Kitabı oku: «Führerin»

Yazı tipi:

GREGOR EISENHAUER

FÜHRERIN

THRILLER

mitteldeutscher verlag

2014

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 9783954622962

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Inhalt

Cover

Titel

Titel

Impressum

Zitat

Prolog

Mittwoch, 7. März, 10 Uhr Dorint Plaza Hotel, Konferenzraum

Donnerstag, 8. März, 6 Uhr Martinas Wohnung

Donnerstag, 8. März, 11 Uhr Auguststraße

Donnerstag, 8. März, 12 Uhr Grandhotel, Klimts Suite

Donnerstag, 8. März, 13 Uhr von Hausens Villa im Grunewald

Donnerstag, 8. März, 16 Uhr Invalidenstraße

Donnerstag, 8. März, 20 Uhr Grill Royal

Freitag, 9. März, 7 Uhr Claasens Wohnung

Freitag, 9. März, 8 Uhr Lottas Schulweg

Freitag, 9. März, 11 Uhr Restaurant Gendamerie

Freitag, 9. März, 12 Uhr Kehrtmanns Büro

Freitag, 9. März, 12 Uhr von Hausens Villa im Grunewald

Freitag, 9. März, 12 Uhr Hotel Four Seasons, Ayn Goldhouses Appartement

Freitag, 9. März, 14 Uhr Beckys Wohnung

Freitag, 9. März, 15 Uhr Checkpoint Charlie

Freitag, 9 März, 16 Uhr Bondi Café

Freitag, 9. März, 17 Uhr Martinas Wohnung

Freitag, 9. März, 20 Uhr Friedrichstraße, Weidendammerbrücke

Samstag, 10. März, 11 Uhr Claasens Wohnung

Samstag, 10. März, 11 Uhr Lottas Kinderzimmer

Samstag, 10. März, 12 Uhr Clärchens Ballhaus

Samstag, 10. März, 18 Uhr von Hausens Büro

Samstag, 10. März, 20 Uhr Martinas Wohnung

Sonntag, 9 Uhr von Hausens Büro

Sonntag, 11. März, 10 Uhr Hotel Four Seasons, Ayn Goldhouses Appartement

Montag, 12. März, 10 Uhr Café Birds on a Wire

Montag, 12. März, 7 Uhr Martinas Wohnung

Montag 12. März, 10 Uhr Café am Meer

Montag, 12. März, 13 Uhr Bella Ricci

Montag, 12. März, 13 Uhr von Hausens Villa im Grunewald

Montag, 12. März, 15 Uhr Hotel Four Seasons, Ayn Goldhouses Appartement

Montag, 12. März, 20 Uhr Claasens Wohnung

Montag 12. März, 21 Uhr Grandhotel, Klimts Suite

Dienstag, 13. März, 11 Uhr Weblog Heloise

Dienstag, 13. März, 12 Uhr Hotel de Rome, Dachterrasse

Dienstag, 13. März, 12 Uhr Kehrtmanns Büro

Dienstag, 13. März, 12 Uhr Martinas Wohnung

Dienstag, 13. März, 14 Uhr Lottas Zimmer

Dienstag, 13. März, 15 Uhr Beckys Wohnung

Dienstag, 13. März, 15 Uhr Martinas Wohnung

Dienstag, 13. März, 20 Uhr Grandhotel, Klimts Suite

Dienstag, 13. März, 21.30 Uhr Hotel Four Seasons

Dienstag, 13. März, 23 Uhr Beckys Wohnung

Dienstag, 13. März, 23.30 Uhr Martinas Wohnung

Mittwoch, 14. März, 9 Uhr Grandhotel, Klimts Suite

Mittwoch, 14. März, 10 Uhr Kehrtmanns Büro

Mittwoch, 14. März, 11 Uhr Beckys Wohnung

Mittwoch, 14. März, 11.30 Uhr Gendarmenmarkt

Der größte Sieg des Dämonen ist, glauben zu machen, dass es ihn nicht gibt.

Gabriele Amorth, Exorzist

Prolog

Als wären ihr die Lippen zugenäht worden. So konzentriert saß sie da und zeichnete. Sie zeichnete aus dem Gedächtnis, das konnte sie am besten. Dann verwirrte die Gegenwart sie nicht. Die vielen fremden Eindrücke, die sie beim Alleinsein störten. Sie zeichnete eine schwarze Rose, die in einem labyrinthischen Garten wuchs, ein Irrgarten, in dem sie niemand finden konnte. Nicht einmal ihre Mutter. Sie seufzte entnervt.

Was sie am meisten an ihrer Mutter hasste? Dass sie nie die Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt hatte. Sie tat immer nur so, als wäre das Leben ein Kinderspiel. Aber ihr Leben war kein Kinderspiel. Schon lange nicht mehr. Sie war nicht wie ihre Mutter, die sich die Karten einfach neu legte, wenn sie ihr nicht passten. Sie glaubte an das Schicksal, weil sie wusste, das Schicksal glaubte an sie.

Lotta hatte sich mit ihrem Zeichenblock an einen Nachbartisch gesetzt, mit dem Rücken zu ihrer Mutter, stützte ihr Kinn in die Hand und tat so, als müsste sie sich schrecklich konzentrieren. Sie wollte allein sein. Die beiden redeten einfach zu viel. Nach drei Wochen das erste Mal wieder unter Menschen! Becky benahm sich ganz und gar kindisch, wie immer, wenn sie sich über etwas sehr freute. Martina hingegen wirkte eher noch verschlossener, als würde ihr die neue Umgebung ein wenig Angst machen. Dabei war der Marktplatz am frühen Morgen noch fast menschenleer. Kleine Transporter rollten knatternd über das mittelalterliche Pflaster und brachten frische Panini in alle Häuser. Zumindest stellte sich Lotta das so vor. Pizzabäcker wärmten ihre Öfen. Kellner bügelten die Servietten, die sie sich dann akkurat über den Arm warfen. Es war wie im Film. Einer dieser alten Kitschfilme mit Sophia Loren und Gina Lollobrigida, die Becky sich so gern ansah. Bella Italia! «Wenn nur die Italiener nicht wären», hatte Martina geseufzt, als ihnen ein Mopedfahrer hinterhergehupt hatte, kaum dass sie aus dem Auto gestiegen waren.

«Ach, der meint das doch nur nett», hatte Becky sofort abgewiegelt, um nur kein ungutes Gefühl aufkommen zu lassen. Sie war fest entschlossen, die Zeit in Italien zu genießen. Martina hingegen schien ein wenig Heimweh nach Berlin zu haben. Nicht dass sie darüber gesprochen hätte, aber es war ihr anzusehen. Urlaub war nichts für sie. Schon gar nicht so ein langer Urlaub. Auch wenn sie es Arbeitsurlaub nannte. Aber woran genau sie arbeitete, hatte sie nicht verraten. Dauernd sah sie sich um, als erhoffte sie, ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Lotta mochte die neue Freundin ihrer Mutter, obwohl sie fand, dass sie immer ein wenig zu ernst war und ein wenig zu forschend. «Sie hat viel durchgemacht, wir müssen ganz lieb zu ihr sein», hatte Becky sie gebeten. Komisch war nur, dass all ihre Freundinnen immer viel durchgemacht hatten und sie zu allen ganz lieb sein musste. «Ich muss nicht zu allen lieb sein», hatte sie entgegnet, und es im nächsten Moment schon wieder bereut, weil ihre Mutter prompt so traurig dreinsah. Becky war immer so weich, deswegen war sie auch so dick. Die Diäten, die sie machte, waren albern, weil total sinnlos, und die Diät-Cola auf dem Tisch auch. Sie war nicht dick, weil sie zu viel aß oder trank, sie war zu dick, weil sie zu weich war und zu nachgiebig.

«Schwache Menschen sind immer dick», hatte die Oberin geschrieben. «Sie geben der Seele ein schlechtes Zuhause. Sie sind nur Biomasse in der Welt, reine Biomasse.» So ganz hatte Lotta das mit der Biomasse nicht begriffen, aber dicke Menschen fand sie eklig. Martina war sehr schlank. Sie hatte sehr kurze Haare, was von ihrer Krankheit kam. «Eine ganz schlimme Krankheit», hatte Becky geflüstert. Sie flüsterte immer, wenn sie Geheimnisse verriet, die keine waren. «Sie hatte eine Chemo», präzisierte Lotta. So wie die eine Frau von dem Fußballspieler, die hatte vorher auch Locken und danach einen Kurzhaarschnitt.» – «Ich weiß nicht, wen du meinst, aber du hast recht, wie immer», setzte Becky noch seufzend hinzu. Dann mussten sie beide lachen.

Becky benahm sich immer noch so, als wäre sie ein kleines Kind. ‹Sie mag mich einfach nicht hergeben.› Lotta wusste gar nicht, wann ihr das zum ersten Mal aufgefallen war, aber als sie begriffen hatte, wie sehr ihre Mutter klammert, hatte sie noch mehr auf körperlichen Abstand geachtet.

Sie beugte sich wieder über ihren Zeichenblock. Sie malte die Rose, so wie sie auf der Homepage des Ordens zu sehen war, tiefschwarz und sehr stachelig.

Darunter schrieb sie ihren neuen Namen, den die Oberin ihr beim Eintritt in den höheren Kreis gegeben hatte: Ninja, die Verborgene. So hießen die tapfersten Kämpfer im alten Japan.

Sie hatte ihr noch eine Losung dazugegeben, einen Bannspruch gegen alles Böse; «aber die Worte darfst du nie laut aussprechen», hatte die Oberin sie ermahnt. Auf der nächsten Stufe würde sie ein Bild der Oberin selbst sehen und nicht mehr nur einen Schattenriss, und vielleicht, in nicht allzu langer Zeit, würde sie sie selbst treffen. Vielleicht noch hier in Italien!

«Denk immer daran: Du bist zur Führerin geboren. Und denk immer daran: Du bist nicht auf dich allein gestellt! Unsere Guardian Angels bewachen dich, du musst dir keine Sorgen machen … Wo auch immer du bist, einer von uns ist ganz in deiner Nähe.»

Lotta sah sich um. War er vielleicht einer von ihren Schutzengeln? Sie musste kichern, was den jungen Mann am Nachbartisch gar nicht freute, denn er bezog es zu Recht auf sich. Er wirkte ein wenig linkisch, wie ein junger Lehrer, der zum ersten Mal vor seiner neuen Klasse stand. Irgendetwas in seiner Art kam ihr sehr vertraut vor, aber vielleicht war es nur diese Schüchternheit, unter der sie selbst so lange gelitten hatte, bevor sie in den Orden eingetreten war.

Sie konzentrierte sich wieder ganz auf ihre Zeichnung.

Sie mochte es hier in Italien, sie war neugierig auf ihre Schule, die sie morgen zum ersten Mal besuchen sollte. Sie mochte das kleine Haus in den Weinbergen und die anderen Häuser drum herum. Es war wie ein kleines Dorf, jeder kannte jeden, jeder grüßte jeden. Es war ganz anders als in Berlin, sie fühlte sich auf einmal gar nicht mehr einsam.

«Sehr hübsch. »Der junge Mann hatte sich herübergebeugt, argwöhnisch beäugt von Martina und Becky. Aber Lotta hatte keine Angst. Vor niemandem. Sie besaß den Zauber, das schien er zu spüren, denn er kam nicht näher als bis zu der unsichtbaren Grenze, die sie um sich gezogen hatte. Sein Kopf reckte sich ein klein wenig vor, als er ihre Zeichnung musterte. Seine Haut war schrecklich verpickelt. Er musste sehr darunter leiden. Und sehr gierig nach Schönheit sein. Sein Blick war voll ehrlicher Bewunderung, aber Lotta war sich nicht sicher, ob dieser Blick ihrer Zeichnung oder ihr selbst galt. Das war ihr unangenehm. Denn sie war nicht eitel. Sie hasste alle Äußerungen, die sich auf ihre Schönheit bezogen. «Schönheit ist ein Makel des Geistes», hatte die Oberin gesagt. «Eine Freude nur für Schwache.»

«Ein sehr schönes Bild.» Der junge Mann nickte, als wäre damit alles gesagt.

«Ein Labyrinth», erklärte Lotta.

«Ein Labyrinth lässt sich denken als die Summe sehr vieler Swastiken», dozierte er. «Du weißt, was das Symbol bedeutet?»

«Die Swastika? Natürlich!» Lotta sah ihn erbost an. Sie hasste es, wenn man sie für dumm hielt, nur weil sie ein Mädchen war.

«Das altindische Symbol für ewiges Leben. Manche verwechseln es mit dem Hakenkreuz, aber das ist Unfug», fügte sie altklug hinzu, «die Swastika ist schon sehr viel älter.»

«Das stimmt», pflichtete ihr der junge Mann bei. «Es gibt sehr viele dumme Menschen, die hinter dem Guten immer das Böse vermuten.»

Er wischte sich über den Ärmel seines Jacketts, als hätte ein Vogel ihn beschmutzt. Streng sah er in den Himmel, als könnte er da oben irgendwo den Übeltäter entdecken.

‹Komisch, dass er an einem so warmen Tag ein Jackett trägt›, dachte Lotta. Er wirkte überhaupt viel zu fein für diese kleine Stadt. Und ein wenig traurig. Wie ein Bräutigam, dem die Frau weggelaufen war. Fast empfand sie so etwas wie Mitleid. Sie spürte, dass er kein rechtes Wort des Abschieds fand. Erwachsenen musste man immer beistehen.

«Ich muss weitermalen!» Sie war sich ihres kindlichen Tonfalls bewusst.

«Je kindlicher du dich gibst», hatte die Oberin sie ermahnt, «desto leichter wirst du unterschätzt und desto größer wird deine Macht über sie sein.»

«Wir sehen uns bald wieder», flüsterte er ihr zu.

‹Er hinkt ein wenig›, dachte sie, als er langsam davonging. Komisch, irgendetwas an ihm war komisch, ohne dass man darüber lachen konnte. Die Welt da draußen war voller Wahnsinniger.

Mittwoch, 7. März, 10 Uhr
Dorint Plaza Hotel, Konferenzraum

«Meine Damen und Herren, wir glauben die Welt zu kennen, in der wir leben. Unsinn! Wir leben längst in einer anderen Welt. Wir werden längst von anderen Mächten regiert. Fakten! Nehmen Sie die Fakten zur Kenntnis! Der amerikanische Geheimdienst verfügt mit Facebook über das effektivste Spionage-Tool, das je existierte. Eine Milliarde Zuträger und täglich werden es mehr. Die Agents lesen unseren Twitter-Verkehr, kennen unsere E-Mails, sie wissen, was wir denken, was wir fühlen, essen, trinken und verdauen! Sie haben unsere medizinischen Daten und unsere Arbeitsakten gescannt. Alles, was je elektronisch erfasst wurde, ist in den Archiven der Geheimdienste. Ein zweites Ego von uns existiert längst als Daten-Klon. Warum wir uns nicht empören? Weil wir davon nichts wissen wollen! Die Welt ist uns zu kompliziert geworden! Der Clou an der Sache: Die Agents sind nicht die Schlimmsten. NSA und CIA hinkten schon immer ein wenig hinterher. Alles, was die CIA kann, kann die Mafia besser. Sie haben die besseren EDV-Spezialisten und sie haben die größere kriminelle Energie. Die italienische Mafia, die russische Mafia, die chinesische Mafia, die Triaden Hongkongs. Die kriminellen Geheimbünde haben die Welt unter sich aufgeteilt. Nicht alle sind noch so mächtig, wie sie es einmal waren. Die Katholiken schwächeln. Das Opus Dei ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Freimaurer schwächeln. Die Illuminaten sind im Altersheim. Stark, sehr stark hingegen und sehr jung ist eine Bewegung, die von einer ungemein faszinierenden Frau geführt wird, ich habe sie bereits im Publikum entdeckt. Willkommen, Ayn Goldhouse! Wie war noch der Tarnname ihres Amazonenbundes? Nymphomania? Bleibt nur zu hoffen, dass ihre weiblichen Führungskräfte dem Stress irgendwann nicht mehr gewachsen sind und der Kinderwunsch siegt!»

Charles Klimt kicherte in sich hinein, als würde er seinem Publikum keinen einzigen vernünftigen Gedanken zutrauen. Die Zuhörer wiederum schüttelten den Kopf über diesen Wahnsinnigen, dessen Weltruhm in einem so krassen Missverhältnis zu seiner Erscheinung stand. Ein kleiner dicker Mann mit hochrotem Kopf, der jeden Augenblick zu explodieren drohte. Sein Bluthochdruck schien nicht weniger lebensbedrohlich für ihn als sein cholerisches Temperament. Er trug einen schlecht sitzenden grauen Anzug, den er offensichtlich achtlos im Reisekoffer verstaut hatte, und stützte sich auf einen schwarzen Gehstock mit silbernem Knauf, den er im Laufe des Vortrages zornig auf den einen oder anderen unruhigen Zuhörer richtete. Seine Krawatte hatte er schon vor Beginn der Rede gelockert, und je länger er sprach, desto weiter zog er den Knoten nach unten, als wollte er seinen Kopf aus einer Schlinge befreien. Ein Wahnsinniger, so dachten die meisten, was ihr Vergnügen an seinem Auftritt keineswegs schmälerte. Im Gegenteil: Sie erhofften einen Eklat, deswegen waren sie schließlich gekommen.

Der Vortragssaal im hoch gesicherten Dorint Plaza Hotel war voll besetzt. Ein handverlesenes Publikum aus Historikern, Publizisten und Verlegern, von denen nicht wenige noch immer ihre Einladungskarte verteidigungsbereit in den Händen hielten, denn die zehnfache Zahl an Interessierten hatte sich vergeblich um Einlass bemüht.

Charles Klimt hatte die Anwesenden eine halbe Stunde warten lassen, entsprechend groß war anfangs die Unruhe im Raum gewesen. Jeder fühlte, dass etwas Besonderes geschehen würde, etwas Unerhörtes, Skandalöses, und keiner konnte sich eines unguten Gefühls der Nervosität erwehren, obwohl klar war, dass sie, die Zuhörer, nur Statisten in einem Drama sein würden, das Klimt zu seinem alleinigen Vergnügen zu inszenieren gedachte.

Die Ausgänge des Vortragssaals waren durch Bodyguards gleich mehrfach gesichert, die Leibesvisitation bei der Einlasskontrolle war von ungewohnter Strenge gewesen, das Gerücht eines möglichen Anschlags hatte sich im Flüsterton verbreitet und sorgte für zusätzliche Unruhe – und für ein seltsames Gefühl gefährlicher Exklusivität.

Vor dem Hotel hatte sich, wie immer wenn Charles Klimt irgendwo auf der Welt zu einem seiner seltenen Vorträge erschien, ein Trupp fanatisierter Gegner eingefunden, die drohend ihre Transparente schwangen. «Tod dem Antichrist!» – «Auf den Scheiterhaufen mit dem Gottesleugner!» Oder einfach nur: «Satan! Hebe dich hinweg!» Eine Bezeichnung, die abwegig schien, wenn man den kleinen kurzatmigen Mann so bemüht stramm und aufrecht hinter seinem Rednerpult stehen sah.

Nach seiner Eingangsfrage, die ihm einen ersten verhaltenen Applaus eingebracht hatte, hielt er einen Moment inne. Von der Aufregung draußen war im Hotel selbst nichts zu spüren. Diskret hinter Klimt postiert wachten zwei weitere Muskelpakete über den ruhigen Ablauf des Abends. Schräg, im Halbschatten des Vortragenden, kontrollierte Klimts Sekretär die Szenerie.

«Meine Damen und Herren, es gibt tausend gute Gründe, an die Existenz des Teufels zu glauben, aber keinen einzigen, der uns von der Existenz Gottes überzeugen könnte. Ersparen Sie mir im Folgenden die Tortur, die Weltgeschichte des letzten Jahrhunderts zu rekapitulieren oder gar die Zahlen der Opfer zu listen, die im Krieg, in den Konzentrationslagern, in den Gulags, auf den Killing Fields abgeschlachtet wurden. Ersparen Sie mir, die Folterkeller aufzuzählen, in denen die Bestie Mensch ihrem Namen alle Ehre machte, ersparen Sie mir, an all das Unrecht zu erinnern, von dem wenige profitieren und an dem viele, viel zu viele, zugrunde gehen, ohne Gehör zu finden. Schenken Sie mir stattdessen Vergessen, bin ich zuweilen geneigt zu bitten, leihen Sie mir Ihren stumpfen Sinn, Ihre tauben Ohren, Ihren blinden Blick, Ihren ruhigen Schlaf. Aber, meine Damen und Herren, wenn ich mich so umsehe und die serielle Ausdruckslosigkeit Ihrer Gesichter mit der Leere Ihrer Herzen verrechne, dann empfinde ich Naivität keineswegs mehr als ein Geschenk, sondern als einen Fluch, weit ärger noch als Krankheit, Siechtum und Tod. Offen gesagt, meine eigene Schlaflosigkeit erscheint mir da plötzlich als Geschenk!»

Die ersten Buhrufe wurden laut. «Unverschämt!» – «Wir sind doch nicht hier, um uns beleidigen zu lassen!» Selbst die gelasseneren Zuhörer raunten einander zu: «Alberne Publikumsbeschimpfung! Mal wieder sehr emotional der Herr! Dient wohl der Show!»

Die Ordner blickten grimmiger. Aber die Aufregung legte sich schnell, schließlich war allen Anwesenden klar, dass sie genau deswegen gekommen waren. Entsprechend süffisant war das Lächeln Klimts, der ein wenig vom Rednerpult zurückgetreten war, aber nun seinen Mund wieder ganz nah ans Mikrofon brachte, weil so sein zorniges Flüstern umso vernehmlicher durch den Saal drang. «Lassen Sie mich sprechen vom Antichristen, in dreifacher Gestalt. Dem Menschen, der das schlimmste Unheil über die Welt bringen wird. Die Olympiade der Teufel, wenn Sie so wollen. Es gibt nicht wenige Südstaatler, der Gesinnung oder der Geografie nach, die den amerikanischen Präsidenten schon aufgrund seiner Hautfarbe für den Antichristen halten, einen Antichristen mit marxistischem Glaubensbekenntnis. Das ist natürlich Unsinn. Nähern wir uns der Sache objektiv. Fakten! Warum handelt es sich bei Barack Obama um den Antichristen? Zählen Sie die Buchstaben seines Namens: Barack Hussein Obama – sechs Buchstaben plus sieben plus fünf –, achtzehn, dreimal die Sechs. Six hundred and sixty six is the number of the beast. Sie zweifeln? Der missglückte Eid, erinnern Sie sich. Er ist Linkshänder. Hexen grüßen den Teufel stets mit der Linken. Das Fahrzeug, die gepanzerte Limousine, in der er nach der Vereidigung davonfuhr, trägt den Spitznamen: das Biest! Der Segen, gesprochen von einem Evangelisten, von einem der falschen Heiligen der letzten Tage mit Namen Rick Warren, rechnen Sie die Fakten zusammen: Wahrlich, er ist der Antichrist! Er ist das Werkzeug falscher, weil auf das Unmögliche gerichteter Hoffnungen. Es war kein Akt waghalsiger Prophetie, ihm eine unglückliche Regierungszeit vorherzusagen – der Beiname Hussein sagt alles, meine Damen und Herren! Kein Mann, der Hussein hieß, war je wirklich vom Glück gesegnet. Salem aleikum, Saddam!

Wir leben in satanischen Tagen. Der Antichrist ist unter uns, in vielfacher Gestalt.» Klimts Tonfall wurde höhnisch. Sein Blick musterte die Zuhörer so voller Hass, dass nicht wenige den Blick senkten. Ertappt bei einer Sünde, von der sie keine Ahnung hatten.

Der Papst taugt nicht mehr als der Antichrist. Denken Sie an die Quote. Denken Sie politisch korrekt. Zumindest eine Frau muss im Vorstand sein! Der Antichrist in weiblicher Gestalt. Ich bin kein Feminist, wie Sie wissen. Ich weiß nicht, wer die Zahl aufgebracht hat, aber es steht wohl außer Frage, dass der Feminismus und die Ideologie der weiblichen Selbstbestimmung mehr Menschenleben gekostet haben als alle Kriege der Menschheit. Wer ein ungeborenes Kind ermordet, zerstört eine werdende Familie. Wer kinderlos bleibt, beraubt sich selbst der Macht über die Familie. Wer herrschen will, braucht die Macht über die Kinder. Nichts ist lächerlicher als eine kinderlose Frau, die über die Zukunft aller redet! Einige Frauen haben das inzwischen kapiert. Das neue Matriarchat ist im Werden. So viel darf ich Ihnen schon jetzt verraten, das wird kein Spaß für uns Männer. Die zukünftige Herrin der Welt? Sie sitzt im Publikum. Und der Dritte im Bunde, der schlimmste aller Antichristen? Ohne mir schmeicheln zu wollen, das bin ich selbst! Sie lachen. Lachen Sie! Erheitern Sie mein Herz. Denn wissen Sie, was das Schöne an diesen Thesen ist? Sie können sie nicht widerlegen. Was ich bislang vorgetragen habe, sind Fakten: Fakten, die in einem verschwörungstheoretischen Erklärungsmodell der Welt sehr überzeugend sind, von unwiderlegbarer Evidenz geradezu. In einem nichtreligiösen Erklärungsmodell sind sie von indiskutabler Nichtigkeit. Das Gerede eines Wahnsinnigen. Wer wollte sich die Mühe machen, einen Wahnsinnigen zu widerlegen – vor allem, mit welchen Argumenten? Nun, der Wahnsinnige behält recht, wenn die Katastrophe tatsächlich eintritt. Die Apokalypse. Die Machtübernahme Satans.

So weit, so gut. Ich weiß, dass ich mich in diesen Dingen gern wiederhole … und einen gewissen Hang zum Pathos mögen Sie einem alten Mann verzeihen!»

Klimts Kichern ließ die Anwesenden frösteln. ‹Dieser Mann ist komplett wahnsinnig›, schienen einige zu denken, aber kaum, dass sein Blick auf ihnen ruhte, sei es durch Zufall oder weil ihr unwillkürliches Kopfschütteln auf sie aufmerksam machte, verabschiedeten sie den Gedanken schon wieder. In diesem alten, teigigen Gesicht glühten Augen, die an alles denken ließen, nur nicht an Irrsinn.

«Sie werden sagen, nichts Neues, was er vorbringt! Hirngespinste eines alten Mannes! Meine Damen und Herren, ich bitte Sie nur um eins, schärfen Sie den Blick für die Spur des Bösen in der Gegenwart. Das Böse kann sich stets nur wiederholen, weil die vermeintlich Guten sich seiner Wirkungsweisen nicht erinnern. Das frohe Blöken der Schafe ist Musik in den Ohren des Wolfs!»

«Krank, oder?!» – «Der kotzt sich ja mal wieder ganz schön aus!» – «Und täglich gib uns unseren Weltuntergang!» – «Geschwätz!»

Zwei Dutzend Journalisten waren in einem Nebensaal versammelt worden, damit sie dort ungestört per Videoübertragung dem Vortrag folgen konnten. Im Hauptsaal waren sie unerwünscht, denn Klimt hegte eine tiefe Abneigung gegen die «nuttige Journaille», so sein Lieblingsausdruck, für den er etliche Varianten hatte, die alle gleichermaßen vulgär im Ton waren.

«Ein durch und durch unsympathischer Zeitgenosse, wenn Sie mich fragen. Ein Spinner, aber nicht ohne Charisma!» Martina Claasen schien es bei diesem Urteil belassen zu wollen.

Der Chefredakteur des Internetmagazins NewsOnline klopfte noch einmal bekräftigend mit seinem Füllfederhalter auf den Tisch, denn er applaudierte sich zuweilen gern selbst.

«Ja, ja, schön und gut, aber was halten Sie von seinen Thesen?» Er wandte sich an seine Mitarbeiterin, die gelangweilt die Beine übereinandergeschlagen hatte. Sehr lange Beine, wie er nicht umhin kam festzustellen. Zumindest da hatte sie keinen Schaden genommen. Sie wirkte grazil wie immer. Umso mehr überraschte ihr rüder Tonfall.

«Ich kann dieses Endzeitgequatsche nicht mehr hören, egal von welcher Seite es kommt. Die Welt ist schlecht, tolle Neuigkeit, was geht es mich an!?»

«Stopp! Ich schätze Ihre flapsige Art, aber nur im Umgang mit Ihren Interviewpartnern! Also bitte … konzentrieren Sie sich und teilen Sie mir Ihre vorurteilsfreie Meinung über Herrn Klimt mit! Etwas mehr Substanz könnte dabei nicht schaden!»

Martina Claasen, fünfunddreißig, Kurzhaarfrisur, ein wenig zu blass für ihre sehr durchtrainiert wirkende Figur, musterte mit kaum verhaltenem Spott ihren Chef. Wäre ihr seine blasierte Neugier nicht seit Jahren vertraut gewesen, sie hätte ihm offen ins Gesicht gegähnt. Stattdessen schien sie hoch konzentriert nach den passenden Worten für ihren Unmut zu suchen, was Schauspielerei war, denn ihre Einschätzung von Klimt stand fest. Er erinnerte sie in zu vielem an ihren eigenen Vater, als dass sie sein cholerisches Gepolter hätte ernst nehmen können.

An den anderen Tischen im Videokonferenzraum herrschte aufgeregtes Getuschel, jeder schien mit dem Auftritt Klimts beschäftigt zu sein, aber Martina spürte sehr wohl, dass viele neugierige Blicke, die absichtslos durch den Raum zu schweifen schienen, ihr und ihrem Chef galten. Seit über einem halben Jahr waren sie nicht mehr gemeinsam zu sehen gewesen, und vieles war gemunkelt worden, darunter das Absurdeste, was sie sich überhaupt nur vorstellen konnte, dass sie beide nun endgültig ein Paar geworden seien und sie sich deshalb von der vordersten Reporterfront zurückgezogen hatte.

Äußerlich betrachtet sprach nichts gegen die Kupplerfantasien der Kollegen, das musste Martina zugeben, als sie ihren so geduldig wartenden Chef mit geradezu sentimentaler Neugier musterte – denn acht Monate waren eine lange Zeit in ihrem Milieu und die Wiederbegegnung wenige Stunden zuvor im Redaktionsbüro war nur kurz gewesen.

Ludger Kehrtmann wirkte so smart, dass es fast schon schmerzte. Dabei war er keineswegs eitel, seine Vorliebe für teure Schreibgeräte und Hightech-Rennräder ausgenommen. Er trug gute, aber nicht zu teuer wirkende Anzüge, solides Schuhwerk, in Handarbeit gefertigt, eine Uhr, die er von seinem Vater geerbt hatte und der wiederum von seinem, bis zurück zu Urururgroßvaters babylonischen Tagen. Überhaupt die familiäre Tradition! Sein Großvater war Leiter eines bedeutenden Verlages gewesen, sein Vater Herausgeber einer bedeutenden Tageszeitung, und Kehrtmann war sich seines guten gesellschaftlichen Umgangs von Kindesbeinen an bis in den letzten Nerv seiner Wahrnehmung derart bewusst, dass es schon eines Frankensteins als Gegenüber bedurft hätte, um ihn zu einem irritierten Blinzeln zu bewegen. Martina gegenüber empfand er allenfalls Mitleid, so schien es ihr in diesem Moment. Als Frau hatte er sie noch nie wahrgenommen, warum auch, eine Heirat wäre ohnehin nie infrage gekommen, und als Geliebte ließ sie all das vermissen, was er sich unter einer zahmen, dekorativen und in Maßen temperamentvollen Mitfahrerin so vorstellte. Wobei sie nicht einmal wusste, ob er überhaupt ein Auto hatte. Aber wenn, saß er garantiert immer selbst am Steuer.

Rein körperlich verband die beiden eine herzliche Abneigung schon seit den Tagen, als sie noch im Printjournal zusammengearbeitet hatten. Für sie war Ludger Kehrtmann immer der Strichjunge der Anzeigenkunden gewesen; für ihn verkörperte sie die altmodische Form investigativen Zeitvertuns.

Martina konnte sich noch gut daran erinnern, als sie ihm das erste Mal begegnet war. Ihr Vater hatte sie damals in sein Büro geschleift. Sie selbst hätte lieber im Buxtehuder Stadtanzeiger volontiert, aber ihr Vater hatte sie bekniet, diese Chance ihres Lebens, wie er es immer nannte, doch nicht so leichtfertig aufs Spiel zu setzen.

Was das Schlimme war: Er hatte natürlich recht. Die Chance auszuschlagen, bei einem der besten Nachrichtenmagazine Europas anzuheuern, nur weil der eigene Vater den Fürsprecher gab, wäre selten dämlich gewesen. Aber peinlich war die Situation dennoch.

Ihr Vater vegetierte damals im letzten Stadium seiner Trunksucht. Er hielt sich noch einigermaßen gerade, aber wer genauer hinsah, bemerkte die Verfallserscheinungen nur allzu deutlich. Sein Äußeres wies all die Spuren der Vernachlässigung auf, die ein alleinstehender Mann, der jeden Sonnenaufgang mit einem Wasserglas Wodka begrüßte, nicht mehr vertuschen konnte, weil er den Blick in den Spiegel erst gar nicht mehr wagte. Schlecht rasiert, im nicht mehr waschbaren Cordsakko, das Hemd leicht fleckig, die Schuhe seit Monaten nicht geputzt – sie konnte alle Einzelheiten lebhaft erinnern, denn dieses Bild seines Abschieds vom Berufsleben hatte sich ihr eingebrannt. Und dann war da noch dieser Geruch gewesen, eine unsägliche Mischung aus Schweiß, Alkohol, billigem Waschmittel – und Angst. Ja, er hatte Angst gehabt damals, dass seine Stellung und sein Ruf nicht mehr genügen würden, ihr das Entree zu verschaffen. Das war das Schlimmste gewesen, das war das, was sie Ludger Kehrtmann niemals verzeihen würde, dass er ihren Vater ängstlich erlebt hatte.

Kehrtmann wäre allerdings nicht Kehrtmann gewesen, wenn er diesen Auftritt ihres Vaters nicht taktvoll ignoriert hätte. Er wusste schon lange, wie es um ihren Vater stand, er hatte ihm unerwartet viel Freiraum gegeben, aus welchen Gründen auch immer, vielleicht einfach nur, weil in Monatsabständen noch immer ein akzeptabler Artikel von ihm erschien, aber der Blick, mit dem er ihn musterte, als sie in sein Büro traten, war von einer solchen Kälte gewesen, dass sie am liebsten sofort wieder gegangen wäre.

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