Kitabı oku: «Bis an die Grenze», sayfa 14
»Nicolosa! Laß die Leute ruhig ihres Weges gehen«, sagte eine Männerstimme aus dem Dunkel unter der Treppe her.
»Ich will nur Gavina nach Hause bringen, dann komme ich gleich zurück«, sagte Francesco, nach oben blickend.
Aber Gavina blieb stehen. »Geh jetzt gleich hinauf«, sagte sie, »ich werde hier auf dich warten.«
Und während er die Treppe hinaufkletterte, setzte sie sich auf die Steine, die die untersten Stufen bildeten; und in einem Nu schnellten zehn, zwölf Gestalten wie Gespenster aus dem Dunkel hervor und umringten sie. Es waren zerlumpte Frauen, blutarme Mädchen, fieberkranke Kinder: die Glieder eines unterernährten, kindlichen, sich selbst überlassenen Volkes. Neugier, Verwunderung, Hoffnung auf eine Unterstützung und vielleicht gar das Verlangen nach Kunde aus einer fernen, ihnen unbekannten und phantastisch erscheinenden Welt trieben jene Gespenster zu dem Wesen hin, das so weit über ihnen stand und dennoch mitten unter ihren Ruinen Platz genommen hatte. Und nun taten sie Fragen, anfänglich schüchtern und ehrerbietig, dann immer dreister, schlauer, ja spöttischer, aber mit einem Spott, der auf die Fragenden selbst zurückfiel. Wie war Rom? Groß? Wie waren die Häuser? Wie war das Haus des Königs? So schön wie das Haus Gattulinus? (Großes Gelächter, auch von Seiten der Männer, die auf dem Boden liegen geblieben waren; denn das Haus Gattulinus war das elendeste in der ganzen Nachbarschaft.) Und die Straßen? Wie diese hier? Und wie sah der Papst aus? Aß er auch Gerstenbrot? Gab es in Rom auch Holzbirnen? Und mußte die Königin auch Korn schneiden?
Dann kamen vertrautere Fragen: »Signora Gavina, wie haben Sie es angefangen, so dick zu werden? Man sieht, daß Sie genug zu essen haben! Und warum haben Sie keine Kinder? Wenn Sie nicht die Mittel haben, sie aufzuziehen, dann schicken Sie sie nur uns!«
Gavina antwortete ohne sich zu ärgern, aber auch ohne sich darüber zu amüsieren. Der Humor dieser Leute, die ihr eigenes Elend kannten und es als eine Ironie des Schicksals hinnahmen, war ergreifender als irgendwelche Klage.
Aus der kleinen, offenen Tür oberhalb der Treppe drang das zornige, anhaltende Weinen eines Kindes. Doch niemand außer ihr achtete darauf: was hätte das geholfen? Francesco trat auf den kleinen Treppenpodest ohne Geländer, und während hinter ihm die Frau mit einem Laternchen leuchtete, beugte er sich vor wie über den Rand eines Abgrunds und rief hinunter: »He, ihr Frauen! Die Kinder haben die Mandelbräune! hütet die andern Kinder und laßt sie nicht zu ihnen!«
Gavina stand auf. Die grauen und schwarzen Gestalten in dem von oben kommenden schwarzen Lichtschimmer traten zurück und kauerten sich wieder im Schatten hin.
»Sind die Kinder sehr krank?« fragte sie und nahm wieder Francescos Arm. »Wieviele sind es?«
Er machte eine Bewegung, als wolle er etwas von sich werfen, und sagte nur: »Es ist ein Elend! Ein Elend!«
Als sie zu der von einer Laterne erhellten »Piazzetta« kamen, war der Kreis der Freunde Zia Itrias schon vollständig. Sie hörten die Baßstimme des »Invaliden«, die Weiberstimme des Zwergs. Francesco grüßte, und alle erwiderten ehrerbietig seinen Gruß. Doch kaum war das Paar vorüber, so erklang ungeziemendes Lachen und ein Laut wie von einer Kindertrompete, der alsbald durch Gelächter und Geschrei übertönt wurde. Dann hörte man die zornige Stimme Zia Itrias, etwas wie eine schallende Ohrfeige und das Weinen eines geprügelten Kindes.
Am andern Morgen sagte Luca zu Francesco, der Zwerg ersuche Gavina um eine Audienz.
»Eine öffentliche oder eine Privataudienz?« fragte Francesco und ging zu seiner Frau, ihr die Bitte mitzuteilen.
Da sie die Bitte gewährte, kam der Zwerg, der fast den ganzen Tag im Hause Zia Itrias zubrachte, mit einem gewissen Mißtrauen herangeschlichen und bevor er an Signora Joseppas Tür pochte, trat er an das Fenster des Speisezimmers und blickte durch die Scheiben wie die Kinder zu tun pflegten.
Gavina sah ihn, öffnete ihm selbst die Tür und lächelte, als ob sie wirklich ein Kind vor sich gehabt hätte. Dieser Empfang machte ihn vollends bestürzt; er fiel auf die Knie und faltete die kleinen Hände. Sie sah ihn ganz betroffen an: diese mageren und knotigen kleinen Hände verrieten das Alter des Männchens.
Er stotterte: »Das war ich gestern Abend . . . ich war es . . . und ich bitte um Verzeihung . . .«
»Aber was hast du denn getan? Steh doch auf!«
»Ich . . . ich, ja, den Lärm . . .«
»Nun? Was war das für ein Lärm?«
»Wie? Haben Sie das nicht gehört?«
»Ich habe nichts gehört.«
»Die andern haben gesagt, ich hätte es getan, um mich über Sie lustig zu machen, und ich müßte Sie kniefällig um Verzeihung bitten, sonst wollten sie mich nicht mehr unter sich dulden. Sie haben ja auch recht: ich war ungezogen. Ich darf mir so etwas nicht herausnehmen . . . es war recht dumm von mir!«
Er weinte. Gavina bückte sich, faßte ihn bei der Hand und nötigte ihn, aufzustehen.
»Aber wenn ich doch gar nichts gemerkt habe! Und nun haben sie dich so gequält. Das ist dumm von ihnen . . . nur darfst du ihnen das nicht sagen! Und nun höre auf zu weinen, ich gebe dir auch etwas zu trinken.«
Er trocknete sich die Augen mit dem Hemdärmel und verdeckte sein Gesicht mit dem Arm.
»Was willst du trinken, Likör oder Wein?«
Er trank beides, etwas verschämt und betrübt, dann immer lustiger, dreister. Seine großen schwarzen Augen schauten ganz kühn in die Gavinas.
»Alle werfen mir meine Lustigkeit vor«, sagte er lachend. »Was soll ich denn anfangen? Soll ich mich aufhängen? Da Gott mich so geschaffen hat, muß ich mich damit zufrieden geben, sonst hieße das ja dem Schöpfer sagen: Du hast übel getan! Aber wir dürfen doch unsern Herrgott nicht bekritteln. Und das Leben ist kurz, wir müssen alle sterben. Wenn ich jetzt nicht lache, kann ich vielleicht lachen, wenn ich tot bin?«
Sie mußte ihm recht geben. Dann fragte er, ob sie nicht einen Impresario kenne, dem sie ihn als lebendiges Naturwunder empfehlen könne: Das war sein Traum. Die Hoffnung, eines Tages vor einem Publikum zu erscheinen, in einem Saale voller Lichter und beim Klange der Musik, machte ihn ganz närrisch: er konnte nicht mehr schlafen in der Nacht, wenn er an eine so glänzende Zukunft dachte!
Gavina versprach, ihn dem Signor Zanche zu empfehlen; und bevor sie ihn verabschiedete, ließ sie ihm durch Paska ein Körbchen Feigen bringen.
Aber in einem Nu wußte die ganze Nachbarschaft wie gut er aufgenommen worden war, und in den nächsten Tagen kamen die übrigen Freunde Zia Itrias, die armen Bauern aus der Nachbarschaft wie die Frauen, die sie umringt hatten, als sie auf der Treppe saß, klopften an ihre Türe und erbaten irgendwelche Gunst: Sie lebte in Rom, folglich war sie groß und mächtig und konnte alles haben, was sie wollte!
Die böse Witwe kniete vor ihr nieder: sie hatte geträumt, der König, in einem roten Gewand und die Krone auf dem Kopf, hätte freundlich zu ihr gesagt: wenn Gavina Sulis für deinen Sohn um Gnade bittet, werde ich sie gewähren.
Francesco hingegen empfing die Kranken. Das Speisezimmer verwandelte sich in ein Wartezimmer. Die Patienten waren ausschließlich arme Landleute, die an den verschiedenen Formen von Bindehautentzündung litten und ein ganz anderes Aussehen zeigten, als die, die Gavina in der Klinik zu Rom gesehen hatte. Sie taten den Mund nur auf, wenn sie gefragt wurden. Die Frauen mit ihren schwarzen Kopfbinden kauerten auf dem Boden, melancholisch und schweigsam wie blinde Sklavinnen; die Männer hingegen, auch die ärmsten, bewahrten eine würdevolle, ja stolze Haltung: manche von ihnen gemahnten an den geblendeten Simson und schienen wie er auf eine große Rachetat zu sinnen.
Paska und Signora Zoseppa sahen diese Invasion nicht gerade sehr freundlich an, und auch Gavina hätte gewünscht, Francesco möchte sich jetzt ausruhen. Aber als wäre er von einer Macht geleitet, stärker als sein Wille, so zog es ihn zu den Kranken hin, und ihr Anblick versetzte ihn gleichsam in einen Rausch, der bisweilen in fast grausamer Weise zutage trat. Er bemächtigte sich des Leidenden gleich einer Beute: er packte ihn, untersuchte und fragte ihn aus, wie wenn die Erkenntnis des Übels und das entsprechende Heilmittel von jenem selbst abhinge. Außerhalb jenes Sprechzimmers aber sprach er nicht mehr von Kranken und Krankheit, wie einer, der eine tiefe Leidenschaft hegt und niemanden daran teilnehmen lassen mag.
II
Zia Itria saß in ihrem feuchtwarmen Höfchen und legte mit ihren schmutzigen, nach Wein riechenden Karten eine Patience, als sie Gavina eintreten sah, elegant, weiß gekleidet, schön frisiert, und das Kleid über den hellen Schuhen mit der Hand schürzend. Das düstere Höfchen mit der hohen, mit Gras bewachsenen Mauer schien sich zu erhellen. In ihrem mächtigen hölzernen Lehnstuhl richtete die Alte sich halb auf, doch Gavina legte ihr die Hände auf die Schultern und nötigte sie, sitzen zu bleiben. Alsbald tauchte an der Tür nach der Straße das schlaue Gesicht des Zwergs auf; Gavina nickte ihm zu, und er schlich sich in dem mit Säcken vollgestopften Hausgang näher – doch Zia Itria streckte den dicken Zeigefinger drohend aus, und das Männchen verschwand.
»Der Teufel soll sie holen! Sie lassen mich nicht einen Augenblick in Ruhe! Setze dich, mein schönes Kind. Ich hoffe, du wirst dir dein feines Kleid nicht beschmutzen: hast dich gar zu schön gemacht für mich. Und nun erzähle mir alles von Rom!«
»Was soll ich dir erzählen, Zia Itria! Wir leben ganz still, kennen wenige Leute, und es passiert nichts Besonderes.«
»Dann ist’s ja unnütz dort zu leben!« sagte die Alte, die Karten zusammenlegend. »Aber ist es möglich, daß du mir gar nichts zu erzählen hast? Hier kannst du frei reden. Also heraus mit der Sprache!«
»Wie neugierig Ihr seid! Nun gut, ich will Euch etwas erzählen, aber unter einer Bedingung: daß auch Ihr mir alles erzählt, was in diesen achtzehn Monaten hier vorgefallen ist.«
»Schöne Geschichten, wahrhaftig! Ich will dir nur eine erzählen. Dein Onkel, der Kanonikus, mein Bruder, wollte in den letzten Fasten bei verschlossenen Türen Predigten für Männer allein abhalten. Er dachte alle würden als reuige, beschämte Sünder auf die Knie fallen. Und weißt du, was statt dessen geschah? Sie haben ihn ausgepfiffen und gelacht. Ich versichere dich, wenn du den Invaliden diese Predigten vortragen hörst, dann wirst du vor Lachen umkommen.«
»Ich will es lieber nicht hören«, sagte Gavina und bewegte ihren kleinen Fächer, um die Fliegen zu verscheuchen. »Was habt Ihr mir denn sonst zu erzählen? Bei wie vielen Kindern des heiligen Antonius11 habt Ihr Pate gestanden?«
»Hol sie der Teufel, wer kann sie noch zählen? Jeden Augenblick kommt eines zur Welt! Heutzutage sind die legitimen Kinder wahrhaftig seltener.«
Gavina seufzte übermäßig: »Ja, die schickt der Herr nicht mehr!« sagte sie und verdeckte ihr Gesicht mit dem Fächer.
Die Alte dachte daran, wie bigott ihre Nichte als Mädchen gewesen war, und wußte nicht, ob sie im Scherz oder im Ernst sprach.
»Ich habe beinahe die Absicht, ein Antoniuskind anzunehmen«, fuhr Gavina fort. »Nicht wahr, Ihr lacht mich nicht aus? Was tut eine Frau auf der Welt ohne Kinder. Wir haben nicht alle, gleich Euch, den Mut zu leben um an den Unglücklichen Gutes zutun. Und dann? Dann werden wir selbst unglücklich.«
»Mir scheint aber, daß du es keineswegs bist!«
»Wer weiß, Zia Itria! Ich langweile mich. Auch das Wohlergehen ist manchmal ein Unglück. Ich habe nichts zu tun! Wie soll ich die Zeit hinbringen? Das ist die Frage! Oft habe ich an Euch gedacht. Ich sagte mir: Zia Itria, die keine Kinder hat, hat die Frage gelöst; sie ist die Mutter so vieler Waisen, so vieler Unglücklichen geworden . . .«
»Hol’s der Teufel! Und wo sind diese meine Kinder? Wer sind sie?«
»Aber . . . alle Eure Freunde, alle, die zu Euch kommen, Euch um Rat zu fragen, wie sie zu einer Mutter kommen würden . . .«
Das behäbige Gesicht auf die Brust gesenkt, sah Zia Itria aus ihren kleinen Augen von unten auf ihre Nichte; dann und wann jedoch senkte sie die kurzen geröteten Lider, und dann nahm ihr Gesicht einen harten Ausdruck an.
»Du bist hierhergekommen, um dich über mich lustig zu machen!« sagte sie schließlich. »Ta, ra, ta, ta! Erzähle mir lieber etwas von Rom.«
Gavina beteuerte, daran habe sie nicht gedacht, und ihr Ton klang aufrichtig, beinahe gerührt. Aber die Alte mißtraute ihr und war im übrigen so überzeugt, sie tue nichts Außergewöhnliches, indem sie mit den Armen und Schlimmen verkehrte und ihnen half, daß es ihr als Spott erschien, wenn man sie rühmte. Sie hatte keinerlei Absicht bei ihrem Tun; sie hoffte weder die Missetäter zu erlösen, noch den Armen mehr als für den Augenblick aufzuhelfen: sie stand ihnen bei wie Kranken und dachte an nichts weiter. Aber Gavina sagen zu hören, das alles sei schön und ermunternd, kränkte sie mehr als wenn ihre Schwägerin und ihr Bruder sagten, sie versammle die Schurken um sich, weil sie sich fürchte oder an ihrer Gesellschaft Gefallen finde.
»Ta, ra, ta, ta!« trällerte sie noch einmal. Sprechen wir von anderem! Dieses Kind also möchtest du haben, gleichviel woher! Du möchtest es machen wie die armen Weiber, die, wenn sie Lust auf Feigen haben, sie sich einfach aus anderer Leute Eigentum nehmen. Nimm dich aber in acht, daß du dich nicht stichst! Fizos, Fastizos!«12
Gavina bewegte ihren Fächer und blickte dann und wann nach der Haustür hin, in deren heller Öffnung das Gesicht des Zwerges immer wieder erschien.
Und die Alte fuhr fort: »Auch dein Bruder wollte vor einiger Zeit ein Kind adoptieren. Man sieht, daß Ihr Euch gern Ärger aufladet! Weißt du von Lucas Geschichte?«
»Ja, ich weiß, ich weiß!«
»Und was denkst du davon?«
»Aber was soll ich davon denken? Mir wäre es ganz recht, wenn Luca Michela heiratete.«
»Hol’s der Teufel! Sagst du das im Ernst? Mir scheint, du bist ein arger Schelm geworden!«
»Sonst wäre ich ja nicht Eure Nichte! Aber nun antwortet Ihr auch im Ernst! Wenn Luca und Michela einander heirateten! was wäre Schlimmes dabei?«
»Nichts!«
»Also!« Gavina machte eine Bewegung als wollte sie sagen: »Und warum soll ich nicht denken wie Ihr?« Dann fragte sie: »Wie ist das kleine Mädchen? Man hat mir gesagt, es wäre häßlich.«
»Ich kann mir schon denken, wer dir das gesagt hat! Die alte Hexe. Zippulè, komm einmal her! (Zippuledda, der Zwerg war mit einem Satz im Hof.) Sage mir eines: wie ist Michelas Kind, schön oder häßlich?«
Er sah Gavina an, wie um zu erraten, was sie zu hören wünschte. »Es ist so so«, sagte er endlich. »Es ist schön, es ist häßlich, je nachdem man es ansieht.«
»Der Teufel soll dich holen, du Einfaltspinsel! Ist es schön oder häßlich?«
Er antwortete wiederum ausweichend. »Ich könnte es ja einmal holen, dann könnt Ihr selbst urteilen.«
»Willst du es sehen, Gavina?«
Sie errötete, fächelte sich lebhafter und erwiderte: »Jawohl, hole es nur! Brauchst aber Michela nicht zu sagen, daß ich hier bin.«
Während Zia Itria noch über Paska schalt, kam er schon wieder, das Kind auf dem Arm; es lachte, aber es sträubte sich gegen den kleinen Mann, trat ihn mit den schmutzigen braunen Füßchen und warf das Köpfchen mit den krausen roten Haaren hintenüber. Unwillkürlich pochte Gavina das Herz, gleichsam als hätte sie Furcht vor dem kleinen Wesen, das noch ein lebendiger Teil von ihm war. Der Zwerg setzte die Kleine neben Zia Itria nieder und hob ihr blasses, zartes Gesichtchen in die Höhe: ihre großen grünlichen Augen blickten munter, ja schelmisch.
»Es ist schön«, sagte Gavina; »es gleicht seiner Mutter.«
Aber unter dem Blick einer Fremden verdunkelte sich das Gesichtchen und die Augen wurden trübe. Gavina erkannte die Augen des Toten wieder.
»Willst du einmal zu mir kommen?« fragte sie ihm den Fächer hinhaltend.
Doch trotz dieser Versuchung wich das Kind zurück, machte einen kleinen Fluchtversuch und fiel hin; das Höfchen widerhallte von seinem Geschrei, der Zwerg hob es auf und trat mit dem Fuß gegen den Boden, um ihn zu bestrafen, weil er dem Köpfchen wehe getan.
»Ach Gott, das arme Kind! Wenn es sich nur keinen Schaden getan hat!« sagte Gavina ganz erschrocken.
»Aber es ist ja nichts! Und du möchtest Kinder haben und erschreckst dich so, wenn sie einmal fallen?« sagte Zia Itria, nahm die Kleine auf den Schoß und redete ihr zu. »Sei nun still und sieh mich einmal an und auch die Signora, sie gibt dir auch den Fächer. Du willst ihn nicht? Dann gibt sie dir ein Stück Zucker, das wird dich wohl trösten.«
Der Zwerg, der das Haus kannte, sprang hin und holte den Zucker. Aber wie Gavina sich auch um das Kind bemühte und ihm den Zucker vor das Mündchen hielt: es hörte wohl endlich auf zu weinen, aber es wurde nicht wieder vergnügt. Endlich entschloß es sich den Zucker zu nehmen, und während Gavina mit der Alten sprach und sich nicht mehr um das Kind zu bekümmern schien, griff es begierig nach dem Fächer.
Als der Zwerg es wieder fortbringen sollte, klammerte es sich an die Alte, und er mußte ihm versprechen, er brächte es zu »Onkel Luca«, damit es nicht wieder anfing zu weinen.
»Gib der Signora einen Kuß!« sagte er. »Sie schenkt dir auch etwas Schönes!«
Aber das Kind bückte sich und Gavina küßte es auf die Haare, die einen wilden, doch nicht unangenehmen Duft ausströmten; und sie wußte nicht, weshalb: sie mußte an den Weinberg denken, an den herbstlich bunten Buschwald auf der Heide, an den gezähmten Damhirsch und an den Gesang der kleinen Hirten.
* * *
Wie an einem weit zurückliegenden Tage hielt eines Morgens der aus der Kathedrale zurückkehrende Kanonikus Sulis vor dem Fenster an, rief Gavina und kündigte ihr den Besuch der Domherren Felix und Bellia an. »Eigentlich . . . eigentlich hättest du zu ihnen gehen müssen!«
»Warum? Eine Dame braucht nicht den ersten Besuch zu machen.«
Rot vor Zorn fuhr er mit dem Arm durch das Fenstergitter hindurch, vielleicht in der Absicht, sie bei den Haaren zu fassen; doch sie hatte sich rechtzeitig zurückgezogen und er schrie: »Aber wo hast du diesen Hochmut gelernt? Wo?«
»Aus dem Galateo!13 Ihr wißt, ein Bischof hat ihn geschrieben! Habt Ihr ihn nie gelesen?«
Er schäumte vor Wut, stampfte mit den Füßen und ging fort; doch nach wenigen Schritten kehrte er um, trat wieder vor sie hin und sagte in leisem, drohendem Tone: »Wäre es nicht aus Rücksicht für deine Mutter, dann würde ich ihnen raten, nicht hierher zu kommen; und gib Acht auf das, was du in ihrer Gegenwart redest! Sie kennen deine Gottlosigkeit, deine Unverschämtheit bereits, und . . . nicht alle sind so nachsichtig wie ich!«
»Warum kommen sie dann?« rief sie, und ein Zornesblitz flammte in ihren Augen.
Lange schon hatte sie verziehen; doch der Gedanke, ihren ehemaligen Beichtvater wieder vor sich zu sehen, regte sie auf. Und während sie sich mit Sorgfalt ankleidete, um die beiden Domherren zu empfangen, die sie seit ihrer Ankunft noch nicht wiedergesehen hatte, traten Worte des Hasses und des Vorwurfs auf ihre Lippen. Sie stellte sie sich sehr gealtert vor und vielleicht auch ihrerseits von Gewissensbissen heimgesucht. Der Kanonikus Felix würde leise und zitternd und in feierlichem Ton von dem unglücklichen Verstorbenen reden, der Kanonikus Bellia würde die bläulichen Lider noch tiefer senken, wie um den Schatten seines Opfers nicht zu sehen. And dazwischen betrachtete sie sich im Spiegel und freute sich, daß sie ganz anders aussah als die schmächtige Büßerin, die der Kanonikus Bellia so oft terrorisiert hatte.
»Ich will ihm ins Gesicht lachen«, sagte sie bei sich und steckte sich eine Sammetschleife ins Haar. »Mit den Augen will ich ihm sagen: wenn du ihn auch getötet hast, mich nicht . . . o nein, mich nicht!«
Als sie aber hinunterkam und von der Schwelle des Besuchzimmers aus die drei schwarzen Gestalten erblickte, empfand sie ein Gefühl von Kälte; und ohne daß sie selbst es merkte, nahm ihr Gesicht wieder den alten, harten und strengen Ausdruck an: sie trat ein und wagte ihren ehemaligen Beichtiger nicht anzusehen. And er seinerseits schien sie gar nicht zu bemerken, während der Kanonikus Felix hingegen sie lange prüfend betrachtete und Zeichen des Staunens, ja der Bewunderung machte.
»Aber wenn ich Sie auf der Straße gesehen hätte, so hätte ich Sie nicht wieder erkannt! Eine Matrone, eine wirkliche Matrone!« sagte er, während er sich wieder hinsetzte und seine Soutane zwischen die Beine nahm. Und sein Heiligengesicht nahm wieder den gewohnten sanften und milden Ausdruck an.
Sie ging und setzte sich in die Sophaecke neben ihre Mutter.
»Und Francesco?« fragte der Kanonikus Sulis trocken.
»Er ist nicht zu Hause, er ist in den Weinberg gegangen.«
»Aber wußte er nicht, daß Besuch kommen würde?«
»Nein, das wußte er nicht. Er ist schon in der Frühe mit Luca fortgegangen.«
Er war wütend. Voller Zorn blickte er um sich, bereit aufzufahren, wenn Gavina sich erlauben sollte nur die Stimme zu erheben.
Auch der Kanonikus Bellia schaute sich einmal verstohlen um. In jenem Grab der Lebendigen war alles verändert; selbst die vom Duft eines auf der Konsole stehenden Blumenstraußes erfüllte Luft war wie vom Hauche eines neuen Lebens erfrischt. Die Bücher in ihrem gläsernen Hause schienen erwacht zu sein und sich aufgerichtet zu haben. Und die Venus, die Gavina von ihrem blauen Mäntelchen befreit hatte, stand in ihrer ursprünglichen Nacktheit rein und fleckenlos auf der weißen Marmorplatte, wie auf einem schneeigen Hügel.
Dumpfe Entrüstung bebte in dem Kanonikus Sulis: Gavina bemerkte es und schmiegte sich noch tiefer in die Sophaecke, als fürchtete sie, er könnte sie bei den Haaren fassen.
Freundlich wandte der Kanonikus Felix sich zu ihr und fragte: »Vor Porta Pia sind jetzt wohl Neubauten entstanden?«
»Eine ganze neue Stadt! And eine zweite ist noch im Entstehen, weiterhin nach S. Agnese zu.«
»Bis nach S. Agnese hin!« sagte er erstaunt. Dann schien er sich zu erinnern: »Ja, ja, ich habe davon gehört . . . gelesen . . . Gut! gut!«
Er war im Jahre 1869 in Rom gewesen; an jene Zeit anknüpfend, und als wäre Gavina die erste aus Rom kommende Person, die er seit jener Reise sehe, fing er an nach Dingen zu fragen, die er dort gesehen hatte.
Sie aber hatte sie nicht gesehen: die waren alle verschwunden! Doch er äußerte kein Zeichen des Bedauerns, sondern bestätigte gelassen: »Ja auch Städte machen ihre Wandlungen durch, die Welt verändert sich.«
»Zum Schlechten!« rief der Kanonikus Sulis.
»O, nein, zum Guten!« sagte Gavina. Doch alsbald bereute sie es. Ihr Onkel ward blau im Gesicht. Der Kanonikus Bellia schlug die Augen auf, senkte sie aber sofort wieder.
»Zum Schlechten wiederhole ich Euch!« schrie der Kanonikus Sulis wütend. »Versucht es doch nur, mich zu widerlegen! Wo ist das Gute? Ihr nehmt eine Zeitung zur Hand, und es ist als blicktet Ihr in ein Zuchthaus hinein. Ihr findet nichts als Geschichten von Diebstahl, Mord, Ehebruch, Schweinereien aller Art. Die Welt wird nachgerade zu einem Schweinestall! Ja, ich sage es noch einmal, zu einem Schweinestall!«
»Die Sache ist die«, bemerkte der Kanonikus Felix mit leisem Spott, »daß es in früheren Zeiten keine Zeitungen gab.«
Doch der andere fuhr wütend fort: »Weder Zeitungen, noch Eisenbahnen, noch Kinematographen! Und ich sage Euch, das waren bessere Zeiten! Das sage ich und das sage ich nochmals.«
Um ihn zu begütigen, sagte Gavina, sie hätte aber auch die Leidensgeschichte Christi von einem Kinematographen dargestellt gesehen. Da meinte er zu ersticken, stand auf und ging im Zimmer umher; und da er wieder dem Sofa nahekam, faßte sie nach ihrem Kopf und sagte wie ein Kind: »Ach laßt nur meine Haare in Ruhe, bitte . . . bitte!« Darüber mußte er lachen, und sein Zorn verflog.
Als sie später am Fenster lehnte, Francescos Heimkehr erwartend, dachte sie über den Besuch der Domherren nach und fühlte, wie auch ihr Zorn, gleich dem des Onkels, schwand.
Der Name des Toten war nicht genannt worden, wie wenn die Domherren ihn vollständig vergessen hätten. Er war durch ihr Leben gegangen, wie ein Wolkenschatten über eine Wiese hinzieht. Die friedsamen und mannigfaltigen Erinnerungen des Kanonikus Felix verweilten nicht bei jenem Schatten, und an dem Kanonikus Bellia schien er in einem jener Momente vorübergeglitten zu sein, da er die Lider gesenkt hielt!
Was aber Gavina mehr noch wunderte, war, daß auch sie selbst sich der Vergangenheit immer ferner fühlte.
Auf einmal tönte durch die grünliche Abenddämmerung ein Geräusch, wie wenn ein Platzregen niederginge: die Straße herauf kam ein Trupp Reiter, hielt einen Augenblick vor dem Tor mit den Adlern und ritt dann weiter. Es waren die Jäger, die von der ersten Jagdpartie heimkehrten. Vor dem Tor blieb die im Zwielicht hell wie eine Statue erscheinende Gestalt Elias zurück. Immer noch stolz aufgerichtet, sah er mit seinem Helm und dem weißen Anzug auf dem milchweißen Pferde wie ein steinerner Ritter aus.
Gavina betrachtete ihn und verspürte eine leise Erregung: ein Widerhall weit zurück liegender Erinnerungen ertönte in ihr wie der Trab der Pferde auf der einsamen Straße. Jener Mann, der gelebt und genossen hatte, der noch aufrecht unter ihren Fenstern vorüberritt wie auf der Jagd nach Vergnügen und Abenteuern begriffen, erregte ihr noch immer ein Gefühl von Bewunderung und von Groll. Doch wenn sie ihn einst gehaßt hatte, weil er sich amüsierte – heute beneidete sie ihn aus dem selben Grunde.
In den folgenden Tagen ging Francesco in sein Heimatdorf in den Bergen, und Signora Zoseppa begab sich in den Weinberg. Luca ging und kam, blieb meist den ganzen Tag fort und kam erst abends nach Hause: er mied Gavinas Gesellschaft. Für einige Tage nahm sie ihr früheres Leben wieder auf: sie saß am Fenster oder ging durch die großen, öden Zimmer, über denen schon das trübselige Licht des beginnenden Herbstes lag.
Am Nachmittag verbrachte sie lange Stunden an ihrem Gartenfenster: wie neu belebt von dem weichen Südwest erschauerten und flüsterten die Bäume und Büsche im Garten; wenn die Steineiche sich im Winde ganz nach der Seite bog, dann spielten so helle Lichter darauf, als wären ihre Blätter aus Silber. An den fernsten Hängen der blauen Berge schwebten rötlich-graue Rauchwolken, die aus den Bergen selbst aufzusteigen schienen. Das waren die Feuer auf dem Rodeland, und ihren heißen, würzigen Hauch trug der Wind bis hierher. Weiter oben, an den schneeweißen Kalkbergen, lagerten große blaue Schatten, und über dem höchsten Gipfel hing ein Wölkchen wie ein goldener Kelch. Nur das Rauschen der Bäume unterbrach die Nachmittagsstille und das eintönige, mechanische Klopfen der Steinschläger, die jenseit des Gartens arbeiteten. Dann sank die Sonne, und die ganze Landschaft kleidete sich in rötliches Violett; der Wind verstummte, der Mond kam zwischen zwei Felsspitzen zum Vorschein, und allmählich leuchteten die Sterne an dem grünlich-blauen Himmel auf. Nun war auch die Glut der fernen Heidefeuer zu sehen: es war als schlügen Flammen aus den Flanken der Berge; und der feurige Schein drang bis zu den Kalkgipfeln hinauf, die in dunkelm Rot erglühten. Das Rundbild hatte etwas Theatralisches an sich, und Gavina gewahrte von ihrem Fenster aus Einzelheiten, die ihr früher entgangen waren. Hinter den Hütten der armen Nachbarschaft, auf dem blauen Hintergrund der fernen Berge, sah sie einen steil aus dem Tal aufragenden Felsen und einen phantastischen Baum, der sich an ihn anklammerte wie ein Träumer, der den Stimmen der nächtlichen Landschaft lausche. Sie hörte das Rauschen des Stromes, und auf diesem einförmigen Unterton klang das Pochen des Steinschlägers, der noch bei Mondschein arbeitete, wie die eigene Klage der geborstenen Felsen.
Dann empfand sie ein Gefühl des Mitleids für die Dinge selbst: es war ihr als müßten die geborstenen Felsen leiden wie die vom Schmerze zerschlagenen Menschen. Die Steineiche war melancholisch, weil sie alterte; die Bäume erschauerten, weil der Herbst nahte. Die Dinge, die ihr bei ihrer Wiederkehr gering, ja armselig vorgekommen waren, würden in ihren Augen größer, gleich Menschen, die auf einer geraden Straße allmählich näherkommen. Und alles wiederholte ihr die selben Worte: »Das Leben ist kurz, wir altern, leiden, sterben!«
Dann überkam sie eine unendliche Verzagtheit, und sie schloß sich selbst in das Mitleid für die Dinge ringsum ein. Sie meinte, zwar nicht gerade am Leben zu hängen – und dennoch fürchtete sie sich vor dem Altern, vor dem Sterben.
Eines Abends ging sie mit Paska zum Brunnen hinunter. Als sie an Michelas Tor vorbeikamen, sahen sie Luca an der Seite des Bauern im Torweg sitzen. Obwohl Paska sie am Kleide zog, hielt Gavina an und sagte laut, damit auch Michela es höre: »Wie geht es Euch, Zio Bustià? Kennt Ihr mich noch?«
Der Mann stand auf und gab ihr die Hand, nachdem er sie an seiner leinenen Hose abgewischt hatte. Er war gar nicht gealtert: ruhig und feierlich, mit seinem blanken Schädel und dem sorgsam gepflegten Bart, sah er nicht wie ein von Unglück und Unehre betroffener Greis aus, sondern wie ein mit sich zufriedener und auf seine Nachkommenschaft stolzer Patriarch.
»Ob ich dich noch kenne?« sagte er mit seinem ernsten und ironischen Ton. »Eher könntest du – entschuldige, wenn ich noch du sage, aber ich habe dich ja zur Welt kommen sehen – eher könntest du uns nicht mehr kennen! Obgleich . . . o, sag’ mir eines: wie lebt es sich in Rom?«
»Wem es gut geht, dem geht es gut; und wem es schlecht geht, dem geht es schlecht . . .«
Der Bauer klatschte in die Hände: seine wie Perlen so klaren Augen glänzten im Mondlicht.
»Ich denke gerade so!« sagte er. »Die Menschen haben die Städte gebaut in der Hoffnung, dort besser zu leben als auf dem Lande. Aber wenn Gott spricht: Ich habe meine besonderen Gründe dafür, daß dieser Mensch unglücklich sein soll, nun, weißt du, Gavinedda, was ich dir sage? Dann wird jener Mensch unglücklich sein, auch wenn er in einem goldenen Palast lebt. Habe ich recht?«
»Ihr sprecht wie ein Prediger!«
Glücklich über dieses Kompliment, fuhr der Bauer fort: »Ich redete gerade mit unserem Luca darüber. Ich sagte ihm, daß es für die Menschen nur ein Mittel gibt, glücklich zu sein: sich begnügen. Er hat wenig? So soll er sich mit wenigem begnügen. Er hat viel? Desgleichen. Denn wir sehen es ganz genau: je mehr der Mensch hat, um so weniger ist er zufrieden. Vielleicht, vielleicht«, fuhr er fort und legte den Zeigefinger der Rechten an die Nase, »vielleicht ist der Mensch, der wenig hat, genügsamer als der, der viel hat . . . Aber du stehst da draußen? Komm herein! Michela ist oben, weil das Kind krank ist, aber einen Stuhl kann ich dir auch anbieten . . .«