegestöber; feine Körnchen, die den Boden nicht berühren, drehen sich geschwind und verlieren sich in Wolken von Schnee. Von den Dachfirsten bläst der Wind weiteren Schnee vor die Haustüren; dann fällt der Wind.

Wenn der Wind fällt, ist die Luft wie leer. Aber das dauert nicht lange: Die Leere füllt sich wieder dicht mit Luft und mit Schneeflocken, die in der nach Schnee duftenden Luft senkrecht und still herabkommen. Es gibt Menschen, die den ersten Schnee ohne Hass oder Furchtgefühle betrachten, von der Türschwelle aus oder oben an einer Steintreppe, oder hinter Fensterscheiben, während sie einen Vorhang beiseite schieben, oder unter dem Dachfirst.

Der Schnee fällt auf andern Schnee mit einem feinen Knistern. Nach einigen Tagen gibt es nur noch das Fallen von Schnee.

Er ist so weich, dicht, kalt und trocken, dass man keinerlei Geräusch hört. Die Schicht wächst ganz still; aber wenn man, ohne im Augenblick daran zu denken, an einer niederen Böschung zu Seiten der Straße vorübergeht und die Leichtigkeit schwer wird, kommt es vor, dass man im Schnee ein geringes Sichsenken bemerkt; eine obere Schicht setzt sich auf die untere, schon festere, und ist nun ihrerseits geeignet, eine neue Schicht Luft und Schnee zu tragen, jene festere immer mehr niederzudrücken, als wohne dieser ein Wille inne, Eis zu werden. Von Schicht zu Schicht, unwahrnehmbar immer höher, immer dichter zugedeckt, verschwinden die Kennzeichen der Pfade, die Grenzlinien, die Hecken auf den Wiesen, die Begrenzungen aus Stein oder Holz, die das Mein, das Dein, das Sein bezeichnen, an der Schwelle des jeweiligen Eigentums, die Erinnerung an den Zentimeter geraubter Erde, die Narben von strittigen Teilungen zwischen Menschen, die längst gestorben sind, die Feldkreuze, die ein Gebet an Gott richten: Alles verschwindet.

Von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag wächst der Schnee, es sind Kristalle ohne Gewicht, die sich vereinen und bis zum Fensterbrett der untersten Fenster hinaufwachsen. Der Haufen kriecht hoch wie eine Hecke, eine Mauer, er verdunkelt die Küchen.

Wenn ich vor Vandas Fenster vorübergehe, schaue ich immer, ob sie hinter den Scheiben steht. Ich hoffe es jedes Mal. Der Gussstein ist direkt vor dem Fenster; sie kämmt sich die Haare im hellen Tageslicht, wobei sie die Arme hebt und den Kopf etwas nach hinten wirft.

Nach dem großen Schneefall dieser Nächte ist nur noch der oberste Fensterrand zu sehen. So kann ich mich mit Vanda nicht mehr mit den Händen durch die Scheiben verständigen.

Wenn ich zu Bett gehe, hat der Schnee alle Schritte des Tages auf der Straße ausgelöscht.

Trifft man diesen oder jenen vom Dorf, so sagt man immer die gleichen Dinge zueinander: Es schneit, es kommt Schnee herunter, es schüttet geradezu Arme voll, es schneit, so viel Gott uns schickt, der Schnee häuft sich, er steigt hoch, er wächst, es sieht nicht aus, als werde es aufhören; wenn er Zucker wäre oder wenigstens Quark, dann könnten wir uns eingraben wie die Murmeltiere, die Maulwürfe; wer hat nur diese Dörfer erfunden! Es ist wie zur Zeit der Regenfälle, aber da sagen wir sehr viel weniger beharrlich einer zum andern: Jetzt wird alles nass, im Juli dagegen oder, wenn es sich hinzieht, im Herbst, jetzt trocknet das Heu. Nur um vor oder nach dem Gruß irgendetwas zu sagen.

Der Oktober hat uns alle getäuscht; den großen Ahorn über unserem Haus, der jetzt so kümmerlich ist, fast ganz begraben, dass ich ihn gar nicht an­sehen mag – den zeigten damals selbst die Bauern einander, als halte er mit seinen vielen goldenen Blättern an den Zweigen die schönen Tage fest. Mariangela sagte das noch öfter als alle andern: für die Tante, die so wenigstens den lieben langen Tag auf den Feldern zubringen konnte, um hier oder da Körner auszuhülsen oder draußen ein Auge auf die Geißen und Hühner zu haben; und der Schlaf kam in der Nacht leichter; und sie starrte nicht immerzu auf die Bank und dachte nicht jede Minute an die Söhne, die in weite Ferne ausgewandert und dann gestorben waren: diese leere Bank! Es würde später so weit kommen, dass die Haustür hinter ihr geschlossen würde, während sie doch, wie jede Mutter in der Welt, darauf zählte, dass der letzte der Söhne die Tür schlösse, ja dass sie nie geschlossen zu werden brauchte, weil immer neue Generationen heranwuchsen. Wenn du an diesen Tagen zu ihr ins Haus kommst, schlägt sie dir ein Ei schaumig, während der Kaffee heiß gemacht wird, und spricht ebenfalls vom Schnee, vom Mond, der bald voll wird; aber wenn du wüsstest, was beim Sprechen hinter jener Stirn vorgeht! Ich weiß nicht, was sie in sich herumwälzt, wenn sie so den ganzen langen Tag vor dem Ofen oder vor der Kaffeekanne hockt.

«Für jemand wie Sie möchte ich die Augen zwei Minuten schließen, sie wieder öffnen und das Land ohne Schnee sehen.»

«Oh, sieh nur, wie er herunterkommt!»

«Es wäre Zeit, dass dieses Im-Schnee-Stapfen ein Ende nimmt», sagt Dionigi, der vorübergeht, «ich weiß nicht mehr, wo ich die Hände hinstecken soll.»

Er hält sie immer in der Tasche. Heute Nacht wird er auf eine Färse Acht geben müssen, die kalben soll. Wenn im Dorf keine Menschen mehr geboren werden, ist es doch schön, dass Tiere geboren werden.

In der Osteria erzählt er mir von Gemüsesuppen mit ganz fein geschnittenen Kräutern aller Art, während ich ihm von Frauen erzähle; ich könnte sein Sohn sein, und wie hört er mir zu, wenn ich ihm von Frauen erzähle! Ein andermal kommt Jole an die Reihe; später erscheint auch ihr Vater in der Osteria, der hiesige Polizist. Bei diesem Wetter ist auch er immer unterwegs, wie die Stallkatze. Ihn zu sehen ist für mich ärger, als wenn ich sehe, wie es schneit; vielleicht denkt er das Gleiche von mir. Wir sind hier im Dorf die beiden Angestellten der Regierung. Von dem einen Tischende zum andern betrachten wir uns genauso, wie wenn unsere Blicke sich durch die Scheiben und den fallenden Schnee hindurch begegnen, er an seinem Fenster, ich an dem meinen, um Jole zu sehen – sie ist seine Tochter; niemand, der es nicht weiß, würde das sagen. Oft glückt es keinem von uns beiden, den notwendigen Schritt nach rückwärts zu tun, mit der Dunkelheit zusammenzufließen. Er bleibt aufgerichtet am Vorhang stehen, wie in seine Uniform eingemauert. Was treibt ihn ans Fenster? Nicht das, was mich hintreibt: Ob er im Stillen solche Empfindungen hat wie Alfonsos Luigi? Er holt sein Kind jeden Abend von der Schule ab, und wenn die Buben das Gebet aufsagen, nimmt auch er die Mütze ab und bekreuzigt sich, und es ist ihm vollkommen gleichgültig, ob ein anderer ihn beobachtet. Wenn wir hier lebend herauskommen, trägt er Mitte August das Banner für die Muttergottes. Auch jetzt, wo die Kraft der Arme nichts mehr zählt – sein Gesicht ist weißer als meines –, beneide ich ihn um seine Kraft; dass er den Sohn jedes Mal nach Schulschluss auf die Schultern nimmt und die ganze Straße hinunter nach Hause trägt, macht ihm gar nichts aus.

Unser Dorf ist nach den Gewohnheiten der ­

frü­heren Gebirgler erbaut, die Häuser in einer eng zu­sammengeschlossenen Gruppe: Sie wählten den Platz außerhalb der Lawinenbahnen, im Schutz des Waldes, und dort bauten sie ganz dicht. Früher haben gewiss bis zu fünfhundert Personen hier gelebt, auf die vierzig vorhandenen Häuser verteilt. Die Häuser voller Menschen sind, zumal in der Jahreszeit, in der man nach den Arbeiten des Tages gern auf die Steintreppe hinausgeht, gewiss noch näher aneinander gerückt und auch heiterer erschienen. Jetzt sind wir hier nur noch wenige; vielleicht stammt ein Altersgenosse von mir, draußen in Kalifornien, von einem ab, der aus dem Haus, das dem unseren gegenüberliegt, fortgegangen ist, und er weiß womöglich nicht einmal mehr, dass es unser Dorf gibt: Wir sind sechzig, wenig mehr als Häuser. So bleibt der größte Teil der Häuser leer.

Zwischen unserem Haus und dem nächsten, in dem jemand lebt, ist ein kleiner Gemüsegarten, und dann kommen fünf leere Häuser. Manchmal, wenn ich die Augen schließe, ist mir, als verschwänden diese leeren Häuser und ließen die bewohnten gleich Oasen übrig, denn es ist nicht etwa ein Teil des Dorfes bewohnt und der andere nicht: Aus Zufall oder Schicksal haben die wenigen hier gebliebenen Familien, man könnte sagen, in der eigensinnigen Absicht, auch nicht einen Teil des Dorfes sterben zu lassen, sich überallhin zerstreut, indem sie eine von der andern abrückten – wie eine kleine Streitmacht, die ein ausgedehntes Gebiet halten muss und nicht will, dass auch nur ein Winkel verlassen bleibt, sich in Gruppen aufteilt, die durch den ausgedehnten Bereich hierhin und dahin rücken.

Von jemandem tiefer unten im Dorf weiß man fast weniger, als wenn er draußen in Frankreich lebte; von dort schreiben sie wenigstens zu den Totengedenk- und Festtagen. Wir halten es so: Im Herbst kaufen wir den Zucker und das Mehl, das Übrige haben wir selbst; wir gehen aus dem Haus, um den Schnee ein wenig wegzufegen, damit wir zu den Hühnern oder in den Holz- oder in den Heuschuppen können. Sonntags gehen wir, wenn es möglich ist, in den Ort hinunter, dort wo das Tal breiter wird, wo die Ebene beginnt; wir hören die Messe und kaufen einen Korb Brot. Nach der Messe verweilen wir noch, um von denen vom Ort die Neuigkeiten zu hören. Aber jetzt haben wir die vom Unterland schon eine Weile nicht mehr gesehen. Dieses Jahr wird es noch so weit kommen, dass sie nicht einmal am Karsamstag zu uns heraufkommen werden, zum großen Feuer und um «die tolle Geiß»1 zu sehen. In andern Jahren zogen sie in Gruppen von zu Hause los, schweigend, sie achteten in dem wenigen Schnee auf ihren Schritt so vorsichtig wie Alte, die in die Mitternachtsmesse gehen, und erst dreißig Meter vor uns setzten sie ihre Stoffmasken auf, traten mit einer übertriebenen Verbeugung ein und tanzten so heftig, dass der Boden in unseren alten Häusern einzustürzen drohte.

Einen Menschen gibt es, dem ich gern begegne: Verena, denn ob es Winter ist oder nicht, immer ist sie vergnügt, und mir scheint, ich habe sie immer so gesehen, alterslos. Meine Mutter sagte oft, sie müsse sehr viel geweint haben, als sie ohne Beziehungen zu Verwandten aus Meiringen herkam. Meine Mutter sagte auch, dass die andern Frauen, die hinter dem Fenster saßen und strickten, es geahnt haben müssten, wenn sie an die Tür trat – seht, dort ist sie! –, denn sie hätten wie auf Befehl Kopf und Oberkörper vorgestreckt, wobei sie einen Vorhang beiseite schoben, bis Verena sie sah und, töricht, wie sie war, die Situation verkennend, einen Gruß andeutete: Das sollte heißen, sie wolle zu unserem Dorf gehören. Ja, sie hob einen Arm und den Kopf nach ihren Fenstern. Da ließen sie allesamt den Vorhang zurückfallen, streckten den von der schwarzen Schürze umschlossenen Oberkörper wieder durch, zogen den Kopf zurück, aber höchstens bis an die Stuhllehne, nicht weiter! Danach liefen ihre runden, gläsernen Hühneraugen umher, und nun wurde losgelacht: Verena ging wieder ins Haus. Aber das Schicksal ist ja nicht immer grausam: Später kam noch eine von auswärts, so dass die beiden, außer friedlichen Augenblicken mit ihren Männern, ihre eigenen Begegnungen haben und von dem Land jenseits des Berges reden können, wobei sie auf ihre deutsche Art lachen.

Und dann haben sich weitere Häuser geleert; der Aufbruch vieler sowie manche Todesfälle bewirken, dass die Zurückbleibenden einander wenigs­tens etwas näher kommen. Jetzt, wo wir nur noch diese paar Leute sind, nennt niemand mehr die beiden «die tollen Geißen», die instinktiv dazu neigen, sich von der Herde abzusondern. Verena macht Torten und Liköre, wie unsere Frauen sie nicht zu machen verstehen; bei Verena lebt fast das ganze Jahr ihre Nichte Vanda, die nun auch schon mehr hierher als auf die andere Seite des Berges gehört, und oft ist Linda, Verenas Schwester, da, und wenn jemand will, dass ich rot werde, so braucht er nur zu sagen, sie sei meine Liebste – man muss nicht besonders scharf aufpassen, um das zu bemerken.

Nach so vielen Tagen Schnee wandern am Himmel einige helle Stellen umher, ein blasses Blau zwischen breiten, schmutzigen Wolken. Inzwischen haben wir nichts unterlassen, wir haben zu den Heiligen gebetet, haben die drei- und die neuntägigen Andachten abgehalten. Adele sagt, man solle die Reliquien ausstellen, und da gerade ein Tag Ruhe ist, kommt auch der Priester herauf, uns eine Messe zu lesen, die wir nötiger brauchen als das Brot, das wir essen. Nachdem die Messe, ohne Predigt, gelesen war, haben der Priester und die Frauen uns am Schluss alle Beschwörungsformeln gelesen und danach die Gebete, wie sie der Heilige Vater vorschreibt. Sonst tun wir nur das Übliche, aber auch wir halten uns an die Vorschriften des Papstes. Nach der Messe steigen wir alle hinauf ins Dorf. Angesichts des Berges, von dem man deutlich nur den Fuß sieht, den mit Schneeflecken bedeckten Lärchenwald, liest der Priester erneut die Beschwörungsformeln. Es ist kalt, er liest, ohne den Blick von seinem kleinen Messbuch zu heben. Er wendet sich an den Berg, als wolle er ihn daran erinnern, dass auch er von Gott geschaffen ist, auch wenn das Gebet den Berg nicht ausdrücklich anklagt. Wer kann sagen, ob der Berg ihm zuhört oder nicht, ob er geneigt sein wird, ihm zu gehorchen? Und Mitleid mit uns zu haben? Von seinen Flanken schickt er uns für den Augenblick nur einen Wind, der das gestickte Chorhemd des Jungen, der Weihwasserkessel und Wedel in den blau gefrorenen Händen hält, zittern lässt. Ist das eine Antwort? Die Alten, knorrig wie die letzten Lärchen auf den Alpen, nur noch dafür gut, das Feuer vom Abend bis zum Morgen in Gang zu halten, warten wie das Postpferd, wenn der Reiter ihm Halt befiehlt.

Die Frauen blicken unverwandt auf den Pries­ter.

Obwohl hoch oben, breitet das Grau sich über den ganzen Himmel aus, gleitet den Waldhang hinunter. Am Schluss des Bittgebetes ist der Berg schon nicht mehr zu sehen; kennten wir ihn nicht, so könnten wir denken, er wäre zehntausend Meter hoch; und wenn der Priester den Blick vom Buch hebt und den Wedel dem kleinen blonden Jungen aus den blau gefrorenen Händen nimmt, sprüht er seine heiligen Tropfen gegen eine undurchdringliche weiße Masse. Die Alten bekreuzigen sich ruhig, der Berg dort wird schon zahm bleiben, wie ein Tier, das die Hand des Meisters auf dem Rücken spürt: ein paar Tropfen, die den Schnee gewiss festfrieren lassen – sie werden ihn an den harten Fels kleben und daran hindern, in ungeordnetem, todbringendem Durcheinander auf uns herabzustürzen; oder diese Tropfen werden die Lawine – wenn sie kommen sollte, aber das ist nicht möglich – ablenken, über unsere doch auch gesegneten Häuser hinweg: wie man eine Natter mit dem Stock von sich fern hält. So ist es auch früher schon geschehen, wenn der Glaube vorhanden war: Lawinen, die ganz glatt durch ihre Bahnen hinuntergekommen sind, als alle schliefen, Lawinen, die oberhalb des Dorfes stecken geblieben sind, sozusagen dicht über den Häusern, ein Wunder, das man den Gegnern der Priester vor Augen führen konnte; oder wie ein Luftzug neben den Häusern hinuntergefahren: allerdings nicht im Jahre 88, aber im Grunde hatte Gott in seiner Gnade damit sagen wollen, dass man nie mit dem Feuer spielen dürfe. Dreiunddreißig Tote, so steht es auf dem Kreuz zu Füßen der großen Mauer.

Adele kennt alle Bittgebete, genau wie der ­Pries­ter: Sie sagt Assunta ins Ohr – aber wir hören es ­

al­le –, es sei eine Schande, nicht einmal ein Rosenkranz oder ein Requiem für die armen Toten, als gelte es, ein Feuer zu löschen; und als sie sieht, dass der Pries­ter sich in der stiller gewordenen Luft zwischen den Häusern davonmacht, ruft sie hinter ihm her, er möge zusehen, wie er zurechtkomme, heutzutage sind auch die Priester viel zu fett; aber wenn etwas geschieht, umso schlimmer für ihn: Unser Gewissen ist in Ordnung.

«Geht und holt die Reliquien heraus.»

Ihr Enkel, der gewöhnlich den Mund nur auftut, um den Zigarrenstummel auszuspucken, springt los mit einem: «Ich gehe ja schon! So schneit auch ihnen ein bisschen Schnee auf den Kopf.»

Daniele kann es kaum erwarten, bis auch er zu Worte kommt:

«Wisst ihr noch, was Matto 1917 gemacht hat, damals, als es länger als einen Monat regnete, ohne eine Minute aufzuhören? Als die Kühe nicht mehr wussten, wie sie sich auf den Beinen halten sollten? Als den Knechten auf der Joppe die Pilze hätten wachsen können? Wisst ihr noch, was er da tat? Er geht ins Zimmer, nimmt das Kruzifix vom Nagel, hängt es außen ans Fenster und sagt dann zu dem Gekreuzigten: ‹Lass auch du dich ein bisschen nass regnen.›»

«Wollt ihr wohl schweigen, ihr bösen Mäuler! Ihr seid, wenn ihr gewisse Dinge erzählt, schlimmer als der Unselige, der sie getan hat, und dann vor den Kindern, und bei einem Winter wie diesem! Wie soll der Herr uns helfen, wenn ihr so sprecht?»

Davide sagt, um abzulenken, das sei 1915 gewesen, nicht 1917. «Ja, 1915, zu San Pietro in den ersten Septembertagen», und er zieht eine Prise Tabak hoch. Er steht nicht bei den andern, sondern ein wenig für sich, aber auch er hat die Hände in der Tasche; manche behaupten, er schnuppere die Luft wie ein Fuchs. Er sagt, das Wetter ändere sich nicht, andernfalls lasse er sich den Kopf abschneiden.

«Wenn kein Wind von Norden aufkommt, kriegen wir neuen Schnee.»

Die große Neuigkeit indes ist Linda. Als sie am Mittag auf dem Schlitten von Naldo aus Meiringen heraufkam, um Tante und Schwestern zu überreden, sie sollten fortgehen, hat sie, wie erzählt wird, gesagt: «Was für eine Menge Schnee habt ihr hier oben!»

Ich kehre nach Hause zurück, betrachte mich im Spiegel, wasche mir die Hände, rasiere mir den mehrere Tage alten Bart. Nach dem Essen werde ich zu Verena spazieren, um Linda zu sehen. Unterwegs treffe ich Rosalias Katze, die von all dem Schnee auch schon ganz verwirrt ist, weil Rosalia sie über­allhin mitschleppen muss. Gerade kommt sie unter einem mit Schnee bedeckten großen Hirtenschirm daher, um die Katze, die ihr entgegenläuft, wiederzuholen.

«Ich habe Linda gesehen», sagt sie zu mir, nimmt die Katze auf den Arm und geht sofort weiter.

Einer kehrt vom Stall heim, sicher weiß er schon, dass ich es weiß, aber er fragt trotzdem: «Ist Linda gekommen?»

Und kurz darauf ein Dritter: «Jetzt ist Linda gekommen!»

Man sieht, wir brauchen Neuigkeiten wie das liebe Brot. Der Papst könnte heute sterben, und wir, o ja, wir erführen es nicht einmal. Ich treffe Dionigi mit einem Korb quer über dem Rücken, er zeigt mir das ganz klein geschnittene Stroh; für das Kälbchen, sagt er, das heute Nacht geboren werden soll.

«Ruf mich, wenn es so weit ist, ich gehe zur ­Verena hinein.»

«Ah!» Und er lächelt mir zufrieden zu. So verlasse ich ihn, ich schaue zurück, ob er mir nachsieht, während ich zwischen den hohen Schneehaufen den Pfad hinunterrenne. Wenn man wie jetzt, da es schneit, hinter der Lampe über Verenas Tür unverwandt in den Himmel blickt, so erscheint er ganz ohne Bewegung; und nach einer Weile meint man, die Schneeflocken ständen still, während wir selbst in die Höhe hinaufschwebten. Ins Paradies?

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