Kitabı oku: «Geschichte der deutschen Literatur. Band 5», sayfa 3

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1.2.2 Der Fortschritt, die „Macht der Finsternis“ und die Schönheit

Das Material der Montage in Benns „1886“

Zu diesen neuen Formen gehört nun eben auch die der Montage, wie sie Benn in „1886“ zum Einsatz bringt. Sachverhalte und Begebenheiten, die den verschiedensten Bereichen des Lebens angehören, werden, wie es scheint, in beliebiger Abfolge aufgerufen und ohne ein Wort der Vermittlung aneinandergereiht. Da ist zunächst vom Wetter des Jahres 1886 die Rede; das Gedicht hat also einen Beginn, den man bei der älteren Lyrik einen Natureingang nennt. Was dabei an Naturerscheinungen benannt wird, kommt allerdings weniger um seiner selbst willen in den Blick als vielmehr, weil es das zivilisatorische Getriebe durcheinanderbringt, und von diesem wird im folgenden ausschließlich gehandelt.

Die Parade der „zivilisatorischen Realitäten“ beginnt mit einem Theaterstück des uns schon bekannten, von den Modernen des Epigonentums geziehenen Paul Heyse, das intrikate familiäre Verwicklungen zum Gegenstand hat. Sodann ist von der großen Politik die Rede, von der weltweiten Expansion der Kolonialmächte England, Frankreich und Rußland; dann von diversen Formen moderner Freizeitgestaltung, vom Radfahren, Bergsteigen und von der Hundezucht; dann vom Entwicklungsstand der deutschen Handelsflotte; dann von dem überaus kultivierten, kunstbeflissenen Leben des russischen Realisten Iwan S. Turgenjew (1818–1883), ein Leben, das merkwürdigerweise die Beschäftigung mit romantischer Musik und der Dichtung des Romantikepigonen Viktor von Scheffel (1826–1886) mit einbegreift – das soll wohl heißen, daß der Realismus des 19. Jahrhunderts der Vorstellungswelt der Romantik tiefer verhaftet gewesen sei, als er habe wahrhaben wollen – dann von allerlei Entdeckungen der modernen Biologie; dann vom Kampf nationalgesinnter Sprachpfleger gegen Fremdwörter, vom Ringen um ein Ladenschlußgesetz und vom Wahlkampf in Berlin; dann erneut von Literatur, von einer Literaturkritik, die die Banalitäten der Epigonen mit den stärksten Worten feiert, aber ohne jedes Gespür für das Neue ist, wie es sich in den Werken der Naturalisten Emile Zola, Henrik Ibsen (1828–1906) und Gerhart Hauptmann und des Symbolisten Gustave Flaubert (1821–1880), in dessen Roman „Salammbô“ (1863), anbahnt; und dann noch einmal von der modernen Biologie, nunmehr in evolutionärer Perspektive. Der Schlußpunkt wird mit einem Blick auf die boomende Rüstungsindustrie gesetzt, vertreten durch die prominentesten französischen, deutschen und russischen Waffenschmieden, die Firmen Schneider-Creuzot, Krupp und Putiloff.

Problematisierung der Schönheit

Das alles wird ohne jedes verbindende Wort hintereinander aufgereiht, wird mit harten Schnitten „montiert“ wie die Seiten einer Zeitung oder die Sequenzen eines Films. Gerade dies wäre einem Lyriker im 19. Jahrhundert niemals in den Sinn gekommen. Sein Ziel war es, ein „organisches Ganzes“ zu schaffen, ein Gebilde, in dem sich alle Teile organisch auseinander entwickeln und harmonisch aneinander anschließen. Diesem Ziel suchte er selbst dort nahezukommen, wo er von einem zerrissenen Ich und einer auseinanderfallenden Welt handelte. Eine bestimmte Grundstimmung, zum Beispiel die des Weltschmerzes oder des Humors, ein bestimmter durchgängiger Gemüts- und Seelenton sollte dafür sorgen, daß sich beim Leser auch bei noch so disparater Motivik am Ende der Eindruck der Einheit in der Vielheit, der Eindruck der Schönheit einstellte.

Von solcher Schönheit hat sich ein Vertreter der Moderne wie Benn offensichtlich verabschiedet; die Welt, deren Bild gezeichnet werden soll, und die Verfassung des Ichs, das sich an ihm versucht, lassen es nicht mehr zu, daß es sich zu einem „organischen Ganzen“ gestaltet. „Das Bewußtsein erträgt im Augenblick nur etwas, das in Bruchstücken denkt“ (GBE 532). Das soll freilich nicht heißen, daß die Begriffe der Schönheit, des „organischen Ganzen“ und des Subjektiv-Erlebnishaften für die moderne Literatur überhaupt keine Bedeutung mehr hätten. Wie Metrum und Vers, Reim und Strophe behalten auch sie ihren Stellenwert; allerdings bezeichnen sie hier nur noch eine Option neben anderen, finden sie sich hier in einem Umfeld wieder, das auch andere Möglichkeiten der literarischen Rede kennt und in dem sie sich im Vergleich mit diesen zu bewähren haben.

Die Montage und die Frage nach dem „großen Ganzen“

Freilich, so heterogen sich der Text von Benns Gedicht auch präsentiert und so hart er die „Erscheinungen der Welt“ aufeinanderprallen läßt – im Zuge der Lektüre bekommen es diese „Erscheinungen“ dann doch miteinander zu tun, erwächst aus dem Kaleidoskop von Aspekten, in denen die Welt des Jahres 1886 aufgerufen wird, nach und nach dann doch ein Gesamteindruck. Die Lesebewegung, das kontinuierliche Fortschreiten von einem zum anderen, hat zur Folge, daß die Motive im Horizont des Lesers miteinander reagieren, daß sie einander wechselseitig kommentieren und sich so zu einem Gesamtbild der geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse zusammenschließen.14

Wenn da zum Beispiel zunächst von einem Theaterstück berichtet wird, in dem die Heldin Selbstmord begeht, weil sie nicht verkraften kann, daß ihr zukünftiger Gatte dermaleinst eine Affäre mit ihrer Mutter gehabt hat, und im Anschluß daran von den weltweiten Raubzügen der europäischen Kolonialmächte gehandelt wird, so mag sich der Leser fragen, was das Theater seinerzeit für einen Horizont gehabt habe. Was war das für eine Literatur, die sich die apartesten Verwicklungen und Seelenkonvulsionen einfallen ließ, während sich der Imperialismus mit blutiger Faust den Globus unterwarf? Oder er mag sich umgekehrt die Frage stellen, was eine so geartete Weltpolitik letztlich für das Leben des Einzelnen bedeute, inwieweit sie wirklich an es heran- und in es hineinreiche.

Und so ähnlich wird er auch bei dem nächsten thematischen Sprung reagieren: während in der weiten Welt ein blutiger Beutezug den anderen ablöste, saßen in Berlin Menschen über dem Statut eines Vereins für Radfahrer beisammen und wurden hier Rassehunden Goldmedaillen umgehängt – wie borniert mußte man sein, um angesichts der weltpolitischen Lage mit derlei seine Zeit zu verbringen? Oder umgekehrt: kann die Weltpolitik ein Grund dafür sein, sich solcher harmlosen Aktivitäten zu enthalten? Am Ende all der thematischen Sprünge steht der Leser vor der Frage, wo seinerzeit der Ort gewesen sei, an dem man sich ein Bewußtsein von dem aberwitzigen Auseinanderlaufen der Dinge gab, wo man sich ihm stellte und es mit ihm aufnahm. Die Literatur war offenbar noch nicht dieser Ort, jedenfalls nicht die Literatur, die seinerzeit im Kulturbetrieb den Ton angab.

Eine Diagnose der modernen Welt

Auf solche Weise versucht sich Benns Gedicht an einer Bestandsaufnahme der Welt des Jahres 1886, und damit zugleich an einer Diagnose der modernen Welt überhaupt. Mögen die Details, die es benennt, auch andere sein als heute – das Bild, das so entsteht, läßt eine Welt erkennen, wie sie auch heute noch unser Leben bestimmt. Eine Wissenschaft, die mit immer neuen Entdeckungen aufwartet und altgewohnte Vorstellungen von Mensch und Welt infragestellt, eine Technik, die immer weiter dimensionierte Handlungsmöglichkeiten erschließt, die Globalisierung der Wirtschaftskreisläufe und die kriegerischen Verwicklungen, die sie begleiten, das Mißverhältnis zwischen den globalen Problemen und dem Klein-klein deutscher Provinzpolitik, die Kümmerlichkeiten des Alltags – „Wadenkrämpfe“ – und der Versuch, sie mit melodramatisch aufgedonnerten Freizeitaktivitäten zu kompensieren, die Stürme im Wasserglas eines Kulturbetriebs, der eine Vorliebe für das Mittelmaß hat und allem wirklich Neuen mit der Arroganz der Unsicherheit begegnet – das alles ist uns nur allzu vertraut.

Vor allem erkennen wir in dem Bild, das Benn von der Welt des Jahres 1886 zeichnet, das Moment wieder, das bis auf den heutigen Tag und heute mehr denn je die Struktur der Gesellschaft bestimmt: die institutionelle Differenzierung, das Auseinanderfallen der Gesellschaft in Lebensbereiche, die sich um ein bestimmtes Spezialinteresse herum organisieren und gegen alle anderen Interessen abschotten. Eben in diesem Nebeneinander der Lebensbereiche, wie sie dem Individuum im Laufe seines Lebens, ja an jedem einzelnen Tag ein ständiges Umsteigen von einem zum anderen abverlangt, haben die Verfechter einer neuen Literatur eine zentrale Herausforderung der Kunst in der Moderne erkennen wollen. Ihnen geht es im Grunde überall und immer um das „große Ganze“, um den großen Zusammenhang jenseits der Spezialinteressen und Sonderwelten. Und wo es ihnen nicht gelingt, sich ein Bild von ihm zu machen, da versuchen sie wenigstens, die Frage nach dem „großen Ganzen“ offenzuhalten, so schwer es ihnen die modernen Verhältnisse auch machen mögen. Auch Benn versucht sich in „1886“ letztlich an nichts anderem als an einem Gesamtbild der modernen Welt, ein Versuch, dem die historische Lage der Jahre 1944/45 die Perspektive vorgibt.

Der Fortschritt, die „Macht der Finsternis“ und der „schöne Schein“ der Kunst

Da ist auf der einen Seite der Fortschritt, ist die Modernisierungsmaschine, die sich wie eine gewaltige Dampfwalze immer weiter voranschiebt. Das zivilisatorische Geschäft steht in Blüte, die theoretische Durchdringung und praktische Unterwerfung der Natur schreitet voran, die Menschheit dehnt ihren Aktionsradius immer weiter aus und weiß ihre Belange immer effizienter zu organisieren. Auf der anderen Seite will über all dem Fortschritt aber die „Macht der Finsternis“ durchaus nicht weichen, ja sie scheint an dem zivilisatorischen Geschäft selbst mit beteiligt, auf eine Weise, die sich immer weniger verbergen läßt, je moderner die Verhältnisse werden. Das deutet sich zunächst in dem an, was von der Politik der europäischen Kolonialmächte berichtet wird, einer Politik, deren Anspruch es ist, die moderne Zivilisation in die Welt zu tragen, und die in Wahrheit den Globus mit Krieg und Ausbeutung überzieht, und es wird vollends am Schluß des Gedichts offenbar: „Kapitalverdoppelung bei Schneider-Creuzot, Krupp, Putiloff“. Eine Entwicklung ist im Gange, deren innerste Triebkraft nicht die Menschheitsbeglückung ist, wie es der Anspruch der Moderne ist, sondern die kriegerische Gewalt und die auf eine große Explosion zusteuert.

Davon wollen die Menschen freilich nichts wissen, und an diesem ihrem Nicht-wissen-Wollen ist die Literatur der Zeit keineswegs unbeteiligt, jedenfalls nicht die vom Kulturbetrieb favorisierte Literatur. Im Gegenteil: sie beschäftigt die Menschen mit Scheinproblemen, versorgt sie mit einem „schönen Schein“, der ihnen dabei hilft, sich über die wahren Probleme hinwegzutäuschen und sich einem naiven Glauben an den Fortschritt hinzugeben. Allerdings melden sich 1886 schon Stimmen zu Wort, die aus dem allgemeinen Konzert des „Wohlklangs“ herausfallen, kritische Stimmen wie die von Tolstoj, von Zola, Ibsen und Hauptmann und von Flaubert. Aus der Perspektive der Jahre 1944/45 ist klar: so „unerfreulich“ ihre Werke auch für die Zeitgenossen gewesen sein mögen – es waren sie, denen die Zukunft der Literatur gehörte. Und zugleich ist klar: ihre Erfolge bei späteren Generationen haben den Lauf der Dinge nicht aufhalten, haben Katastrophen wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg nicht verhindern können.

Soweit Benn und sein Gedicht auf das Jahr 1886. Wie immer man aus heutiger Sicht die Diagnose bewerten mag, die er hier der modernen Welt stellt – es ist eine Diagnose, die von den meisten der Autoren geteilt wurde, die die moderne Literatur auf den Weg brachten. So schätzten sie die Verhältnisse ein, unter denen sie antraten, so die Herausforderungen, mit denen sie es aufzunehmen hätten. Insbesondere waren sie wie Benn der Überzeugung, daß die seinerzeit herrschende Kunst und Literatur versucht hätte, einen „schönen Schein“ aufrechtzuerhalten, der durchaus an den Realitäten der Moderne vorbeigegangen und nichts anderes gewesen wäre als eine einzige große Lüge. Und so machten sie sich auf, um mit dieser Kunst und Literatur zu brechen und etwas Neues, von Grund auf anderes zu versuchen, etwas, das der modernen Welt eher gerecht würde und den Menschen die Augen für sie öffnen könnte.

2 Aufbruch in die Moderne

2.1 Programmatischer Modernismus

2.1.1 Der Begriff „modern“

 
Grüß Gott und Willkommen! Das Herz zum Gruße
Tut weit euch auf die Sommermuse;
Ja, seht mich nur an, gelehrte Herrn!
Ihr möchtet wohl was Klassisches gern,
Allein, vom Scheitel bis zum Fuße
Bin ich modern, modern, modern!
Ohne Kothurn und Tunika,
Steh ich, ein Mädel von heute, da
Und laß mir mein Heute, mein Heute nicht nehmen,
Will mich in gar nichts Vergang’nes bequemen.
Heut leb ich und lieb ich und heut bin ich jung,
Dem Heute entatm’ ich Begeisterung.
Und ist auch ein Schimpfen
Und Naserümpfen:
Wo ist denn die große
Hellenische Pose,
Das Majestätische,
Donnerpathetische,
Und was man noch sonsten das Klassische nennt:
Das herzheiße Heute ist mein Element.
Drum, was auch die Alten in Ehren gesungen,
Ich liebe die wagemutigen Jungen,
Die durch das bunte Heute schweifen,
Des Lebens lachende Blumen greifen
Und aus des Heute drohenden Schlünden
Sich Stufen zu neuer Helle gründen.
Sie lieb ich ganz und bin ihnen hold,
Zeig ihnen im Heute poetisches Gold:
In den Düsternissen
Sozialer Not,
Wo die Liebe zerrissen
Der Schrei nach Brot,
Wo ein Kämpfen und Kriegen ohn Unterlaß,
Wo die Menschen spaltet ein grimmiger Haß,
Wo allem Herzlichen, allem Schönen
Verzweifelt entgegengellt spöttisches Höhnen:
Da will ich dem Schönen das Wahre versöhnen.
Im Wahren die Schönheit! so finden wir sie:
Die uralt neue, die Poesie.
Mit hellen Augen
Die Schönheit saugen,
An der keine Lüge und Schminke klebt,
All-alles, was lebt,
Mit Herzblut tränken
Und aus in goldenen Schalen schenken.
Das ist es, wonach das Junge strebt,
Das sich enthoben den wurmigen Bänken
Der Formelnschule und Konvention,
Die aller Ehrlichkeit, allem Mute,
Die allem liebsehnsüchtigen Blute
Am Ende geworden papierener Hohn.
Natur! Natur! Dich wollen sie singen,
Tief ein in deine Klarheit dringen,
Durch Wolkengrauen
Und Nebelbrauen
Das warme Herz der Wahrheit schauen
Und wiedergebären in neuem Sange,
Was unter Phrasenhülsen versteckt,
Im Dornröschenschlafe, dornenumheckt
Verborgen gelegen allzulange; –
Zu neuem Lenze sei es erweckt! –
Es muß gelingen! Ich habe gelauscht
Wie’s auferstehungsgewaltig rauscht
In tausend jungen Herzen;
Es drängt heraus, es braust ans Licht,
Es achtet aller Feinde nicht
Und lacht in Werdeschmerzen.
Und wirft’s auch Blasen wirr und wild:
Es klärt, es hellt sich doch das Bild,
Die Farben leuchten und glühen.
Was jetzt noch im Keimen und Schwellen ist,
Aufbrechen wird’s in kurzer Frist,
Zu weitem, buntem Blühen! (MM 134–137)
 
Das Wort „modern“ als Schlagwort

Mit diesen Versen wird am 13. Juli 1891 in München das Sommerfest einer Vereinigung von Künstlern und Literaten eröffnet, die sich soeben unter dem Namen „Gesellschaft für modernes Leben“ in das Vereinsregister der Stadt hat eintragen lassen. Der Verfasser ist Otto Julius Bierbaum (1865–1910), ein umtriebiger junger Autor, der ständig zwischen den Zentren der Moderne im deutschen Sprachraum, zwischen München, Berlin und Wien unterwegs ist. Er hat gerade eine neue Zeitschrift gegründet, der er den Namen „Modernes Leben“ gegeben hat, und er wird seinen Festprolog in einer Anthologie veröffentlichen, die den Titel „Moderner Musenalmanach“ trägt. Auch die „Gesellschaft für modernes Leben“ hat schon eine eigene Zeitschrift; sie heißt „Moderne Blätter“.

Es ist unschwer zu sehen: das Wort „modern“ hat um 1890 Konjunktur. Offenbar ist es in den kulturellen Debatten der Zeit zu einem allgewaltigen Schlag- und Machtwort geworden, hat es sich ein solches Renommee erworben, daß man für seine Projekte nichts Besseres tun kann, als sie unter seiner Flagge in See stechen zu lassen. Auch Bierbaums „Sommermuse“ kann es gar nicht oft genug aussprechen: „Vom Scheitel bis zum Fuße bin ich modern, modern, modern“. Schon 1886 hat Arno Holz in seinem „Buch der Zeit“ die Parole ausgegeben: „Modern sei der Poet, modern vom Scheitel bis zur Sohle“. Modern zu sein ist die Losung all derer, die seinerzeit auf die Bühne des literarischen Lebens drängen. Mit dem Alten, mit den Traditionen und Konventionen der Kunst soll gebrochen werden, auch und gerade mit denen, die unter dem Vorzeichen des „Klassischen“ auf die Gegenwart gekommen sind; etwas Neues soll auf den Weg gebracht werden, das sich auf nichts anderes als das „Heute“ gründet und das der Kunst einen neuen Frühling, eine neue Blüte bringen wird.

Die Forderung nach einem Neubeginn in der Kunst

In diesem Sinne steht der Wille zum Modernsein, steht ein programmatischer Modernismus am Beginn der modernen Literatur in Deutschland. Er weiß sich bereits mit großer Bestimmtheit zu bekunden, noch bevor eine Literatur Gestalt angenommen hat, die den Namen modern wirklich verdient, die mit neuen Themen und Formen aufwarten kann. Auch Bierbaums Verse klingen ja noch recht konventionell; es sind Verse, wie man sie aus der liedhaften Lyrik kennt, wenn sie sich auch bereits der Liedstrophe entledigt haben. Und überhaupt: wer seine Worte noch einer Muse in den Mund legt, der hat sich vom „Klassischen“ noch nicht allzu weit entfernt. Was dem programmatischen Modernismus seine Selbstsicherheit verleiht, sind zunächst noch keine eigenen Leistungen, ist nicht mehr als die Überzeugung, daß die alte Kunst und Literatur abgewirtschaftet habe, daß mit ihr in der „neuen Zeit“ nicht mehr viel anzufangen sei und daß deshalb mit ihr gebrochen werden müsse.

Dieses Pathos des Neuanfangs ist nun in der Tat etwas Neues, und zwar etwas völlig Neues, etwas, das es so in der Geschichte der Kunst noch nicht gegeben hat. Natürlich hat es der Kunst auch in früherer Zeit nicht an Innovationen gefehlt, doch sind diese in der Regel aus dem Studium älterer Kunst erwachsen, als Versuche, das von den Vorgängern Geschaffene weiterzuentwickeln, es zu überbieten, mit anderem zu verbinden oder in eine Richtung zu treiben, an die noch niemand gedacht hat. Nun will man ganz und gar mit der Überlieferung brechen, will man eine „Stunde Null“ herbeiführen, die alle ältere Kunst aus dem Blick entfernt und einen völligen Neubeginn möglich macht.

Zur Geschichte des Begriffs „modern“

Der Begriff, um den sich das Streben nach dem voraussetzungslos Neuen kristallisiert, der der Modernität, ist selbst freilich alles andere als neu; immerhin erfährt er nun eine Um- und Neudeutung, die durchaus aufschlußreich für die Veränderungen an der Schwelle zur Moderne ist. Das Wort „modern“ ist eine Schöpfung bereits des Mittelalters, ein Kunstwort mittelalterlicher Theoriebildung, abgeleitet vom lateinischen „modo“, zu deutsch „eben, gerade, vor kurzem“, und eingeführt als Gegenbegriff zu lateinisch „antiquus“, deutsch „einstig, früher, alt, altertümlich“. Dementsprechend begegnet es durch die gesamte Neuzeit hindurch und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein fast ausschließlich als Teil der Dichotomie antik – modern, wie sie vor allem dazu diente, die Kultur des neuzeitlichen Europa mit der der alten Griechen und Römer zu vergleichen. Seit der Renaissance, seit den Zeiten des frühneuzeitlichen Humanismus hat dieses Europa seine eigenen Möglichkeiten ja in einer permanenten Auseinandersetzung mit der Hinterlassenschaft der Antike entwickelt, in allen Bereichen der Kultur, ganz besonders aber in Kunst und Literatur.

So bildet das Begriffspaar antik – modern etwa das Rückgrat jener europaweiten Debatte, die von 1670 bis 1830, von der französischen Klassik bis zur deutschen Klassik und Romantik, alles Nachdenken über Literatur bestimmte, der „Querelle des Anciens et des Modernes“, des Streits zwischen denen, die die Kunst und Kultur der Antike für unübertrefflich hielten, und denen, die den Werken der Neuzeit eigentümliche, besondere Qualitäten zusprachen, von denen die Antike noch nichts gewußt habe. Beide Parteien zielten mit ihren Überlegungen freilich gleichermaßen auf eine Literatur, die sich an antiken Vorbildern schulte; auch die „Modernes“ konnten und wollten sich eine Literatur noch nicht vorstellen, die gar nichts von den Alten hätte, die nichts als modern und dennoch große Kunst und schön wäre.

Das ändert sich erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, und zwar zunächst in Frankreich, im Kreis um Charles Baudelaire (1821–1867), wovon gerade dessen Umgang mit dem Begriff „modern“ Zeugnis ablegt. Baudelaire gilt weithin als der erste moderne Dichter, wohl zu Recht, jedenfalls soweit sich eine historische Entwicklung wie der Übergang zur Moderne an einer einzelnen Person festmachen läßt. Bei ihm beginnt der Aufstand gegen den Historismus und den Kult der Klassik, der seinerzeit wie in Deutschland, so in den meisten Ländern Europas die Szene beherrschte, beginnt die Abkehr von dem, was er „Eklektizismus“ nennt. In diesem Zusammenhang macht er von dem Begriff des Modernen auf eine Weise Gebrauch, über der er sich mehr und mehr von seinem altgedienten Pendant „antik“ löst und eine von diesem unabhängige, eigenständige Bedeutung annimmt – ein markantes Indiz dafür, daß die Literatur allmählich aufhört, sich über den Bezug zum Erbe der Antike zu definieren.15

„Il faut être absolument moderne“,16 heißt es bald schon bei Arthur Rimbaud (1854–1891), einem Autor aus der Schule von Baudelaire. Der Künstler der Gegenwart soll absolut modern sein, nicht nur relativ modern, nicht nur modern im Vergleich mit dem Erbe der Antike und den Begriffen von Kunst und Schönheit, die in ihm beschlossen sind. Die Literatur soll sich ohne Wenn und Aber auf den Boden der modernen Welt stellen, soll ihre Themen und Formen ausschließlich im Blick auf die Gegenwart entwickeln und aufhören, nach der Kunst der Vergangenheit zu schielen, sich an deren Vorstellungen von Kunst und Schönheit zu messen. In eben diesem Sinne heißt es dann auch bei Bierbaum:

 
Will mich in gar nichts Vergangnes bequemen,
Heut leb ich und lieb ich und heut bin ich jung,
Dem Heute entatm’ ich Begeisterung.
 
Von Renaissancen zu Avantgarden

Uns sind diese Vorstellungen inzwischen bestens vertraut, ja sie sind bis heute so selbstverständlich geworden, daß wir zu der Annahme neigen, alle Kunst sei seit jeher darauf ausgegangen, mit Traditionen und Konventionen zu brechen, die Macht der Gewohnheit auszuhebeln und die überkommenen Formen zu sprengen. Doch das ist keineswegs der Fall; der Ruf der ersten Modernen nach einem radikalen Neuanfang ist seinerzeit etwas durchaus Neues gewesen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, bis zur Klassik und zu deren Epigonen sind es vor allem Renaissancen, die den Entwicklungsgang von Kunst und Literatur bestimmen, ist es wesentlich eine immer wieder neu und anders in Angriff genommene Auseinandersetzung mit dem Erbe der Antike, wodurch Neues in die Welt kommt, und seit der Präromantik des 18. Jahrhunderts dann zusätzlich auch noch die Auseinandersetzung mit dem Erbe des Mittelalters. Nun beginnen Avantgarden die entscheidenden Impulse zu setzen, Bewegungen, deren Protagonisten gerade nicht mehr zurückschauen und das Gespräch mit den Größen der Vergangenheit suchen, die vielmehr „absolut modern“ sein wollen, die mit der Vergangenheit brechen und einzig von den Gegebenheiten der modernen Welt aus Neues schaffen wollen. In der Moderne sind es nicht mehr Renaissancen, sondern Avantgarden, die den Gang der Dinge bestimmen.

14.Karl Riha: Cross-Reading und Cross-Talking. Stuttgart 1971.
15.Hans Robert Jauß: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität. In: ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt 1970, S. 11–66. – Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne. In: Otto Brunner u. a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 4. 2. Aufl. Stuttgart 1997, S. 93–131.
16.Arthur Rimbaud: Une saison en enfer (Eine Zeit in der Hölle). In: ders.: Sämtliche Dichtungen. Französisch und Deutsch. Reinbek 1963, S. 204–245, hier S. 242.
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