Kitabı oku: «Bis an die Grenze», sayfa 10
Ihr kam der Gedanke, er zweifle an ihr und litte unter ihrer physischen Unempfindlichkeit und ihrem Kummer. Endlich aber mußte sie sich überzeugen, daß das, was ihn schmerzte, das Bewußtsein war, daß sie ihn nicht liebte, und daß seine Zärtlichkeiten sie deshalb kalt ließen. Und trotz des Stolzes, der sie von ihm fernhielt, schuf sie sich eine neue Sorge: ihn nicht glücklich zu machen.
»Genug, genug!« dachte sie. »Ich habe immer Böses getan, immer nur Leid bereitet: jetzt ist es genug!« Und sie glaubte eine Pflicht zu erfüllen, indem sie seine Liebkosungen, seine Küsse zu erwidern begann; und wenn er sah, daß sie sich belebte, so war es als fühle er das Entzücken, das Staunen eines Künstlers, in dessen eigener Schöpfung der Pulsschlag lebendigen Lebens erwache.
»Du liebst mich also!« sagte er eines Tages. »Ja, liebe mich, liebe mich, laß uns eins werden!«
Sie errötete. Sie ward gewahr, daß sie wirklich anfing ihn zu lieben. Die Liebe war es und nicht die Pflicht, die sie lehrte, seine Liebkosungen zu erwidern! Es war ihr, als ströme von seinen Lippen völliges Vergessen alles anderen in ihre Seele, als nähme er durch fernen Kuß sie ganz in sich auf. Für einen Augenblick waren sie wirklich eins, endlich! Sie erbebte bis ins Innerste, es war ihr, als zerbräche sie, mit ihm zusammen. Wohl sah sie, bevor sie wieder zur Besinnung kam, in seinen Augen noch einen leidvollen Ausdruck und erkannte, daß auch er ein Weh empfunden hatte. Und so erfuhr sie, daß das, was man sie als die größte Sünde anzusehen gelehrt hatte, die höchste Lust, in Wahrheit der höchste Schmerz war.
II
Mit jenem Tage fing sie nun doch an Bedenken zu hegen, ob sie nicht eine Sünde begehe, wenn sie sich ihrem Manne so ganz hingebe. Sie gedachte der Ansichten ihrer Mutter und der Andeutungen ihres Beichtvaters über die Keuschheit und Enthaltsamkeit, die in den Beziehungen zwischen Ehegatten walten sollten. Und es demütigte sie zu denken, daß Francesco ihren Leib besitze, ihre Seele aber noch nicht. Das Geheimnis, das sie ihm noch immer nicht bekennen mochte, trennte sie; und überdies schien es ihr ungerecht, daß sie genießen sollte, während jemand durch ihre Schuld litt. Ihr alter Aberglaube erfaßte sie wieder, sie war überzeugt, daß Unheil ihrer warte; ihr Schicksal stand immer noch aus der Lauer, bereit, sie die Freuden, denen sie sich hingab, büßen zu lassen. Und in dem Maße wie ihre Sinne erwachten, und die Küsse ihres Mannes sie ganz durchdrangen, sie für einen Augenblick alles andere vergessen ließen, verspürte sie eine moralische Depression, ein Verlangen nach Buße und eine unendliche Traurigkeit. Und sie begann Vorwände zu suchen, um sich Francesco zu versagen. Wenn er sie rief, so verging sie fast vor Verlangen zu ihm zu eilen, aber ihre Entsagungskraft war so groß, daß es ihr fast immer gelang, sich zu überwinden. Und wenn sie doch bisweilen nachgab, so empfand sie nachher Scham, ja Verachtung vor sich selbst.
Eines Tages kam ein zweiter, von Luca im Namen der Mutter geschriebener Brief. Er gab Nachricht von allem: das Wetter war schrecklich, der Ex-Frater war gestorben, Paska hatte die Influenza, und von Zio Sorighe wußte man noch immer nichts: einige hielten ihn noch immer für schuldig, andere traten für ihn ein, und die ganze Sachlage war somit unverändert.
Sie erblaßte und verharrte lange düster und regungslos am Fenster. Francesco schlief. Durch die Scheiben sah sie den Himmel wieder tiefblau, hin und wieder von silberhellen Wölkchen bedeckt, und trotz ihrer Unruhe mußte sie an die Frühlingstage in ihrem Garten denken und an die Stunden, in denen sie auf den Postboten wartete. Und es kam ihr vor, als sei sie damals glücklich gewesen: so sehr litt sie jetzt.
Ganz leise schlich sie sich in das Schlafzimmer und betrachtete Francesco als sähe sie ihn zum erstenmal. Er war blaß, seine Augenlider ein wenig bläulich, der Mund halb geöffnet. Ein Ausdruck, von Müdigkeit und von Trauer ließ seine Züge schlaffer erscheinen als sonst. Wären nicht die tiefschwarzen, glänzenden Haare gewesen, so hätte er jetzt, da die leuchtenden Augen von den müden Lidern bedeckt waren; wie ein alter Mann ausgesehen. Sie hatte Mitleid mit ihm – und doch mußte sie ihn aus seinem Traume wecken. Als hätte ihr bloßer Gedanke Macht über ihn, erwachte er; er lächelte sie an, sein Gesicht verwandelte sich und nahm alsbald den gewohnten heiteren Ausdruck wieder an.
»Was tust du da, Gavina?«
»Ich las den Brief meiner Mutter. Soll ich ihn dir vorlesen?«
»Warum nicht? Aber komm hierher!«
Er wollte, daß sie sich auf das Bett setzte, neben ihn, zog sie an sich und küßte sie: sie wehrte sich und wich seinen Lippen aus. Dann aber schien sie das zu bereuen, lehnte sich an seine Brust und sah ihn an: in seinen Augen webten Sehnsucht und Trauer einen Schleier, wie wenn in der Dämmerung Licht und Schatten sich bekämpfen, vermischen.
Sie richtete sich wieder auf, setzte sich auf den Bettrand und sagte leise, fast ängstlich: »Jetzt will ich dir den Brief vorlesen. Höre!«
Aber sie entschloß sich noch nicht, das Blatt zu entfalten; wie von Schlaf überwältigt saß sie da, in sich zusammengesunken.
»Lies doch, Gavina!«
Statt zu lesen, sagte sie zögernd: »Höre, kann ein eingeschriebener Brief verloren gehen?«
»Schwerlich, aber vorkommen kann es immerhin. Weshalb?«
»Höre . . . ich muß dir etwas sagen . . . Hörst du mich?« fing sie leise an, in dem demütigen, beklommenen Ton, mit dem sie früher zu ihrem Beichtvater gesprochen hatte. »Aber du mußt nicht sprechen, mich nicht unterbrechen, bis ich dir alles gesagt habe. Du sagtest letzthin, du wärest von Priamo Felix’ Selbstmord überzeugt. Auch ich war davon überzeugt, das heißt, ich wußte es. Ja, er hat sich das Leben genommen und bevor er es tat, hat er es mir geschrieben. Ja, mir . . . sei still! Höre! Du sollst mir – nicht verzeihen, aber mich verstehen. Ich erhielt den Brief eine Stunde vor unserer Abreise. Du warst so glücklich! Ich wollte deine Freude nicht stören, wollte warten, um dir dann alles zu sagen. Was hättest du getan? Ich hatte Anrecht, jetzt sehe ich es ein«, fuhr sie fort, ohne seine Antwort abzuwarten; und er hörte aufmerksam zu, sah ihr mit seinen glänzenden Augen fest ins Gesicht, schien aber weder erregt noch überrascht »Ja, ich habe immer Böses getan, aber ohne es zu wollen; ich glaubte, gut und richtig zu handeln. Letzthin also, nachdem ich gelesen hatte, man hätte Zio Sorighe im Verdacht . . . du kennst ihn, den alten Mann, der bei uns im Dienst war . . . da schickte ich das Briefchen, in dem Priamo mir sagte, er werde sich das Leben nehmen, eingeschrieben an den Kanonikus Belli«. Ich war gewiß, daß der Irrtum so aufgeklärt würde. Aber nein! . . . Und warum das? Und nun . . . du weißt vielleicht, daß Zio Sorighe verschwunden ist . . . er ist flüchtig . . . unter der falschen Anklage . . .«
»Und du hattest ihnen geschrieben . . . ach, die Elenden!« schrie Francesco und schlug mit der Hand auf die Decke.
Sie erbebte, als wenn er sie geschlagen hätte. In dem Ausrufe »die Elenden« fühlte sie sich einbegriffen. Und die vermeintliche Beleidigung gab ihr sofort ihren ganzen Stolz wieder: in ihrer alten Art warf sie den Kopf auf, und mit einemmale war es ihr, als hätte sie jenen Alp abgeschüttelt. Jetzt brauchte sie sich nur noch Francesco gegenüber zu verteidigen.
Sie sprang auf, trat hoch aufgerichtet und fest vor ihn hin und sah ihm ins Gesicht. »Du wußtest das nicht?« fragte sie.
»Wenn du annahmst, ich wüßte es, warum hast du bis jetzt geschwiegen?«
»Ich glaubte . . . ich wollte . . . ich hoffte mich aus der Sache zu ziehen, ohne dir Verdruß zu bereiten . . . Aber liest du denn nicht die Zeitungen?«
»Ich wiederhole dir . . . aber nein: ich will dir nicht wiederholen . . .«
»Werde nicht böse! Ich glaubte . . . ich glaubte, du wüßtest es, und sprächest nicht davon aus dem selben Grunde, der mich abhielt, davon zu sprechen . . . aus Zartgefühl. Jetzt muß ich dir alles erklären. Wenn du mich aber nicht mit Ruhe anhörst, so . . . so sage ich dir nichts mehr. Ich glaubte . . . ich glaubte«, sagte sie beharrlich, sank wieder in sich zusammen und stützte die Hand auf das Kissen, »ich glaubte, du müßtest es. Die Nachricht von dem Selbstmord wußtest du doch . . . du selbst hast es mir gesagt . . .«
»Ich hatte es durch Zufall gehört. Schon lange habe ich keine Zeitungen von der Insel mehr gelesen, du weißt, ich halte keine mehr.«
Sie schien überzeugt. Er hatte sich im Bett aufgerichtet, den Ellbogen auf das Kopfkissen gestützt, und hörte nicht einen Augenblick auf, sie anzusehen. Er war ruhig, aber von einer zu offensichtlichen Ruhe, als daß sie natürlich gewesen wäre. Jetzt fragte er: »Was enthielt Priamos Brief? Und wie schickte er ihn dir?«
»Eben durch Zio Sorighe . . .«
»Weiß der Kanonikus Bellia das?«
»Ja.«
»Sage mir . . .«
Sie wiederholte Wort für Wort die Zeilen Priamos. Ihr Gesicht bedeckte sich mit dunkler Nöte, und heiße Tränen trübten ihre Augen.
Francesco fragte: »Hatte er das Recht, dir so zu schreiben?«
»Ich weiß nicht . . . ich glaube nicht! Nein, nein! Ich bin nicht schuldig, Francesco, ich schwöre es dir! Ich habe ihm nie etwas versprochen. Einmal, vor vielen Jahren, als wir fast noch Kinder waren, kam er zu uns in den Weinberg und sagte mir, er wolle nicht mehr Priester werden, weil er mich liebe. Ich erwiderte ihm, ich wolle auf ihn warten; aber ich war ja noch ein Kind! Später begriff ich, daß mein Versprechen eine Torheit war. Und dann geschah so vieles: mein Vater starb! . . . Jenen Unglücklichen sah ich nie mehr allein, ich gab ihm keinerlei Hoffnung, ich ließ ihn wissen, daß ich nicht mehr an ihn dachte . . . das übrige weißt du. Du selbst hast gesagt, er hätte ein solches Ende nehmen müssen.«
»Er hätte ein solches Ende nehmen müssen!« wiederholte Francesco; aber er schüttelte den Kopf und sein Ton klang spöttisch.
»Was hätte ich denn tun sollen?« fragte sie erregt. »Sage du mir, was ich hätte tun sollen! Der Kanonikus Belli« wußte alles, er beriet mich, und ich folgte seinem Rat, gewiß, damit das Rechte zu tun. Und nun verhält er sich so! Warum? Warum? Ich weiß es mir wirklich nicht zu erklären.«
»Und das ist doch so leicht! Ist es möglich, daß du das wirklich nicht verstehst? Der Kanonikus Bellia ist ein Fanatiker, einer von den Menschen, bei denen die religiöse Idee zu einer fixen Wahnvorstellung wird. Die Märtyrer und die Inquisitoren waren wie er; die einen ließen sich töten, die andern töteten selbst, und sie waren gleicherweise Verbrecher, denn auch der Selbstmord ist nur eine Art von Verbrechen, und die Märtyrer waren nichts anderes als Selbstmörder, krankhafter und schuldiger als die modernen Selbstmörder. Der Kanonikus Bellia hat mehr die Natur eines Inquisitors; er will eine Säule der christlichen Kirche sein und wird nie zulassen, daß ein Sünder sich der uralten Tyrannei entziehe. Umsoweniger wird er zugeben, daß ein Priester, und namentlich ein Priester wie Priamo, sich das Leben nehmen könne. Das wäre ja eine Schande für die Kirche! Mögen auch tausend Bettler wie Zio Sorighe umkommen – nur erspare man dem gläubigen Volk die Schmach und das Beispiel eines selbstmörderischen Priesters. Jetzt begreifst du!«
Sie hatte ja längst begriffen, aber sie empfand ein solches Entsetzen, einen solchen Abscheu, daß sie Francesco hätte widerlegen mögen, wie sie einige Tage zuvor den Sachverhalt sich selbst gegenüber bestritten hatte.
»Was du da sagst, ist nicht möglich! Ich kann es nicht glauben. Mein Brief muß verloren gegangen sein. Übrigens, wenn Zio Sorighe wirklich verhaftet werden sollte, so wird er doch die Wahrheit sagen. Darüber kann der Kanonikus Bellia sich nicht täuschen und er kann auch nicht glauben, ich würde schweigen.«
»Wer weiß? Jetzt, wo er den Brief in Händen hat . . .«
»Aber nein, sei still«, schrie sie, »bringe mich nicht noch mehr auf! Vielleicht hat er auch gar nicht Unrecht, sich nicht in diese Sache einzumischen. Denn sie geht mich an. Ich muß handeln und das sofort. Sofort, Francesco!«
»Was kannst du jetzt machen, ohne Beweise? Was willst du sagen? Was willst du tun? Man könnte ja auch annehmen, du tätest es, um Zio Sorighe zu retten; er ist bei Euch in Dienst gewesen, kann dir Gefälligkeiten erwiesen haben . . .«
»Francesco! So sprichst du? Du?«
»Ich spreche nur Mutmaßungen aus.«
»Und das tust du mit solcher Ruhe? Das heißt, daß dir nichts an mir liegt . . .«
»O, mir liegt mehr an dir als du dir vorstellen kannst!«
»Und warum sprichst du dann so? Du mußt mir helfen! Du mußt, verstehst du? Wenn ich bis jetzt Böses getan habe, so war es, weil ich niemanden hatte, der mir half, . . . weil ich allein stand . . .«
»Aber seit dem Tage, an dem wir uns heirateten, standest du nicht mehr allein! Doch ich will dir keinen Vorwurf machen. Beruhige dich nur! Niemand kann dich besser verstehen als ich. Erinnere dich, was ich dir bei unserer ersten Unterredung sagte. Weißt du es noch? Worte sind unnütz, nur die Wandlungen zählen.«
»Aber die Handlungen werden durch Worte veranlaßt! Und wenn du mir jetzt nicht rätst, wenn du mir jetzt nicht hilfst . . .«
»Wirst du denn tun, was ich dir rate? Ja? Wir wollen sehen!« sagte er, stand auf und kleidete sich an: »Im übrigen wirst du von nun an keines Rates mehr bedürfen! Das war eine bittere Lehre, gesteh’ es nur. Du sagst, du hättest immer allein gestanden. Wäre es doch so gewesen, wahrhaftig! Dann wärest du wohl eine andere geworden! Aber gerade, weil du jemand hattest, der dich lenkte, bist du bis dahin gekommen.«
»Nun ist es aber genug! Quäle mich nicht so!« rief sie aus und preßte ihre Stirn mit den Händen. »Davon wollen wir später reden! Laß uns jetzt an das denken, was zu tun ist. Sag’ es mir, gleich! Gleich!«
»Vor allem sage ich dir nochmals, du mußt dich beruhigen. Fange nur jetzt nicht wieder mit deinen zwecklosen Selbstvorwürfen an! Du weißt, ich kenne dich!«
»Du kennst mich? Das glaubst du? Den Irrtum mußt du aufgeben! Ich bin böse, ich bin hochmütig, ich habe immer die Unwahrheit gesprochen und noch soeben habe ich dir nicht die ganze Wahrheit gefügt. Du hast mich gefragt, ob er ein Recht gehabt hätte, mir zu schreiben, wie er mir geschrieben hat; ich habe dir erwidert: nein. Und vielleicht hatte er doch das Recht dazu. Er ist durch meine Schuld gestorben, weit ich ihn zurückgewiesen habe, obgleich ich ihn liebte, und weil ich ihm nicht Wort hielt . . . Und er ist um meinetwillen so tief gesunken. Denn er ging zu Michela, um mit ihr von mir zu sprechen; er hat Michela und sich selbst ins Unglück gebracht aus Kummer, nicht aus Liebe zu ihr. Und du sagst, du kenntest mich? Siehst du, so bin ich: von der selben Familie wie Luca, von der selben Art wie Michela.«
Während sie sprach, war sie an das Fenster getreten, ihr Gesicht in den Vorhängen verbergend. Francesco hatte sich angekleidet; sein Gesicht war sehr blaß, aber seine Augen folgten Gavina mit ruhigem, kaltem Blick, mit einem Ausdruck, dem ähnlich, den er in seinem Arbeitszimmer bei seinen Experimenten hatte.
»Luca und Michela!« sagte er leise, wie für sich. »Aber weißt du, daß du Unsinn redest? Laß Luca und Michela nur aus dem Spiel: wer die sind, das wirst du ein anderesmal begreifen!«
»O, das begreife ich auch jetzt! Zwei Unglückliche, nicht wahr? Zwei Opfer! Meine Opfer. Das willst du sagen!«
»Ach, laß uns aufhören! Laß dich doch nicht wieder von deinem Hang hinreißen, dir selbst Böses zuzufügen. Wir haben jetzt an anderes zu denken. Komm’ mit mir!«
Er ging in sein Arbeitszimmer hinüber und setzte sich an den kleinen Schreibtisch. Sie folgte ihm und schien ruhiger zu werden. Er schrieb einige Worte und zeigte ihr das Geschriebene:
»Erbitte Antwort ob meinen Eingeschriebenen erhalten. Sonst komme selbst Brief Felix zurückfordern und Nötiges veranlassen. Gavina.«
»Gut!« sagte sie.
Er ging sogleich, das Telegramm aufzugeben.
Und von dem Augenblick an war Gavina anscheinend ruhig. Sie nahm sich vor, Francesco nicht mit unnützen Fragen zu belästigen, auch um ihm ihr volles Vertrauen zu zeigen.
Später begleitete sie ihn zur Poliklinik. Auch er war ruhig, wie gewöhnlich, aber schweigsam. Langsam und still gingen sie unterhalb der hohen roten Stadtmauer hin, die von einem melancholischen Wildwuchs gekrönt war. Die einsame Straße mit ihren stillen Villen und den steifen kahlen Bäumen, die aussahen, als wären sie auf den hellen Himmel gemalt, schien sich bis zu dem dunstigen Horizont auszudehnen; hier und da war an hohen Stangen eine geheimnisvolle Inschrift zu lesen wie an den Toren der Paläste im Märchen: »Die Berührung ist lebensgefährlich.« Die Stadt schien weit weg; auf einmal aber, bei einer Biegung der Straße, tauchte gleichsam ein Zauberland auf. Palastartige, helle Säufer, von eleganten Säulengängen umgeben, erhoben sich inmitten von Gärten, deren Gänge mit goldgelbem Kies bedeckt waren; Statuen und Reliefs schmückten die Fassaden und Stirnfelder; die weißen Terrassen leuchteten in der Sonne, und zwischen den Zwergpalmen und Koniferen hindurch ging der Blick auf die weite Campagna und auf die sie begrenzenden blauen Berge.
Francesco und Gavina betraten diesen Ort, der wie das Asyl glückseliger Poeten erschien und statt dessen die Stadt der Schmerzen war. Als sie in einen der Pavillons hineingingen, verspürte Gavina alsbald den selben unangenehmen Geruch, der die Luft in Francescos Arbeitszimmer so bedrückend machte. Sie empfand Widerstreben und Furcht. Nie zuvor hatte sie ein Krankenhaus gesehen: sie erwartete Geschrei und Stöhnen zu hören – und war erstaunt, als sie auf der Marmortreppe Lachen und jugendliches Geplauder vernahm. Es waren die Studenten, die geräuschvoll die Treppen erstiegen, und mitten unter ihnen befand sich ein großes, blasses junges Mädchen in einem grau und weiß karierten Mantel, das, ebenfalls lachend, eilig hinaufging, umgeben, beinahe gedrängt von seinen Gefährten.
Gavina betrachtete es mit Mißtrauen und Neugier. Das war also eine zukünftige Ärztin, eine von den Frauen, die wie Männer unter Männern leben, und an deren Existenz sie früher nicht einmal geglaubt hatte: so unwahrscheinlich war sie ihr vorgekommen. Die Studentin erwiderte Francescos Gruß, und gleich darauf erkannte Gavina den tarierten Mantel zwischen den Mänteln der Studenten, die auf dem warmen, dämmerigen Korridor hingen. Unter all jenen Mänteln, die – fast wie Menschen – ihre eigene Physiognomie hatten und die Armut, den Reichtum, die Bescheidenheit oder die Eleganz ihrer Besitzer verrieten, bewahrte der karierte Mantel seine Individualität, aber es war, als überließe er sich vertrauensvoll dem Kontakt mit seinen Ruhegenossen.
Trotz ihrer Beklommenheit sah und beobachtete Gavina aufmerksam, und jener einfache Mantel offenbarte ihr vieles! —
Francesco öffnete eine große Glastür, und sie sah ein weißes, in der Mitte von einer Säule gestütztes Zimmer. Die Kranken in ihren kleinen weißen Betten wendeten die Augen nach der Tür; sie waren ruhig und schweigsam, als ob sie jemand erwarteten. Nur die Rekonvaleszentinnen, die an den Fenstern saßen, durch die man auf den sonnenbeschienenen Garten sah, arbeiteten und lachten und kümmerten sich nicht um die Besucher: sie erwarteten niemanden mehr, die Gesundheit war wiedergekehrt.
Francesco trat an das Bett eines Mädchens mit weißem, glattem Gesicht, das von dichtem, rotem Haar eingerahmt war. »Wie geht es?« fragte er. »jener ist meine Frau.«
Das Mädchen versuchte sich aufzurichten und zu sprechen, aber in ihrer Kehle entstand ein Rasseln, dem ein harter, rauher Husten folgte. Dann machte sie Gavina Zeichen mit den Händen, als wollte sie sich entschuldigen; aber Francesco drückte ihren Kopf auf das Kissen nieder und sagte streng: »Still gelegen! Wenn du nicht bald wieder gesund wirst, dann nehme ich mir ein anderes Mädchen.«
Gavina aber lächelte der Kranken zu und sagte mitleidig: »Glaube das nicht; wir wollen auf dich warten, mach nur, daß du bald wieder besser wirst.«
In dem Bette daneben lag eine junge Frau, deren gerötetes Gesicht aus einer Masse schwarzer, krauser Haare hervorglühte; ihre großen dunkeln Augen glänzten und hatten einen freundlichen Ausdruck; ein Lederstreifen mit einem silbernen Plättchen umgab ihren nackten Hals. Während Gavina sie betrachtete, wurde die erst vor wenigen Tagen an einer Kehlkopfgeschwulst operierte Kranke von einer leichten Nervenkrise befallen und Francesco war der Wärterin behilflich, die Platte von der offenen Kehle zu nehmen und die Kanüle zu wechseln. Gavina sah das dunkle Loch und meinte, sie müsse selbst ersticken; eilends verlief? sie das Zimmer und sah neue und immer neue Kranke; in einem Operationssaal sah sie, daß der Fußboden sich nach den Ecken zu senkte, wie damit das Blut der Unglücklichen besser abfließen könne. Eine unendliche Trauer kam über sie, und den ganzen Abend mußte sie an die junge Frau denken, auf deren Hals gleichsam der Schmerz sein furchtbares Siegel gedruckt hatte.
Als sie nach Hause kamen, fragte Francesco, ob ein Telegramm für seine Frau gekommen sei.
»Nichts!«
Am andern Morgen klingelte Signor Zanche vergebens an der Tür der kleinen Wohnung. Gavina sich ihn, aber sie öffnete nicht. Sie erwartete die Antwort des Kanonikus Bellia und es war ihr, als könne jetzt nichts anderes auf der Welt für sie Interesse haben. Am Fenster ihres Schlafzimmers sitzend, blickte sie auf die Villa gegenüber und die weitere Reihe gelblicher und rötlicher Häuser. Verworrenes Geräusch hallte durch die durchsichtig klare Luft und drang bis zu ihr, doch als käme es aus einer weit entlegenen Stadt. Am sie her war alles rein und klar – und doch war es ihr mitunter, als müßte sie ersticken; dann kam ihr die Kranke von gestern in den Sinn, deren Leben von der gleichmütigen Wärterin abhing, und sie meinte, es ginge ihr ebenso: auch ihr war die Kehle wie eingeschnürt, und ein Gespenst stand neben ihr, das ihr kaum erlaubte, das bißchen Atem zu holen, dessen sie bedurfte, um nicht zu sterben.
Francesco fand sie blaß, mit trüben Augen. Auch er war in Sorge. Heute warf er sich angekleidet auf das Bett, aber er schlief nicht, und als die Türhüterin klingelte und die Post brachte, sprang er auf und eilte, sie durchzusehen.
Nichts!
Gavina hielt eine Ansichtskarte von einer Anverwandten in der Hand und betrachtete sie traurig. Auch er nahm die Karte und sah starr darauf. Dann blickte er auf und begegnete den Augen Gavinas. Sie sagten einander nichts, aber sie erkannten wechselseitig ihre wachsende Unruhe. Wie jedoch die Stunden hingingen, fühlten beide, daß ihre Spannung nachließ: sie erwarteten nichts mehr!
Am folgenden Morgen nahm Francesco, sobald er aufgestanden war, sein Portemonnaie zur Hand und zählte seinen Inhalt.
»Hast du genug Geld?« fragte er. »Jetzt bleibt doch nichts anderes übrig, als hinzureisen. Was meinst du?« Sie antwortete nicht: sie stellte sich die Überraschung, den Schrecken vor, den ihre Mutter haben würde, wenn sie sie so bald wiedersähe, die spöttischen Bemerkungen des Onkels Kanonikus und das Gerede in der Stadt.
Francesco steckte das Portemonnaie ein und fragte: »Du wirst dich doch nicht fürchten allein?«
»Wie, allein? Gehe ich nicht mit?«
»Was willst du da?« sagte er gelassen. »Der Kanonikus Bellia, das merkst du wohl, macht sich nichts aus deiner Drohung, du würdest selbst kommen. Laß mich also allein zu ihm gehen: du hast ja versprochen, meinem Rat zu folgen.«
»Tu, was du für gut hältst. Aber er kann sagen, er habe mit dir nichts zu tun.«
»Denke nicht an das, was er sagen kann! Du sollst mir nur versprechen, ruhig zu sein während der vier Tage, die ich fort sein werde. Fürchtest du dich?«
Ja, sie fürchtete sich, aber sie hütete sich wohl, es zu sagen. Statt zu antworten, fragte sie: »Und was wirst du meiner Mutter sagen?«
»Ich hätte mein Taschentuch vergessen und käme es zu holen.«
»Scherze nicht, Francesco. Sage mir, was du ihr sagen willst.«
»Denke jetzt nicht daran, ich werde schon eine Ausrede finden. Ich kann ihr ja sagen, ich hätte als Zeuge zu erscheinen. Und wäre das nicht die Wahrheit? Ich muß ja zum Richter gehen. Und nun laß mich gehen; um elf bin ich wieder hier, und dann können wir noch das Nötige besprechen.«
Er ging, nachdem er sie geküßt und ihr zugewinkt hatte. Er war ganz ruhig und schien der Sache gar keine Bedeutung beizulegen. Seine Ruhe übertrug sich auf Gavina, und sie sagte sich immer wieder: In fünf Tagen ist er wieder da und dann ist alles in Ordnung!
Er kam erst nach Mittag und entschuldigte sich, er habe nicht früher abkommen können. »Wir hatten drei Operationen zu machen, und eine Frau war wie besessen: sie biß und schrie noch nachdem sie chloroformiert war.«
Es war das erstemal, daß er von dem sprach, was er in der Klinik zu tun gehabt, und er schien müde. Sie hörte ihm zu und wagte nicht, von der Reife zu sprechen. Doch kaum war er mit dem Essen fertig, so stand er auf und sah nach der Uhr.
»Wenn du irgend etwas nötig haben solltest, so brauchst du nur an die Klinik zu telephonieren. Die Türhüterin soll jeden Augenblick nach dir sehen und wird hier schlafen, wenn du es willst. Fürchtest du dich wirklich nicht, die paar Tage allein zu sein?«
»Warum sollte ich mich fürchten? Eher werde ich mich um dich sorgen!«
»Das Meer wird diese Nacht ruhig sein, und ich werde gut schlafen. Ich hatte einmal eine kleine Reisetasche: was mag wohl daraus geworden sein?«
Sie holte die Tasche, er tat einiges Notwendige hinein und sah dann wieder auf die Uhr.
»Ich habe noch eine Stunde Zeit. Und die Post? Kommt sie heute nicht?«
Er ging hinunter, nachzusehen: es war nichts da. Er kam wieder herauf, warf sich auf das Bett und zog Gavina an sich.
»Was soll ich deiner Mutter sagen? Daß Rom dir gefällt? Daß du zufrieden bist? Nein? Warum weinst du jetzt? Bist du nicht gern in Rom? Nicht gern bei mir? Heraus mit der Sprache! Reut es dich?«
»Francesco . . . Francesco«, sagte sie schluchzend; »du tust so viel für mich . . . und du fragst, ob . . . dich könnte es reuen . . . nicht mich!«
»Mich? Warum?« sagte er ruhig. »Um nichts?«
* * *
Als sie allein war, warf sie sich auf das Bett und blieb lange liegen, von einem nervösen Zittern erfaßt. Das Kopfkissen roch nach Francescos Haar: sie drückte die Lippen darauf und sprach im Geist zu ihrem Manne: »Du sagst, es reue dich nicht. Das kann nicht wahr sein. Täusche mich nur nicht! Du bist nun unterwegs und weißt, daß du einer argen Demütigung entgegengehst, und denkst vielleicht, ›mit einer anderen Frau wäre mir das nicht passiert; ich wäre glücklich und ruhig gewesen, während ich mit ihr nur Ärger und Verdrießlichkeiten habe . . .‹«
Und drei Tage lang begleitete sie ihn mit ihren Gedanken unausgesetzt, ohne ihn einen einzigen Augenblick zu verlassen. »Jetzt ist er angekommen. Er geht direkt zum Hause des Kanonikus Bellia. Es ist Abend: der Kanonikus sitzt am Kamin und liest sein Brevier. Auf einmal sagt man ihm, verwundert und neugierig, der Doktor Francesco Fais wünsche ihn zu sprechen. Er sieht auf: bei ihm ein Zeichen großer Erregung; aber sogleich schlägt er seine Augen wieder nieder, steht auf und geht in das Besuchzimmer.« Gavina sieht das trübselige kleine Besuchzimmer vor sich, mit seinen unzähligen Heiligenfiguren, seinen kleinen Bildern, den künstlichen Blumen unter Glasglocken. Vom Fenster sieht man in den dunklen Garten mit seinen kahlen Bäumen und den Felsen, hinter denen Priamo sie einst geküßt . . . Vielleicht sieht Francesco, während er wartet, gerade dorthin und weiß nicht, daß dort das Drama begonnen hat, dem er ein Ende machen will. Er weiß es nicht; er weiß nicht, wie schlecht und verlogen sie gewesen ist: wüßte er’s, so würde er sich nicht so für sie bemühen. Aber bei seiner Rückkehr will sie ihm alles beichten, sich vor ihm anklagen, wie sie es einst vor ihrem Beichtvater tat . . .
Und während ihr alter Hang, sich zu demütigen, zu büßen, sie wieder erfaßt, sucht sie sich vorzustellen, was jetzt in Kanonikus Bellias Besuchzimmer geschieht: er kommt herein, ruhig, streng, die bläulichen Augenlider gesenkt und die Brauen gerunzelt. Er tut als ob ihn Francescos Kommen nicht im geringsten überrasche, und nach kurzer Unterredung gibt er ihm den Brief zurück.
»Ich wollte ein Ärgernis vermeiden, einen ernsten Nachteil für unsere liebe Gavina. In zwei, drei Tagen wird der Alte für unschuldig erklärt werden, denn sein Alibi ist jetzt nachgewiesen. Niemand dachte daran, ihn ernstlich zu beschuldigen, und er hat sich nur verborgen, weil ihm das Spaß machte. Er ist ein alter Abenteurer: in ein paar Tagen wird er zu seinem Kirchlein zurückkehren, zu seinen Schwätzereien, und es wird ihm vielleicht gar leid tun, daß das Abenteuer zu Ende ist. Warum ihm so viel Bedeutung beilegen? Ja, ich verstehe wohl: das gute Kind hat ein so zartes Gewissen! Und wie geht es ihr? Ist sie gern in Rom? Aber jetzt wird sie sich um Sie sorgen! Der Zwischenfall tut mir recht leid, recht leid! Hier ist der Brief! Aber ich bitte Sie: wir wollen doch keinen unnützen Skandal machen . . .«
Francesco nimmt den Brief und geht, ohne zu antworten. And nun ist er da, in ihrem großen, düsteren Eßzimmer: Paska weint, als sie ihn sieht, und die Mutter sieht ihn ganz erschrocken an. Er küßt sie lachend, beruhigt sie und fragt, wie es Luca geht. Luca ist betrunken. Als er Francesco sieht, grinst er und fragt, ob er sich schon mit Gavina gezankt und sie ihn davongetrieben habe . . .
Selbst im Traum war sie bei Francesco; mit ihm war sie im Garten des Kanonikus Bellia, hinter den Felsen; zusammen lasen sie die Zeilen Priamos, und sie bemerkte, daß die Handschrift verändert war.
Am Donnerstag war Francesco abgereist. Am Sonnabend erhielt sie ein Telegramm:
»Brief bekommen. Reise morgen früh zurück.«
Und am folgenden Tage ein zweites Telegramm:
»Reise jetzt ab. Alles in Ordnung. Sei ruhig.«
Ja, nun fühlte sie sich wirklich beruhigt. Wenn er abreiste, so war alles abgetan, und für sie fing ein neues Leben an. Sie war fast glücklich, wenigstens voller Hoffnung und guter Vorsätze, wie eine Genesende. Gegen Sonnenuntergang ging sie aus und wanderte lange umher, von einem Verlangen nach Lust und Bewegung getrieben. Es war ein lauer Spätnachmittag. Sie ging durch Via Venti Settembre, an den Quattro Fontane vorüber und weiter durch Via Veneto. Aus der Ferne drang Lärm und Wasserrauschen herüber, aber die breite Straße war fast einsam; an dem purpurfarbenen Himmel, zwischen dem kahlen Gezweig der Bäume, erschienen allmählich grünlich schimmernde Sterne. Auf einmal sah sie vor sich auf dem Trottoir einen grünen Stein funkeln, der das Licht der Sterne widerzuspiegeln schien; sie hob ihn auf und legte ihn auf ihre Handfläche: er sah aus wie ein Leuchtkäfer. Es war ein Stein, der vermutlich aus einem Ring herausgefallen war, vielleicht ein Smaragd. Dieser Zufall erschien ihr als eine gute Vorbedeutung und heiterte sie vollends auf.