Kitabı oku: «Irgendwo grünt doch die Liebe», sayfa 2
Die Straßenbeleuchtung führt Andreas auf Umwegen wieder nach Hause. Beim Klingeln des Telefons schließt er die Wohnungstür auf. Ilse begrüßt ihn, will wissen, wie es ihm geht. Er erzählt ihr vom Lob des Professors und dessen Bemerkung dazu. Sie kichert und meint, der Alte könne gut reden, sie aber habe Sehnsucht. Ein paar Tage muss sie noch bleiben. Dann aber will sie kuscheln und möglichst noch mehr! Darauf freut er sich mit ihr, schickt ihr viele Gute-Nacht-Küsse und legt dann auf.
In der kommenden Nacht holt den Andreas kein Traum ein. Er erwacht zeitiger als sonst. Er grüßt Annas Bild über dem Schreibtisch, erhält wieder keine Antwort und eilt früher als sonst ins Institut nahe dem Dom. Wenn er heute sehr zeitig beginnt, kann er auch früher Schluss machen. Bei den Stichworten, die er auswendig lernte, ist ihm in der Nacht aufgegangen, dass Verwaltungsgebäude in Giebichenstein im Schutt der Unterburg liegen, die Keller wenigstens, falls welche vorhanden. Er will sich erkundigen, wo Berichte über die Legung des Grundsteins zu finden sind. Bis 17 Uhr ist heute das Bauamt geöffnet. Gut eine Stunde vorher meldet er sich bei der Auskunft.
Andreas trägt sein Anliegen vor. Der Beamte überlegt und weist ihn zur Registratur. Die Dame dort schüttelt den Kopf. Hier wird registriert, was jetzt geplant, neu gebaut oder verändert wird. Die Baupläne für diese Gebäude hier sind nicht einzusehen. Sie fragt ihn, weshalb er daran interessiert ist. Er erzählt von seiner Arbeit und der vagen Hoffnung, dass man beim Ausschachten etwas fand, das ihm weiter hilft. Sie weist ihn ans Stadtarchiv in der Rathausstraße gleich neben dem Markt. Da ist Andreas schon früher gewesen. Dort finden Touristen, allgemein Interessierte und Schulklassen, das Halle der Neuzeit mit Dom, Marktkirche, Rotem Turm, Händel, Francke, der Saline, Kunsthochschule und Museen.
Die Dame überlegt, ruft dann den Amtsleiter an. Sie berichtet ihm vom Anliegen ihres Besuchers, fragt, ob er helfen kann. Doktor Volkert hört interessiert zu, überlegt und bittet dann zum Erstaunen der Dame den Herrn tatsächlich zu sich. Andreas bedankt sich und sucht nun Zimmer A in der ersten Etage auf.
Der Amtsleiter wollte gerade sein Zimmer abschließen, als der Anruf kam. Nun hat er Zeit. Doktor Volkert hat sich schon immer für Geschichte und speziell die seiner Stadt interessiert. Von der alten Burg, die ja eine der ersten an der Saale war und heute zur ›romantischen Straße‹ gehört, ist vieles bekannt. Dennoch gibt es zeitliche Lücken, die sein Besucher mit einer Promotionsarbeit möglichst füllen soll. Andreas möge ihm bitte erzählen, was er bereits zusammengetragen hat und weshalb er speziell meint, dass gerade hier bei den Ausschachtungsarbeiten alte Unterlagen zerstört oder zu Tage gekommen seien.
Andreas weist auf einige Angaben in seinen Übersetzungen hin. Außerdem wurden die Verwaltungsgebäude an dem noch erhaltenen Stück der alten Ringmauer erbaut. Man kennt die Herrschergeschlechter, weiß aber kaum etwas über die Burgherren hier. Die ›Sage vom Springer‹ wurde längst als Fehler aus einer Lateinübersetzung geortet. Andreas sucht Namen, die ihm vielleicht Schicksale mitteilen. Er weiß um eingemauerte Dokumente in alten Wehranlagen anderer Gegenden. Warum nicht auch hier?
Doktor Volkert will nach den Berichten über die Ausschachtungen suchen lassen. Irgendwo müssen sie ja sein. Dabei fällt ihm aber etwas ganz anderes ein. Sein Vater, im Kriege als Flakhelfer eingesetzt, musste mit 14 Jahren schon Munition zureichen und ab und an selber die Geschütze bedienen. Die Angst saß immer im Nacken. Schlimmer noch empfand er aber die Aufräumarbeiten nach den Bombenangriffen, wenn es Verletzte oder Tote gegeben hatte. Einmal hatte er in einem Scherbenhaufen teilweise zerrissen alte Schriften gefunden. Er brachte sie mit nach Hause. Seine Mutter reagierte entsetzt, weil sie meinte, das seien Schriftstücke aus der von den Nazis zerstörten Synagoge.
„Bring sie bloß weg!“, sagte sie.
Da steckte er diese Reste in Zeitungspapier, klemmte sie unter seine Uniform und ging in den Dom um zu beten, schlich aber dann in den Keller und versteckte alles in dunkler Ecke hinter einem zerbrochenen Tabernakel. Der heute evangelisch-reformierte Dom ist ja eigentlich die alte Klosterkirche der Dominikaner, nur immer wieder renovierte und neu ausgemalt.
„Ich weiß“, antwortet der längst hellhörig gewordene Andreas. „Das historische Institut liegt ja nahe dem Dom. Ich liebe seinen gewaltigen Innenraum ohne Querschiff. Unser Dom ist in seiner stabilen Gewalt für mich einzigartig und ein Stück echtes Mittelalter.“
Dann aber drängt ihn die Frage: „Hat Ihr Vater der neuen jüdischen Gemeinde später die Schriften wiedergebracht?“
„Davon weiß ich nichts. Er hat es nur einmal beiläufig erwähnt. Sie können ja nachschauen, ob sich da noch was findet.“
Bereits am nächsten Tag besucht Andreas den Domprediger in der Kleinen Klaus Straße. Sie sind einander gut bekannt. Andreas hat ihm schon vor Monaten von seiner Arbeit erzählt und die alten Kirchenbücher studieren können, ohne darin Hilfreiches gefunden zu haben. Die neue Geschichte interessiert den Pfarrer natürlich.
„Sie können mit dem Küster da unten gern suchen“, meint er. „Es wurde viel aufgeräumt und auch neu geordnet. Das alte Tabernakel muss es noch geben. Schließlich ist es eine Erinnerung an die Dominikaner.“
Der Küster weiß genau, wo sie suchen müssen. Das Tabernakel ist zwar zerbrochen, aber in den Einzelteilen noch gut erhalten, sollte geschützt werden und erhielt eine Plastikumhüllung. Das Museum wollte es zur Renovierung abholen lassen, hat das anscheinend aber wohl vergessen. Dahinter ganz in der Ecke zeigt sich im Lichte der Taschenlampe tatsächlich etwas, das vom Staub der Jahrzehnte bedeckt, kaum zu erkennen ist. Andreas kriecht hin, umhüllt mit seinem Halstuch den seltsamen Fund, kann ihn so vorsichtig aus der Ecke lösen und an sich nehmen. Der Küster freut sich, dass er hier helfen konnte.
In der Sakristei wartet der Prediger auf die beiden. Er hat genau wie Andreas auf den Fund gehofft und einen kleinen Tisch zum Ablegen bereitgestellt. Andreas legt da sein verschmutztes Halstuch vorsichtig ab. Noch vorsichtiger entfaltet er es. Das alte Zeitungspapier vom Völkischen Beobachter hat sich fast aufgelöst. Nur noch rote Stellen einer Überschrift sind zu erkennen. Auf den fest zusammengepackten, brüchigen Lagen darunter liegt dicker, teilweise klebriger Staub. Der Prediger entnimmt seiner Tasche einen sehr weichen Pinsel und versucht eine erste behutsame Reinigung. Auf fast lederartigem Grund erscheinen einige Buchstaben. Das ist kein Hebräisch! Latein!
Andreas muss vom Tisch zurücktreten. Er weint vor Freude und Dankbarkeit.
„Der Schatz gehört jetzt dem Dom“, sagt er. „Ich möchte ihn aber restaurieren lassen und für meine Arbeit verwenden.“
„Das Kuratorium des Doms wird im eigenen Interesse die Restaurierung ausführen lassen und später das hoffentlich gute Stück ausstellen, gegen Bezahlung an Museen und Wissenschaftler ausleihen. Der Finder soll es übersetzen und seine Übersetzung als Erstdruck in seine Doktorarbeit geben. Ist das ein Wort?“
„Nicht nur ein Wort! Ein ganzes Kapitel!“, erwidert Andreas, drückt beide Hände des Predigers und fügt hinzu: „Sie sind ein wahrer Vertreter unseres Herrn.“
Andreas hastet nach Hause, betritt seine Wohnung voll innerer Freude, drängt zum Schreibtisch und blickt zu der Schönen auf.
„Ich glaube, wir haben gefunden, was dir und mir hilft. Wenn ich’s übersetzt gedruckt habe, bist du frei!“, ruft er ihr zu.
Er meint, ein ganz feines neues Lächeln in ihrem Gesicht zu entdecken. Ganz sicher ist er sich nicht.
Seine Freundin kommt nach einer Woche zurück. Die Trennung hat sie näher zueinander gebracht. Andreas kann ihr jetzt mehr seiner Zeit widmen, weil er nicht viel Neues zur Doktorarbeit beitragen kann. Er wartet auf die restaurierten Blätter, die früher einmal zusammengerollt waren, sehr brüchig sind und schwer voneinander zu trennen. Auch manche Passagen können mehr erahnt als erkannt werden. An verschiedenen Rändern fehlen Teilstücke des Textes. Andreas muss fast fünf Monate warten, bis er mit einer Übersetzung beginnen kann.
Das Original bleibt im Dom. Andreas fotografiert vorsichtig in Zeitaufnahmen, was er zur Übersetzung dann mit nach Hause nimmt. Er hofft wieder auf die Hilfe der Schönen. Ilse darf während der Übersetzungen nicht in seiner Nähe sein. Er braucht absolute Konzentration. Das kann sie verstehen.
Andreas weiß längst, dass sein Kontakt zu der Schönen, nur als ihr beider Geheimnis lebendig bleibt.
Er entziffert einiges über Renovierungen in der Kapelle. Der Maler, ein Klosterbruder, wird auch genannt. Dann – kaum noch als Schrift zu erkennen – die Beichte zweier Knechte, die Robert den Alten, als er vor ihnen ausrutschte, mit Fußtritten in die Saale befördert haben. Das geschah Wochen nach Annas Tod. Weil keine direkten Erben vorhanden, wurde Annas Bruder danach Herr auf der Burg.
In der folgenden Nacht träumt Andreas wieder von Anna. Sie erscheint freudig und stammelt fast unter Tränen: „Mein Geist muss in tiefem Schlaf lange geruht haben, sonst hätte mich der Tod des Alten vielleicht längst schon befreit. Ich habe auch nie empfunden, dass ich so lange still unterwegs war. Erst das Bild, das einer, meine wandernde Seele erahnend, von mir malte, hat mich wieder geweckt. Ich arbeite gern mit dir, weil du mich verstehst und mit deiner Veröffentlichung endlich nach Hause führst. Wo das ist, weiß ich nicht. Vielleicht kann ich da aber auch meinen Udo finden, der im Saleph, als er den Kaiser retten wollte, mit ihm ertrank.“
Am Morgen ist dem Andreas der Traum noch sehr gegenwärtig. Er lächelt zum Bild auf.
„Ich hoffe, du findest ihn“, sagt er leise.
Dann beginnt die Übersetzung von Annas Geschichte. Die kennt Andreas aus seinen Träumen. Vieles an Einzelheiten kommt jetzt hinzu, die Erschütterung des Priesters, seine Erkenntnis über Recht und Unrecht in dieser Welt. Die ist mit Herren und Knechten keine Welt unseres Herren. Päpste und Gegenpäpste suchen die weltliche Macht, nicht die Seelen, stürzen ihre Priester deshalb in eigene Not, weil nicht jeder im Beichtstuhl um Vergebung bittet, vielmehr da Hilfe erfleht. Gebete und Vertröstung aufs Jenseits wirken schal, wenn ein Mensch an seinem Schicksal zerbricht. Die Kirche muss auch echte Wege aufzeichnen, tätige Hilfe im Hier und Heute versuchen, eine neue Straße weisen und zu ihr hinführen. Bei Anna ist es dem Priester gelungen. Er weiß, dass es im päpstlichen Sinne falsch war, einer Frau im Lehren oft so nahe zu sein. Obwohl kein fleischliches Begehren dabei war, zählt es zur Sünde. Die beichtet der Priester nicht, schreibt nur nieder und gibt sein Bekenntnis in die Erde, die Gott für alle erschuf.
Damit enden die lesbaren Zeilen. Sie wurden auf Tierhaut geschrieben. Die Tinte konnte da gut einziehen. Es scheint, als seien einige Lagen besonders präpariert worden, um sie vor dem Verfall schützen zu können.
Andreas schaut auf. Das Bild zeigt keine Bewegung. Ist Anna jetzt schon zu Hause, weil dies hier gedruckt werden wird?
„Ich danke dir“, sagt er leise. „Du hast mir beim Übersetzen die Gedanken geführt. So konnte ich in deine Zeit einsteigen, in ihr leben und nun den Vorgaben meines Professors absolut gerecht werden. Wenn meine Arbeit gedruckt ist, werde ich sie dir zeigen, dann bist du zu Hause.“
Haben ihm ihre Augen mit leiser Bewegung der Lider eben geantwortet? Vielleicht. Manchmal glaubt er fast, alles geschehe nur in seiner Fantasie, weil er sich in das Bild der Schönen verliebt hat. Aber nie hat er so gut und auch so schnell übersetzt. Im Traum ist ihm Anna erschienen, hat von ihrem Leid und ihrem Leben erzählt. Er konnte in ihren Blick und ihr Lächeln einsteigen. Während seiner Arbeit wuchs das Verstehen der Zeit, die er ergründen sollte. Er weiß, wie sie war durch Annas Blick und die Träume von ihr.
„Du bist mein Wunder“, flüstert er noch einmal leise. „Wunder geschehen auch in der heutigen Zeit. Wir müssen nur an sie glauben.“
Das Findelkind
Teil 1
Ich, Anna Kalisch, geboren am 25. 01. 1922 in Strehlen in Schlesien, muss niederschreiben, weshalb ich ein Kind, das ich selbst nicht geboren habe, als mein Kind bezeichnen darf, ohne es vorläufig adoptieren zu dürfen. Rosi ist mein, weil sie durch mich heute noch lebt, noch atmet, lachen und weinen kann, obwohl ich nicht einmal weiß, wann und wo sie geboren wurde. Ihr Weinen hat sie gerettet.
Als Dienstverpflichtete war ich nach dem Abitur im Frühjahr 1941 zum Großbauern Aderek nach Warschkeiten südlich von Preußisch Eylau in Ostpreußen gekommen. Dort habe ich in der Volksschule unterrichtet und in meiner Freizeit auf dem Bauernhof mitgearbeitet. Ich habe mich da sehr wohl gefühlt, bis 1944 russische Truppen die deutschen Linien durchbrachen, das Memelland einschlossen und von zwei Seiten auf Tilsit vorstießen. Andere russische Einheiten rückten auf breiter Front auf der Linie Ebenrode, Treuburg vor und eroberten Goldap am 22. Oktober. Ein guter Freund wurde beim Gegenangriff verwundet. Er konnte mich anrufen: „Warne deine Leute!“, flüsterte er. „Ich glaube nicht, dass wir die Front hier noch lange halten. Der Russe ist stark, kommt mit frischen Kräften, Panzern, Sturmgeschützen und viel Artillerie. Wir aber warten auf Nachschub.“
Sechszehnjährige wurden nun zur Waffen SS eingezogen. Wir mussten Laufgräben ausheben und Panzersperren bauen, Männer bis zum 60. Lebensjahr sich zum Volkssturm versammeln. Man heftete ihnen ein Hakenkreuz links an den Ärmel und gab ihnen ein Gewehr. Dann schickten die Braunen sie mit Hitlerjungen zusammen zur Front. Keiner wusste, wo die nun genau verlief. Der Gauleiter verbot die Flucht der Bevölkerung. Nur die Krankenhäuser wurden geräumt, Schwerkranke und frisch Entbundene mit ihren Babys per Bahn ins Reich transportiert.
Wir hörten heimlich Feindsender und packten das Notwendigste für die Flucht. Das kam mit Futtersäcken und unserer Verpflegung zusammen auf zwei große Planwagen. Die kräftigsten Gäule sollten die ziehen, andere als Reserve mitgeführt werden. Zurück blieben die Fremdarbeiter des Gutes. Sie konnten sich und die zurückgelassenen Tiere versorgen.
Am Abend des 26. Oktober verteilte der Chef seine Jagdgewehre. Wir brachen auf. August Aderek und seine Frau Lisbeth kutschierten den ersten Wagen. Hannes Wutke, der alte Großknecht, saß neben mir vorn auf dem zweiten. Zusammen zählten wir sechzehn Personen, fünf Kinder verschiedenen Alters dabei, dick verpackt alle. Schweigend, von Laternen dirigiert, ging es über Feld- und Waldwege aufs Moor zu und dann dort am Rande entlang. Wir trafen auf andere, grüßten sie wortlos, indem wir die Peitsche hoben, zogen so Stunde um Stunde jetzt im Treck – an Bartenstein vorbei – Richtung Hellsberg. Ab und an kurze Rast.
Über uns Flugzeuge. Freund oder Feind? Wir hörten Abwehrgeschütze. Plötzlich raste ein Feuerball über uns, explodierte irgendwo. Brände erhellten die Nacht! – Rechts ein Gewässer, die Aische. Gierig tranken die Pferde.
In der Dämmerung des Morgens suchten wir die Brücke. Dort mussten wir die Hauptstraße überqueren. Plötzlich der Ruf: „Halt! Militär!“
Hitlerjungen mit SS-Armbinde versperrten den Weg, forderten Passierscheine. Aderek sprang vom Wagen, Hannes Wutke auch. Sie gingen auf die Jungen zu, erkannten einige aus unserem Dorf, Jürgen Paschke vom Nachbarn dabei, Gewehr im Anschlag. Hannes riss es hoch. Ein Schuss ging ins Leere. Jürgen warf das Gewehr weg, starrte erschrocken auf unseren Bauern.
„Wo wollt ihr denn hin? Wir dürfen keinen ohne Erlaubnis durchlassen!“
Weitere Wagen drängten nach. Der Treck stand. Die Jungen, nun umringt, sollten weichen.
„Wir haben Befehl!“, schrie der Scharführer.
„Wir haben Befehl!“, wiederholten die andern.
„Ihr seid Kinder“, sagte der Bauer sehr ruhig, dann aber laut weiter im Befehlston eines erfahrenen Offiziers: „Ich weiß, dass ihr vierzehn und fünfzehn Jahre alt seid, einer erst dreizehn. Hier wird nicht mehr Krieg gespielt. Werft eure Armbinden ins Wasser, die Helme und eure lumpigen Waffen dazu. Wir nehmen euch mit. Keine Widerrede! Der Russe ist hinter uns auf breiter Front durchgebrochen. Vorsorglich werden ganze Landstreifen schon geräumt. Man hat euch vergessen!“
„Nein! Wir werden gleich abgelöst!“
„So? Wann denn?“
„Seit zwei Stunden warten wir drauf!“
„Da habt ihr die Sauerei! Wenn ihr jetzt nicht auf uns hört, nehmen wir euch gefangen!“
Das wirkte. Vier Jungen warfen alles Militärische weg und schlossen sich verstört da an, wo sie Bekannte fanden. Der Scharführer hatte sich mit zwei seiner Jungen verdrückt. Wir verfolgten sie nicht, passierten die Brücke, überquerten die Hauptstraße, die weit im Süden nach Allenstein führt, suchten wieder ein Waldstück, rieben die Gäule trocken, hängten ihnen Futtersäcke um – und ließen sie ruhen.
Wir mieden weiter die breiten Straßen, wichen Truppenbewegungen aus, zogen nur am Rande kleiner Ortschaften entlang, orientieren uns da, konnten auch Milch, Brot und Futter für die Tiere fassen. Die Evakuierung des Gebietes um Allenstein wurde nun auf Druck der Militärführung endlich in die Wege geleitet.
Anfang November der erste Schnee. Der taute in der Sonne des Tages. Im Morgennebel suchten wir breitere Straßen, wechselten oft auch die Pferde. Nordwestlich von Osterode ging’s Richtung Marienwerder! Über die Ossa, später die Weichsel! Wir fürchteten die Kälte, mehr aber die Flugzeuge, Bombenkrater und direkten Beschuss.
Als wir eben von einer Straße abbogen, kamen sie wieder, rasten tief über uns weg, warfen Brandbomben, feuerten! Vorn gingen die Pferde hoch. Dann rasten sie quer feldein! Bei einem Loch im Gelände brach bei Adereks hinten ein Rad. Der Wagen kippte. Frau Lisbeth blutete an der Stirn. Die Kinder schrien. Wir mussten den Wagen aufrichten, die Pferde beruhigen, füttern, Reserverad suchen. Eines hatten wir. Das passte, war aber etwas zu klein.
Über uns immer noch Flugzeuge! Wir hörten Abwehrgeschütze, Einschläge, Salven von Maschinengewehren! Dann Stille. –
Eisiger Wind kam auf. Weil es bald dunkel wurde, suchten wir wieder die Straße. Als wir die endlich fanden, Bombentrichter und teilweise zerfetzte Tote zwischen zerbrochenen Handwagen! Trotz unseren Entsetzens mussten wir den Weg wenigstens seitlich freiräumen. Da hörte ich einen Laut, ganz leise nur. War das ein Wimmern – oder der Wind? Ich bat die andern zu lauschen! – Nichts! – Doch! – Ich meinte, dieser Laut sei mir sehr nahe gewesen. Ich hielt den Atem an, ging vorsichtig auf eine gekrümmt liegende Gestalt zu, beugte mich nieder, horchte – nichts. Dann wieder ein Laut. Ich berührte den Körper, fasste Schulter und Arm. Der Körper schien erstarrt – aber er weinte! Ich schrie, rief nach Aderek! Der kam mit dem Hannes. Beide lauschten wie ich. Der Tote wimmerte, verstummte, wimmert wieder – leise. Die Männer fassten die Schultern. Die Gestalt lag gekrümmt auf den Knien, ließ sich mit Mühe anheben, drehen, lag nun auf der Seite, eine junge Frau, die ihren weiten Mantel vor ihrer Brust zusammenhielt. Daher kam der Laut! Ihre Brust weinte! Die Männer öffneten die erstarrten Arme, öffnen den Mantel. Darunter erschien ein Brustsack aus weichem Leder. Der Pelz war nach innen gestülpt und bewegte sich! Wir erkannten eine Kindermütze.
Nun ging alles sehr schnell. Die Männer zogen der Toten den Mantel aus, nahmen ihr den Sack von den Schultern, sahen, dass da noch ein Kind lebte und hüllten den Pelz in den Mantel der Mutter ein. Hannes trug das Bündel zum Wagen. Ich rannte ihm hinterher.
„Steig ein und nimm’s an dich!“, rief Hannes. „Versuche es etwas zu wärmen. Dass dieses Wurm lebt, ist ein Wunder.“
Ich stieg über den Fahrersitz weiter nach hinten zu Else und Egon, den Enkeln von Hannes. Die hockten in Decken verpackt bei einem Kopfkissen, das unsere Getränke warm hielt. In dieses Kissen packte ich das Kleine im Fellsack. Den Mantel der Mutter breitete ich um uns beide. Dann reinigte ich meinen Zeigefinger mit etwas Tee und steckte ihn dem Kind in den Mund. Seine kleine Zunge lutschte, saugte sogar.
Der Bauer durchsuchte noch die Tote, nahm ihr dann eine Kette vom Hals und brachte mir die zusammen mit der Mütze der Frau. Aderek weinte.
„Das gehört noch dem Kind“, sagte er. „Papiere sind nicht zu finden. Die werden im Mantel sein.“
Im Mantel waren die auch nicht, nur Windeln, eine kleine Flasche mit Milch, ein Sauger daneben und ein Ehering. Der hätte der Größe nach sowohl einer Frau wie auch einem Mann passen können, eingeprägt innen: M. R. 14. Mai 1940.
Wir fuhren sehr vorsichtig weiter. Ilse Wunsch und ihre Tochter gingen mit Stöcken voraus, tasteten den Weg nach weiteren Einschlägen ab. Die hörten dann auf. Der Wagen mit dem Ersatzrad fuhr besser als wir gedacht hatten.
Das Kind wimmerte wieder. Bestimmt hatte es Hunger. Ich öffnete deshalb die kleine Flasche und kostete von der Milch. Die war noch gut. So trank ich die Hälfte davon ab und füllte den Rest mit unserem Tee auf. Mäßig lauwarm war das Getränk nun. Der Sauger passte. Ich zog ihn fest über und drückte ihn dem Kind in den Mund. Das saugte gierig. Dann schlief es ein.
Bei der nächsten Siedlung fanden wir Unterkunft in der Scheune eines größeren Gutshofs. Auch hier bereits Flüchtlinge! An der Pumpe konnten wir Wasser holen, uns wieder mal waschen und draußen auf dem Spirituskocher frischen Tee für alle bereiten. Selbst hier schon Vorbereitungen für eine Flucht. Trotzdem hatte die Bäuerin im großen Kessel der Waschküche Suppe gekocht. Jeder, der kam, konnte sich da bedienen.
Nun sorgten wir uns um das Kind. In einer Ecke der Waschküche breitete Lisbeth Aderek eine Decke aus und legte ein Tuch darüber. Vorsichtig packten wir dann das Kleine aus. Ich öffnete den Sack soweit ich konnte; Frau Lisbeth griff hinein und hob mit beiden Händen das Bündel so geschickt heraus, dass es auf ihrem rechten Unterarm liegend, mit ihrer linken Hand gehalten, wie eine Puppe abgelegt werden konnte. Das Kind, in ein warmes Tuch eingewickelt, war nass, roch nach mehr. Frau Lisbeth hob die Beinchen und den Po an. Ich entfernte die untere Verpackung, reinigte mit Waschlappen und bereitgestelltem Wasser mehrmals den kleinen Hintern und was da sonst noch verklebt und dreckig war. Vor uns lag nun ein kleines Mädchen, zwei bis drei Monate alt, mit blauen Augen und einer blonden Stirnlocke. Es streckte sich, schaute uns groß an und lutschte begierig am Daumen.
Als Frau Lisbeth die Kleine mit frischen Windeln versorgte und in ein Wolltuch hüllte, lief ich nach dem Fläschchen, säuberte es und füllte gesüßten Kamillentee ein. Die Kleine trank wieder sofort. Als ihr der Sauger aus dem Mund rutschte, griff sie selbst nach der Flasche. Wir staunten. Das Kerlchen musste wohl doch schon drei Monate alt sein.
„Dieses Kind ist ein Wunder“, meinte Lisbeth gerührt, „behalte es bei dir. Ich werde noch frische Milch besorgen, mich dann aber um die anderen kümmern. Die Kleine war bestimmt unterkühlt. Gut, dass sie keiner in ein beheiztes Zimmer gebracht hatte. Das hätte sie nicht überstanden.“
Von der hiesigen Bäuerin erhielt ich noch Baby- und Kinderwäsche. Als ihre eigenen Kinder größer geworden waren, hatte sie die Wäsche in einen kleinen Pappkoffer gepackt. Den überreichte sie mir.
„Ihr werdet das brauchen“, sagte sie und streichelte die Wange der Kleinen. „Wer weiß, ob ihr jemals ihren Namen erfahren könnt. Der Krieg wird uns alle überrollen. Wir haben schon manchen unbekannten Toten hier beerdigen müssen. Ein unbekanntes Leben ist wie ein Sonnenstrahl in der Nacht. Hast du ihr schon einen Namen gegeben?“
„Ich wollte sie nach meiner verstorbenen Schwester nennen. Die hieß Rose und ist als Kleinkind an den Masern gestorben. Jetzt hab ich sie wiedergefunden.“
„Setze noch Maria dazu, damit sie gesegnet sei.“
„Gut, dann aber Rosemarie. Ich nehme an, dass sie evangelisch getauft wurde.“
Im Morgengrauen des nächsten Tages ein Abschied unter Tränen. Wir fuhren weiter. Mit Schrecken erlebten wir da, dass Truppen abgezogen wurden in Richtung West und Süd-Westen. Kein Nachschub für Ostpreußen! Wo wir konnten, hörten wir Feindsender, verglichen die mit unseren Nachrichten. Schreckliche Angst trieb uns weiter nach Westen, durch Pommern und Brandenburg.
Unterwegs starb Oma Wutke. Bei einem Halt merkten wir, dass sie ohne einen Laut von uns gegangen war. Wir mussten sie in die Erde legen, notdürftig begraben, ein kurzes Gebet sprechen und weiterfahren. Später verloren wir zwei Pferde. Das eine brach sich ein Bein. Es musste erschossen werden. Das andere erschrak bei einer Detonation so, dass es durchging. Wir fanden’s nicht wieder.
Wo es möglich war, blieben wir zwei bis drei Tage. Die Pferde brauchten Ruhe – wir auch. Manchmal konnten wir in einer Scheune bleiben. Dann meldeten wir uns polizeilich an wegen der Marken für Lebensmittel. Das Futter für die Pferde war auch längst zu Ende. Die Bauern verkauften oder schenkten uns, was wir brauchten.
Anfang Dezember holte uns der Winter ein, dichter Schneefall, nachts bis minus zehn Grad. Nahe Reppen brach bei Adereks Wagen die Deichsel. Die Reparatur dauerte. Deshalb trennten wir uns. Ich blieb mit der Kleinen bei Wutke. Südlich von Frankfurt schafften wir’s nachts bei Schneetreiben über die Oder zu kommen. Als es hell wurde – Tiefflieger! Wir hörten Abwehrfeuer und Detonationen.
Weiter südwestlich! Von Beeskow aus wollte Hannes zum Spreewald. Er meinte, dort sei es noch ruhig, man könne ausspannen und bleiben. Ich sorgte mich um die Kleine. Die weinte jetzt oft und hustete stark. Ihr Köpfchen fühlte sich heiß an. Als wir eine Sanitätsstation sichteten, bat ich zu warten. Im sauberen Fellsack trug ich Rosi da rein, fand auch gleich eine Schwester, die sich meine Geschichte anhörte. Sie nahm mir das Kind ab und ging mit Rosi direkt zu einem älteren Arzt, der eben seinen Dienst beendete.
„Bitte, bitte, untersuchen Sie noch diese Kleine!“
Dazu sprudelte sie meine Geschichte hervor, zog Rosi schon so weit aus, dass er Herz und Lunge abhören konnte. Halbnackt präsentiert, musste er das Kind anschauen, den kleinen Körper abtasten und untersuchen. Er tat es wirklich! Ich zitterte vor Freude – aber auch Angst; denn sein erst leichtes Lächeln verschwand.
„Das wird eine Lungenentzündung“, sagte er. „Das Kind muss hier bleiben.“ Dann an die Schwester gewandt: „Haben wir überhaupt noch ein Bett?“
„Ein kleines Kinderbett steht zusammengeklappt im Umkleideraum für die Schwestern.“
„Dann los! Geben Sie Anweisung, dass es untergebracht wird. Die Kleine muss gewaschen und warm verpackt werden. Ich spritze Vitamine und ein Stärkungsmittel. Mehr können wir jetzt nicht tun.“
„Danke, Herr Doktor“, stammelte ich.
„Ich bin Doktor Warnke, helfe hier eigentlich nur aus, weil der Oberarzt in ein Lazarett abkommandiert wurde. Sie können sich auf mich berufen, wenn Sie außerhalb der Besuchszeit bei der Kleinen bleiben. Wo wohnen Sie hier?“
„Nirgends! Draußen warten die andern. Wir sind mit Pferdewagen seit Ostpreußen auf der Flucht. Die wollen weiter.“
„Wollen Sie mit?“
„Nein! Ich bleibe bei dem Kind, muss aber unsere Sachen holen und mich verabschieden.“
„Dann eilen Sie sich!“
Packtasche und Rucksack durfte ich mit dem Mantel der Mutter zusammen beim Pförtner lassen. Rosis Sachen wanderten im kleinen Pappkoffer in einen Schlafsaal. Zu den zehn Betten dort wurde nun noch das Kinderbettchen geschoben. Ich stellte mich vor. Die Schwester erklärte die Situation. Im Raum lagen meist ältere Frauen, einige apathisch, andere mütterlich interessiert. Nur eine jammerte gleich: „Jetzt auch noch Babygeschrei! Da kann keiner schlafen!“
„So’n Quatsch! Sie schnarchen doch so laut, dass andre nicht schlafen können!“, tönte es aus dem Nebenbett. „Hören Sie Babygeschrei? Ich nicht!“
Rosi lag wohl verpackt. Wahrscheinlich hatte sie noch nie so gut gelegen wie hier. Sie betrachtete mit großen Augen die Gitter ihres Bettes, fasste vorsichtig danach und schaute mich an. Ich beugte mich über sie.
„Roseli, hier kannst du jetzt schlafen“, sagte ich leise. „Die Tanten sind alle ganz lieb zu dir. Die wollen auch gesund werden, genau wie du. Ich muss jetzt fort, aber ich komme bald wieder. Das weißt du, ich komme immer wieder. Mach die Guckchen zu, schlaf jetzt, mein Schatz!“
Sie lächelte, steckte den Daumen in den Mund und schloss die Augen. Eine Weile wartete ich noch. Dann legte ich beschwörend einen Finger auf den Mund, winkte den Frauen zu und schlich leise hinaus.
Was nun? Unser Gepäck lag beim Pförtner. Die Kleine hatte ich auf meine Versicherung mit anmelden können. Aber wo sollte ich bleiben? Am liebsten hätte ich mich einfach hier in den Gang gelegt, um zu schlafen. Ich musste im Ort eine Stelle finden, die Notunterkünfte zuwies. Gab es die überhaupt? Ich fragte den Pförtner. Der schüttelte den Kopf.
„Wir haben schon genug Flüchtlinge hier – und Bombenschäden dazu. Seien Sie froh, dass Sie das Kind untergebracht haben.“
Ich nickte, griff meinen Rucksack, brachte ihn in Höhe des Rückens und rutschte dann einfach weg. Mit zitternden Knien saß ich auf dem Fußboden. Tränen liefen mir über die Wangen.
„Mit dem Gepäck kann ich nicht gehen. Bitte behalten Sie den Rucksack noch hier. Den Mantel kann ich überhängen und die Packtasche schleppen, mehr bestimmt nicht. Ich werde draußen jeden, der vorbeikommt, fragen.“
Der Pförtner half mir auf, stützte mich und führte mich zu seinem Stuhl.
„So geht’s nicht“, sagte er. „Erst mal Kraft tanken!“
Er öffnete seine Thermoskanne, goss Kaffee in seine Tasse und reichte sie mir.