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Kitabı oku: «Bis an die Grenze», sayfa 8

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Dann machte sie sich natürlich wieder Gewissensbisse. Am nicht Gott anzuklagen, klagte sie sich selbst an und maß sich die Schuld daran bei, daß Priamo auf Abwege geraten war. Sie rief sich die Erinnerungen zurück, die sie zuvor von sich gewiesen hatte, und es war ihr, als sähe sie wieder den kleinen Damhirsch die Eiche umspringen, als hörte sie wieder das Pfeifen des alten Hüters.

Am Vorabend ihrer Rückkehr in die Stadt wanderte sie durch den seines Schmuckes entblößten Weinberg, und während sie Francesco erwartete, dachte sie an den andern. Es war ihr, als sei alles noch wie damals: Auf den umliegenden Wiesen weideten die gelblichen Schafe, und der Hirt sang sein einförmiges, sehnsuchtschweres Liebeslied. Am Horizont stiegen kleine Wolken auf als Boten des Winters; es war als wäre die warme Jahreszeit mit den goldenen Trauben zugleich verschwunden, und die Sonne verblasse, jetzt, da die Reben ihrer Glut nicht mehr bedurften. Die Erde hüllte sich in Schwermut, und als Francesco kam, war es als ob sein lauter Gruß, sein fröhliches Lachen in die Stille ringsum einen Mißklang hineintrügen.

»Heute ist Mondschein«, sagte er, bevor er wieder ging; »ich komme heute abend noch einmal . . . erwarte mich hier unter der Eiche. Es ist das letztemal, daß wir so beisammen sein werden und soll uns eine süße und poetische Erinnerung bleiben.«

Sie errötete und ging auf seinen Vorschlag nicht ein, ja, sie schien verletzt, daß er dabei beharrte. Und doch: als der Abend kam, ging sie und setzte sich auf den Lieblingsplatz. Die Nacht war lind, geheimnisvoll und melancholisch; über den fernsten, silberhellen Bergzügen stiegen in Scharen weiße Wölkchen auf gleich Schafen, von einem Hirten getrieben, dem die Weiden auf den Bergen zu niedrig erschienen für seine Serbe und seine Wünsche . . . Und sie, die, wie Francesco gemeint, eine poetische Erinnerung an diese Stunde hätte bewahren können – eine jener Erinnerungen, die wir wie köstliche Juwelen hüten, die uns lieb sind in den Tagen des Glücks und hilfreich in den Tagen der Not – sie saß und weinte.

* * *

Die Hochzeit war auf die erste Hälfte des Januar festgesetzt.

Am Dreikönigstage kam Francescos Mutter.

»Du kommst ja heran wie die Weisen aus dem Morgenland«, sagte Paska.

Wirklich sah die kleine Frau, die rittlings auf einer mit Säcken beladenen Eselin saß, wie eine der Gestalten bei der Krippe des Heilands aus.

Gavina, die in früheren Tagen die arme Witwe so gering geachtet hatte, war ihr beim Absteigen behilflich, küßte sie und brachte ihr Kaffee. Die vor Staunen fast verwirrte Frau kränkte sich nicht weiter über Paskas spöttische Rede; sie schien es noch gar nicht zu begreifen, daß Leute wie die Sulis sie als ihresgleichen behandelten.

Am Nachmittag zeigte Gavina ihr ihre neuen? Kleider und ihre bescheidene Aussteuer. Dann sagte sie: »Ihr werdet doch auch mitunter zu uns nach Rom kommen?«

»Ich würde eine schöne Figur machen neben euch beiden«, erwiderte die andere erschrocken. »Alte würden sich nach uns umsehen und sagen: aber was für eine Schwiegermutter hat Gavina Sulis! Nein, nein!«

Gavina fing an zu lachen; sie schien ganz vergnügt. Doch als sie wieder allein war, machte sie sich daran, ihre Vorbereitungen für die Reise zu treffen, die in ihrem Leben gleichsam eine Scheidelinie bezeichnen sollte, und hin und wieder fiel eine Träne in die Kiste mit Weißzeug wie in einen Sarg. Es war ihr, als begrübe sie darin ihre Vergangenheit . . . Als dann die Kiste fertig gepackt war, richtete Gavina sich auf und nahm wieder ihren gewohnten stolzen Ausdruck an. Aus der Tiefe eines Schubfaches holte sie die mit »P« unterzeichneten Briefe und Postkarten hervor, tat sie in ihre Schürze und ging in die Küche hinunter, wo jetzt niemand war. Sie kniete vor den Kamm hin und warf das Paket in die Glut. Addio! Alles war ja nun zu Ende, es blieb nichts zurück als die Erinnerung, und diese schwand jetzt zu ein wenig grauer Asche dahin. Unbeweglich, die Augen starr auf die Papiere geheftet, die die bläuliche Flamme verzehrte, war es ihr, als vernähme sie zum letztenmal einen von dem Knarren der Kaffeemühle begleiteten eintönigen Gesang . . .

Die sanfte Stimme der kleinen Witwe weckte sie aus ihrer Träumerei. »Es ist schon spät, mein Herz, willst du dich nicht ankleiden?«

Francesco sollte um fünf ankommen. Gavina ging wieder in ihr Zimmer hinauf und zog ein Kleid aus violettem Tuch an, das erste elegante Kleid, das sie trug. In dem kalten und klaren Dämmerlicht, das noch über dem Zimmer lag, betrachtete sie sich im Spiegel, und es war ihr, als wäre sie eine andere: fast glücklich über diese erste Veränderung lief sie eilends die Treppe hinab. Als sie aber den Hausflur betrat, hielt sie betroffen an.

Laut ertönten die Schläge der eisernen Kand. Es war die Stunde des Postboten. Gavina erwartete nichts. Als sie jedoch öffnete und der Postbote ihr einen eingeschriebenen Brief reichte, zuckte sie nicht mit der Wimper, aber sie erstarrte vor Schrecken. Sie trat in das Besuchzimmer um den Empfang zu bescheinigen, blickte auf den Brief, und etwas Wildes blitzte in ihren Augen auf. Der dicke Brief war sicherlich kein bloßer Glückwunsch: das war die ganze Vergangenheit, die sie abgetan wähnte, die Vergangenheit, die wie eine unvermutete Flamme aus der Asche aufzuckte.

In ihr regte sich etwas von der verzweifelten Grausamkeit des Mörders, der mit seinem sich wehrenden Opfer ein Ende machen will: sie schrieb zwei Worte auf den geschlossenen Brief und steckte ihn in einen andern Umschlag. Und ihre Hand zitterte nicht, als sie ein letztesmal den Namen Priamos schrieb.

Am Bahnhof gelang es ihr, während Luca und der Kanonikus Sulis mit Francescos Mutter plauderten, den Brief unbemerkt in den Briefkasten zu werfen; und erst nachdem sie sich von dieser schweren Bürde befreit hatte, schien eine stetig wachsende Unruhe über sie zu kommen, die die andern gern übersahen, weil sie sie der so natürlichen Erregung des Augenblicks zuschrieben.

Nach dem Essen, zu dem einige Verwandte geladen worden waren, gingen die Verlobten in die Küche und setzten sich an das Feuer. Paska ließ sie allein. Francesco beugte sich sogleich über Gavina, um sie zu küssen, wie er es bis jetzt noch nicht hatte tun können, und sie fragte sich: »Soll ich ihm von dem Briefe sprechen?«

Aber trotz der Ermüdung durch die Reise war er so froh, so glücklich: warum sollte sie gerade diesen Augenblick, den ersten, in dem sie allein waren, dazu benutzen, seine Freude zu trüben?« . . .

Morgen, morgen vielleicht! dachte sie und fing an zu erzählen: »Bis vor wenigen Tagen wußte niemand von unserer Heirat. Da wir wegen des Aufgebots mit deinem alten Vertreter zum Standesamt gingen, glaubten die Leute, ich wollte ihn heiraten. Du kannst dir denken, was das für ein Geschwätz und Gelächter gab!«

»Ich freue mich, daß das Wetter so schön ist«, sagte Francesco, der auf ihre Worte nicht recht geachtet hatte. »Wir werden eine gute Überfahrt haben. In Rom war es gestern wirklich wie im Mai. Du sollst sehen, wie schön es dort ist! Dem Hause gegenüber, wo wir wohnen werden, ist eine Villa mit einem Garten, in dem schon die Rosen blühen.«

»Rosen?« fragte sie verwundert.

Und während er ihr nochmals die hübsche kleine Wohnung in Via Piemonte beschrieb, die er mitsamt der eleganten Einrichtung von einer Französin übernommen hatte, sagte Gavina leise: »Deine Mutter sagte, auf den Bergen hätte es gestern geschneit . . . wie öde muß es jetzt in den Dörfern da oben sein!«

Und nach einer Weile, vielleicht dem selben Gedankengange folgend, fragte sie: »Du . . . wirst du denn auch morgen zur Beichte gehen? Du hast mir’s doch versprochen.«

»Aber freilich! Ich habe es deinem Onkel schon gesagt. Ich will ihm sogar recht greuliche Dinge berichten, um ihn zu erschrecken.«

»Darüber mußt du nicht scherzen!« sagte sie und stand auf, um in den Garten zu gehen.

Die Nacht war so klar, daß die Schatten der Felsen an den Berghängen sichtbar waren. Das Rauschen des Flusses drang bis hier herauf, und in dem kahlen Garten warf nur die Steineiche mit ihrem immergrünen Laub einen runden Schatten. Gavina lehnte sich an das Mäuerchen, betrachtete den Mond, betrachtete die fernen Berge, die sich marmorweiß von dem tiefblauen Himmel abhoben und brach in Tränen aus.

Erst da schien Francesco ihre tiefe Erregung zu gewahren; aber er dachte sich, sie nähme nun Abschied von den poetischen Abenden ihrer Kindheit, und der Gedanke rührte auch ihn.

»Komm, weine nicht!« bat er und zog sie an sich.

Sie weinte nur noch stärker und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. »Jetzt, jetzt muß ich ihm alles sagen!« dachte sie.

»Komm, höre auf zu weinen, du Liebe!« sagte er und führte sie in das Haus zurück. Und sie hatte nicht den Mut, ihn noch trauriger zu stimmen.

Am folgenden Morgen teilte der Kanonikus Sulis Francesco mit, er wolle und könne ihm die Beichte nicht abnehmen. Francesco habe ihm schöne Geschichten angekündigt, aber er wolle von nichts wissen, weder von schönen noch von häßlichen Geschichten, sondern sich die Hoffnung bewahren, daß er ein ganz vortrefflicher junger Mann sei.

Da führte Gavina den Verlobten zum Kanonikus Bellia: der furchtbare Priester hörte die Beichte des Brautpaares mit der selben tragischen Strenge, mit der er die Beichte der Sterbenden empfing. Für ihn barg ja das Leben keine Freuden, und die Ehe war nur ein Übergang, bisweilen trauriger und schwerer als der Tod.

Gavina sprach ihm von dem Briefe, den sie erhalten und zurückgesandt hatte, nicht weil sie ihr Tun als Sünde ansah, sondern um ihre Unruhe loszuwerden und den Kanonikus gewissermaßen zu mahnen, Priamo im Auge zu behalten. Aber der Beichtiger schien den Ernst der Sache nicht zu erkennen: nochmals spräche sie von einer Sünde, die sie nichts anginge, obwohl er sie schon so oft verwarnt, sich um die Sünden anderer nicht zu kümmern.

Francesco besuchte am Vormittag noch Michela, die nicht mehr ausging, weil ihre Schwangerschaft schon sehr vorgeschritten war. Dann ging er zu Zia Itria, die ihn gebeten hatte, nach dem an Lungenentzündung erkrankten Ex-Frater zu sehen.

Der Zwerg und zwei andere Stammgäste der »Piazzetta« saßen mit Zia Itria um ein glühendes Kohlenbecken. Francesco berichtete, daß der Frater sehr krank sei, und der Zwerg fing an zu weinen.

»Und wenn er nun stirbt, wer wird dann mit mir reisen?« jammerte er.

»Hol’ dich der Teufel!« sagte die Alte, »du weinst also aus Eigennutz und nicht vor Kummer! Ja, so seid ihr alle!«

Dann fragte sie Francesco nach Michelas Ergehen, und ihre Gäste fingen an zu lachen und über den Bauer zu spotten, der, statt seine Tochter aus dem Hause zu jagen, sie anhielt sich gut zu nähren und ruhig zu sein. »Er ist barmherziger als Gott!«

»Und auch als die lieben Nächsten!« gab Zia Itria zurück.

»Er ist ein Philosoph!« sagte Francesco.

»Hol’ euch der Teufel alle miteinander!« schrie die Alte. »Ihr wißt nur die Zunge zu rühren. Ich werde das Kind, das erst noch geboren werden soll, über die Taufe halten, und wenn es ein Mädchen ist, soll es ein schönes Geschenk haben.«

Francesco erzählte Gavina und den in der Küche beschäftigten Frauen von Zia Itrias Rede. Signora Zoseppa runzelte die Brauen und sagte, der Bauer gäbe den Leuten wirklich kein gutes Beispiel. »Er will sich zeigen mit dem Guten, das er tut, und das ist zu arg!«

»Aber Michela bereut doch«, sagte Paska. »Sie hat alle Beziehungen zu Priamo abgebrochen.«

»Ach, daß die Beziehungen aufhörten, dafür hat der Bischof gesorgt«, bemerkte die Köchin. »Wenn Priester Priamo in die Stadt kommt, wird er sofort a divinis suspendiert.«

Nun wollte die kleine Witwe auch das ihre sagen: »Aber wo er jetzt ist, hat er eine gute Präbende. Im Dezember war ich in seinem Dorfe und habe sagen hören, er habe ein schönes Haus und zwei Mägde . . .«

»Keine Sorge! Er wird sich gut amüsieren und Gott in Fröhlichkeit dienen«, sagte die Köchin, die eine gebildete Frau war.

Gavina ging und kam und schien besorgt, weil der Himmel sich trübte.

»Ich fürchte mich vor dem Meer«, sagte sie zu Francesco, der immer um sie herum war und mit falscher Stimme Opernmelodien trällerte, die für die Gelegenheit passend schienen. Obwohl seine Stimme keineswegs wohlklingend war und er nur zum Scherz sang, ward Gavina davon erregt und suchte Gedanken abzuwehren, die sie für unkeusch hielt.

Wie sie gefürchtet, fing es an zu schneien; an dem für die Trauung bestimmten Tage jedoch klärte der Himmel sich auf, und auch die Berge zeigten sich in hochzeitlichem Kleide. Francesco ging in den Garten und machte Schneebälle, mit denen er nach der Steineiche warf, deren Laub sich mit glitzernden Zacken bedeckt hatte. Die unmittelbar bevorstehende Feier schien ihn nicht zu sehr zu beschäftigen.

Man hatte keine Anzeigen ergehen lassen, und Paska, die die wenigen Geschenke in Empfang nahm, die die Verwandten schickten, obwohl sie nicht geladen waren, weinte bei dem Gedanken, daß ihre junge Herrin einen Unterpräfekten heiraten und eine glänzende Hochzeit hätte feiern können und statt dessen in so bescheidener Form einen unbedeutenden kleinen Doktor heiratete.

»Zia Pà, was ist euch?« fragte der Knecht, »habt ihr schlimme Augen? Sie sind so dick, wie zwei unreife Feigen.«

»Das tut die Kälte . . . die Kälte«, erwiderte sie. »Du wirst dir doch nicht einbilden, ich weinte! Ach, ich bin so vergnügt, so vergnügt . . . Aber warum stehst du hier müßig herum? Geh’ wenigstens und fege vor dem Hause den Schnee von der Straße.«

Er gehorchte. Aber Luca, in einem neuen Anzug und mit einer roten Krawatte geschmückt, die Francesco ihm mitgebracht hatte, lief ihm nach und schalt ihn. Im ganzen hatte Luca sich in diesen Tagen verständig und ruhig verhalten: vielleicht freute er sich, weil Gavina nun fortging; dann und wann aber machte er dem Knecht gegenüber seiner Reizbarkeit Luft. Während er noch auf ihn einredete, erschien auf der Piazzetta ein kleiner, alter Mann, der, in einen langen Mantel gehüllt, den er sich mit einem härenen Strick um den Leib gebunden hatte, wie ein Klosterbruder aussah.

»Das ist wahrhaftig Zio Sorighe!« sagte Luca und ging auf den Alten zu. »Wie, ihr seid noch immer am Leben?«

»Mehr als euer Gnaden!« entgegnete der Alte gekränkt.

Ganz vertraut ging er in den Hof des Sulis’schen Hauses, dann in die Küche und fragte Paska: »Wo ist denn die Braut? Könnte man nicht ein Wörtchen mit ihr reden?«

»Und das jetzt? Ja, die denkt auch gerade an euch! Sie zieht sich an, um in die Kirche zu gehen.«

So kehrte er auf die Piazzetta zurück und schloß sich einem Haufen von Neugierigen an, die dort standen um das Brautpaar zu sehen, das auch nicht lange auf sich warten ließ.

Wenige Personen, darunter die Domherren Felix, Sulis und Bellia, bildeten das bescheidene Geleit. Der Kanonikus Felix wendete sein stilles Heiligenangesicht hierhin und dorthin, lächelte und brachte auch die auf der Piazzetta versammelten Neugierigen zum Lachen, weil er sich mit der Hand fächelte, als ob ihm sehr heiß wäre. Der Kanonikus Bellia, düster und furchtbar und mit niedergeschlagenen Augen, sah aus wie ein Gespenst in dem ohnehin nicht sehr heiteren Zuge, unter dessen dunklen Gestalten die der blassen Braut in ihrem weißen Kleide an eine aus dem ringsum schimmernden Schnee geformte Statue gemahnte.

Erst nach der Rückkehr aus der Kirche sah Gavina Zio Sorighe.

Es war noch eine Stunde bis zur Abreise. Während die Gäste im Besuchzimmer plauderten, schlich sie sich hinaus, um dem Garten und den Bergen ein letztes Lebewohl zu sagen.

Zio Sorighe saß in der Küche in einer Ecke, unbeweglich und wie in Erwartung; er war sehr anständig gekleidet, in das schwarze Samtwams der Witwer, und hielt seinen großen Mantel zusammengefaltet auf den Knieen.

»Ja, da oben lebe ich wie ein Papst«, erzählte er Paska und der Köchin und beschrieb ihnen die Kirche, an der er Küster war. »Aber ich bin zu einsam! Wenn mir etwas passiert, werden es nur die Raben bemerken.«

»Sind denn keine Schäfereien in der Nähe? Kommt nie jemand zu euch?«

»Dann und wann kommt ein Geistlicher um die Messe zu lesen, und ein paar einfältige Weiber laufen hinter ihm her, aber er geht gleich wieder. Auch heute morgen, vor Tag, ist ein Priester gekommen; aber er war allein.«

»Bei dem Wetter?«

»O, das ist ein junger Priester, der sich vor dem Schnee nicht fürchtet«, sagte der Alte listig. »Der kann mehr aushalten als ich; ich bin jetzt arg herunter, es geht mir gar nicht gut. Aber vergnügt bin ich immer noch. Mag der Tod nur kommen: das ist ein Besuch, den wir einlassen müssen.«

In diesem Augenblick ging die Braut durch die Küche; der Alte sprang aus, bot ihr die Hand und sprach noch einmal sein altes Ritornell:

 
»Dami sa manu, bellita, bellita . . .«
 

Aber statt des blauseidenen Kleides, das er ihr einst versprochen, brachte er ihr eine kleine, gelblederne, mit anspruchsloser Stickerei verzierte Brieftasche. Sie begriff sofort, daß darin ein Brief Priamos enthalten sein müsse, runzelte die Brauen, aber nahm die Brieftasche.

»Danke!« sagte sie und ging weiter. Durch den schmelzenden Schnee stapfte sie über den Hof, in den Garten, bis zu dem alten Baume. Die Sonne strahlte am tiefblauen Himmel: von dem Laubengange herab tropfte es, die Spitzen der Sträucher kamen feucht und glänzend zum Vorschein, und an dem Küchendach hing eine Kette von Stalaktiten, so schön, als wolle sie mit dem wundersamen Landschaftsbilde wetteifern. Die Steineiche hatte schon den größten Teil ihrer Schneedecke abgeworfen, und alle Dinge ringsum schienen bemüht sich von ihrer weißen Hülle zu befreien, um sich ein letztesmal der zu zeigen, die nun fortging. Sie aber hielt die Gabe fest in der Hand, ahnte die traurige Wahrheit und faßte nichts anderes, Unter der Eiche angelangt, öffnete sie die Brieftasche und fand darin einen kleinen Briefumschlag ohne Adresse, der nur eine Karte zu enthalten schien. Einen Augenblick fühlte sie sich versucht, alles dem Alten wiederzugeben; aber der Gedanke, daß Francesco vielleicht dazukommen könnte, hielt sie davon zurück. Francesco! Sie fühlte, daß sie ihn täuschte, und doch redete sie sich hartnäckig ein, es sei ihre Pflicht, ihr quälendes Geheimnis ganz für sich zu behalten.

»Ich muß ein Ende machen!« dachte sie und öffnete den Umschlag.

Eine Visitenkarte mit dem gedruckten Namen Priamos auf der einen Seite; auf der andern wenige Zeilen von seiner Hand: ».Laß mich in Ruhe’ schriebst Du, als Du meinen verzweifelten Brief zurückschicktest, wie Du auch mich immer blind zurückgewiesen hast. Ja, ich lasse Dich in Ruhe: Du hast Dein Wort nicht gehalten, aber ich halte das meine. Du gehst in das Leben hinaus, ich in den Tod. Aber Du sollst Dir keinen Vorwurf machen: nicht Du bist es, die meinen Tod verschuldet – das sind sie. Ich habe Böses getan, um mich an ihnen zu rächen; und nun gehe ich fort um Dir zu zeigen, daß ich nur deshalb noch lebte, weil ich noch an Dich glaubte. Addio!«

Sie las und las die wenigen Zeilen und kämpfte sich an die Worte »nicht Du bist es, die meinen Tod verschuldet«. Ihre Augen waren starr vor Schrecken, und als sie nach einer Weile die Karte wandte, gab ihr der schwarze Name auf dem weißen Blatt die Vorstellung von Priamos Leiche auf dem Schnee. Da überkam sie eine kindische Furcht, ein instinktiver Trieb zu fliehen, damit man sie nicht der Schuld an dem Geschehnis zeihen könne. Fliehen und schweigen: einen andern klaren Gedanken hatte sie nicht, gleich dem Verbrecher unmittelbar nach begangener Tat.

Dritter Teil

I

Mißtrauisch und wie furchtsam stieg Gavina die feuchte Schiffstreppe hinunter, als hätte sie Angst, sie könnte ins Meer fallen. Ihre Zähne schlugen aufeinander, ihr Gesicht war düster und leichenblaß. Francesco ließ sie nicht aus dem Auge, nahm sie beinahe in die Arme um ihr in das Boot zu helfen und breitete sorgsam eine Decke über ihren Sitz. Seit ihrer Abreise hatte er sich unausgesetzt um Gavina bemüht wie um eine Kranke; sie klagte nicht und war geduldig und fügsam, aber aus ihrem Gesicht sprach tiefe Traurigkeit. Nur der Anblick des Meeres schien sie hin und wieder von ihrem steten Gedanken abzulenken und ein Gefühl der Bewunderung in ihr zu wecken, das indes von einer unbestimmten Furcht nicht frei war. Während das Boot sie vom Dampfer nach dem Lande hinüberführte, beugte sie sich über den Rand und bekreuzte sich mit dem Meerwasser.

»Der Weihkessel ist groß und Wasser ist genug darin«, scherzte Francesco. Doch auch sein Gesicht war grau und wie zusammengeschrumpft durch die böse Nacht auf dem Meere und die heimliche Sorge, die Gavina ihm bereitete.

Allmählich aber schien die frische Luft und die Nähe des Landes sie beide wieder zu beleben. Er knöpfte den Überzieher auf, dessen Kragen er bis jetzt in die Höhe geschlagen hatte, und sie betrachtete den melancholischen alten Turm auf dem Molo, der sich von einem dichten Nebelschleier abhob und unmittelbar aus dem aschgrauen Wasser des Hafens aufzuragen schien. Der Morgen war fast lau, aber ein leichter rosiger Dunst verhüllte den Himmel wie an einem Herbstmorgen. Zwischen den Masten der Schiffe hindurch erschien die ebenfalls in Dunst gehüllte Stadt wie hinter einem kahlen Gehölz; man vernahm verworrenes Geräusch, das Klirren von Eisen, den Schall der Nebelhörner, der wie das Geheul wilder Tiere klang; und während Gavina, inmitten einer phantastischen Schar von Seeleuten, den Fuß auf das Land setzte, ertönte ein furchtbares, laut widerhallendes Dröhnen. Sie erbebte. Die Männer nahmen die Mützen ab, und ein alter Seemann kniete nieder.

»Was ist das?« fragte Francesco.

»Eine Artilleriesalve«, erwiderte einer. »Man überführt die Leiche eines in Afrika gefallenen Offiziers.«

Und Gavina gedachte des andern Toten, der ihr doch keinen Augenblick aus dem Sinn kam. War es nicht, als verfolge sie das Schicksal und begrüße sie durch jene Totensalve beim Betreten des fremden Bodens? Als sage es ihr: ich bin hier und warte auf dich?

»Ist dir kalt?« fragte Francesco, indem er ihr in einen kleinen Wagen hineinhalf. »Du bist müde, nicht wahr? Und dem Mantel ist zu leicht.«

»Wir wollen einen andern kaufen«, erwiderte sie und bemühte sich, ihren Geist von dem quälenden Gedanken loszureißen.

Sie fuhren durch die Stadt, die ihr in dem Nebeldunst ganz schwarz und gelblich erschien; und dann war sie wieder in der Eisenbahn, sah noch einmal das Meer, dann die gewellte Campagna und ferne Berge in sonnengoldenem Duft, die sie an die heimatlichen Berge erinnerten. Ihre Augen irrten von einem Punkte zum andern – aber die an einem weitentlegenen Erdenfleck haftenden Gedanken folgten ihnen nicht.

Francesco, der seinen gewohnten Frohmut wiedergefunden hatte, legte den Arm um sie, trotz der Anwesenheit anderer Reisender, wärmte ihr die Hände und flüsterte ihr zärtliche Worte ins Ohr. Sie schien ihn gar nicht zu bemerken – und doch wünschte sie, die Reise möchte kein Ende nehmen, damit sie nicht allein bliebe: sie fürchtete sich vor dem, was sie erwartete; sie hatte das Gefühl, daß alles, Menschen und Dinge, in jener ihr neuen Welt ihr feindlich sei wie die Reifenden, die murrend zusammengerückt waren, als das junge Ehepaar in den Wagen gestiegen war.

Doch dieses Gefühl schwand, als sie sich in ihrem neuen Keim befand, obwohl ihr ein unbestimmtes Bangen verblieb, wie einem Kinde, das man allein zu Hause gelassen. Das Dienstmädchen, das Francesco vor seiner Abreise von Rom engagiert hatte, ließ durch die Türhüterin sagen, es sei an Bronchitis erkrankt, liege in der Poliklinik und bitte den Herrn Doktor, einmal nach ihr zu sehen. Francesco war ganz erschrocken darüber, aber Gavina, die in der Stille ihrer Wohnung unverhofft wieder Mut zu fassen schien, erklärte, sie könne die Arbeit sehr gut selbst tun.

Er nötigte sie, sich zunächst einmal niederzulegen, und ging selbst, um in dem nächsten Speisehause ihr Mittagessen zu bestellen. Aber sobald sie allein war, sprang sie wieder auf und besah sich von neuem die durch kleine Gasöfen erwärmte, hübsche Wohnung. Sie konnte nicht ruhen, obwohl ihr der Kopf schwer war und der Rücken schmerzte: sie war wie im Traum, aber gerade wie in einem schrecklichen Traum verspürte sie das Verlangen zu fliehen, einen Ort voller Gefahren zu verlassen. Wiederholt machte sie die Runde durch die vier Zimmer, aus denen die Wohnung bestand: das Speisezimmer mit dunkler Tapete und Nußbaummöbeln, ging auf einen Hof und machte ihr zwar einen einfachen und eleganten, doch melancholischen Eindruck; die Übrigen, miteinander verbundenen Zimmer sahen auf die Straße: aus dem Salon gelangte man in das Schlafzimmer, wie auch in das Arbeitszimmer Francescos. Hier verhielt sie sich am längsten und sah sich mit mißtrauischer, scheuer Neugierde um: der mit Wachstuch überzogene Tisch, die Apparate, die blanken Instrumente, die wie Kostbarkeiten in einem eleganten kleinen Glasschrank eingeschlossen waren, alles das kam ihr sonderbar und unheimlich vor. Der Jodoformgeruch, der über dem Zimmer lag, nahm ihr den Kopf ein, und sie kehrte in das Schlafzimmer zurück, öffnete das Fenster und blickte hinaus.

Breit und menschenleer, von Sonnenschein überflutet, lag die Straße da; der Himmel war vom reinsten Dunkelblau, und hier und da schwebten Wölkchen, die wie weiße Flämmchen aussahen. Es war einer der schönsten Tage des römischen Winters. Ihr gegenüber, um die stillen, anscheinend unbewohnten Villen herum, sah Gavina Bäume, so grün wie die Bäume ihres Gartens im Frühling; zur Rechten, über Gartenmauern hinweg, bemerkte sie anderes Grün; und zur Linken, am Ende der Straße, meinte sie einen blumengeschmückten Gartenhügel zu erkennen.

Sie lehnte am Fenster, wie sie es daheim zu tun pflegte. Es kam ihr vor, als bliebe Francesco sehr lange aus, und sie fürchtete sich beinahe, sich in das Zimmer zurückzuziehen und mit sich selbst allein zu sein. Und mit einemmale ward es auf der Straße lebendig. Eine große, grau gekleidete Frau mit einer weißen Haube führte zwei reizende blonde Kinder an der Hand, die in ihren weißen Pelzmäntelchen aussahen wie zwei Hermeline; es kamen viele junge Mädchen in Strohhut und weißer Schürze daher, die kleine Wagen schoben, in denen die Kinder der Reichen wie in beweglichen Bettchen ruhten. Nie hatte Gavina so schöne Kinder gesehen! Da war ein Knabe tritt einem Anzug aus Samt, mit einer Reiherfeder auf seinem Filzhütchen; doch trotz dieses ritterlichen Aussehens stieß er sehr unhöflich die ihm begegnenden kleinen Mädchen an, bis eines kam, das sich als kluge kleine Frau an ihm rächte, indem es ihm die Zunge wies.

Weiter oben, von Via Boncompagni her, kamen Scharen von Arbeitern, eilige junge Geschäftsleute und zwei Herren, die einander so merkwürdig glichen, daß sie in ihrer gleichen Kleidung wie alte Zwillinge aussahen.

Es war Mittag. Das ungewohnte Straßenbild zerstreute Gavina trotz ihrer Müdigkeit und ihrer traurigen Gedanken. Auf einmal aber bemerkte sie einen großen, hageren Mann mit einer bordierten Mütze, einer Umhängetasche und die Hände voll Briefe. Tausend Erinnerungen drangen damit auf sie ein: sie meinte noch am Fenster ihres Mädchenstübchens zu stehen, auf einen Brief wartend, der über ihr Geschick entscheiden sollte. Mit einem Blick voller Sympathie und voller Haß folgte sie jenem Manne, der in die Portale der Häuser hineinging und eilends wieder herauskam, und es kam ihr der Wunsch hinunterzugehen und zu fragen, ob er einen Brief für sie habe. Was erwartete sie denn noch? Es war alles zu Ende – und doch empfand sie etwas wie die unsinnige Hoffnung derer, die, bei einem geliebten Wesen die Totenwache haltend, sich einbilden, es könne von einem Augenblick zum andern wieder aufleben.

Als Francesco zurückkehrte, sah er sofort, daß sie sich nicht ausgeruht hatte. Nach dem Essen machten sie nochmals zusammen die Runde durch ihre Wohnung; er hielt sie umfaßt und schaute zufrieden um sich, ihr Heim bewundernd.

»Wir haben alles Nötige und sogar einigen Luxus«, sagte er. »jener aber«, fügte er hinzu, als er die Tür seines Kabinetts wieder zuzog, »hier fehlt noch vieles!«

Nun aber bestand er darauf, daß sie sich niederlegte. Sie verfiel in einen tiefen Schlaf, und im Traum zankte sie mit Paska, die Zio Sorighe erlaubt hatte, sich im Besuchzimmer auf das Sofa zu legen: sie ging hin und schüttelte den Alten, aber der schlief so fest, daß es nicht möglich war, ihn aufzuwecken. »Nun wird er immer hier bleiben, immer!« schrie sie zornig. And als sie unter dem peinvollen Eindruck dieses Traumes erwachte, war es ihr als sei sie plötzlich in Rom ohne eine Reife gemacht zu haben: sie war zu Hause eingeschlafen und erwachte in dem kleinen, freundlichen Zimmer mit den weißen Möbeln und einer gemalten Decke wie in der Kathedrale ihrer Heimatstadt. Ein Helles, hartes Licht fiel durch die Scheiben ein. Francesco war nicht im Zimmer. Und sie empfand ein Gefühl von Kälte und Trauer und dachte: was soll ich jetzt tun? Und was soll ich morgen tun? In einem Augenblick zog ihr ganzes vergangenes Leben an ihr vorüber, aber sie fühlte, daß das jetzt zu Ende war: was sie gestern betrübte, was gestern ihr Leben ausmachte, das war heute nur eine (Erinnerung. Es war als überlebe sie sich selbst.

Da glaubte sie das Warum von Priamos Selbstmord zu verstehen: er hatte sich das Leben genommen, weil er sie als eine Tote betrachtete.

Aber während sie sich diesem krankhaften Eindruck überließ, dachte sie doch an Francesco und fragte sich, ob es nicht an der Zeit sei, ihm ihr Geheimnis anzuvertrauen. Sie meinte, jetzt ruhig und stark genug dafür zu sein und stand auf, um zu ihrem Gatten zu gehen. Sie fand ihn in seinem Kabinett, vor dem geöffneten Glasschrank stehend; er trug einen weißen Kittel, und sie empfand aufs neue ein Gefühl von Traurigkeit und Verlegenheit. Der Mann, den sie da vor dem kleinen Schranke sah, schöner und imponierender als ihr Francesco, war ihr ein Unbekannter. Er kehrte sich um, betrachtete sie mit einem ruhigen und ernsten Blick, den sie noch nicht an ihm kannte und sagte gelassen: »Wie, du bist schon aufgestanden? So komm!«

Sie trat zu ihm, und er zeigte ihr einige Instrumente und erklärte ihr, wozu sie dienten. Zart, fast liebevoll faßte er die Sachen an, betrachtete sie aufmerksam und deutete ihr an, sie seien noch nicht bezahlt und er wünsche sehnlichst Geld zu verdienen, viel Geld, um noch mehr zu kaufen.

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06 aralık 2019
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