Kitabı oku: «Führerin», sayfa 6

Yazı tipi:

«Lass meine Hand los!»

Becky hielt die Hand ihrer Tochter fest. Zog sie ein wenig näher an sich heran.

«Seit wann hast du ein Tattoo?»

Donnerstag, 8. März, 20 Uhr
Grill Royal

Martina war sich klar, worauf das Ganze hinauslief. Wenn Ralf sie zum Essen in den Grill Royal lud, dann deshalb, weil es von da nur zehn Minuten zu ihm nach Hause waren. Er war in seinen Avancen nie sonderlich kompliziert gewesen, das hatte ihn auf Anhieb so sympathisch gemacht. Ralf war ein gradliniger Egoist. In dieser Beziehung konnte man sich absolut auf ihn verlassen. Wenn er sagte: «Blas mir bitte einen», dann meinte er das auch ernst. Das war viel Wert in der Hauptstadt der Heuchler. Zudem war er pünktlich, auch das eine Tugend, die sie sehr schätzte. Und er stellte sich beim Sex nicht allzu dumm an. Das war sie von Männern sonst nicht gewohnt gewesen.

«Wie geht es dir?»

«Gut!»

«Das sieht man! Du siehst blendend aus!»

‹Heuchler›, dachte sie, ‹bei dieser Beleuchtung hier könntest du Rotkäppchen nicht vom bösen Wolf unterscheiden.› Aber ein Kompliment war ein Kompliment und allzu viele hatte sie davon in letzter Zeit nicht bekommen. So schien es ihr in dem Moment zumindest. Ralf hatte den besten Tisch am Fenster gewählt, saß bereits da, als sie mit fünfminütiger Verspätung eintraf, half ihr aus dem Mantel, rückte den Stuhl zurecht.

Er war perfekt.

Sein Anzug saß gut wie immer, die Fingernägel waren frisch manikürt und ein kaum wahrnehmbarer Duft nach Herrenseife ließ sie insgeheim wohlig aufseufzen. Er war auf eine sehr altmodische Weise männlich, zumindest was sein Äußeres betraf. Vermutlich hätte er sogar eine Krawatte getragen, wenn dieses Date ihr erstes gewesen wäre.

«Wie waren die letzten Monate so?», fragte er verlegen.

«Super! Ich weiß nicht, was ich mehr vermisse, Strahlentherapie oder Chemo, beides shocking amusing! Von den feinfühligen Ärzten ganz zu schweigen.»

Sie konnte es sich nicht verkneifen, ihm ein wenig sein Versagen vorzurechnen. Zwölf Monate hatte er sich nicht gemeldet. Exakt zwölf Monate. Gerade mal ein Jahr. Kein Mensch hatte je behauptet, dass man ewig in der Hölle schmoren muss, wenn man erfahren will, was Verdammnis ist. Zwölf Monate reichen, ein Tag hätte gereicht.

«Ich musste oft an dich denken.»

Sie schluckte, denn wenn dieser Blick geschauspielert war, dann war er ein verdammt guter Schauspieler. So viel treuherziges Bedauern hätte sie in seiner Fitness-First-Brust nie vermutet.

«Martina, du weißt, ich bin kein sonderlich mutiger Mensch … Ich, ich wäre dir keine große Hilfe gewesen.»

«Das weiß ich!»

Fast war sie versucht, tröstend seine Hand zu tätscheln. Sie blickte sich Hilfe suchend um. Was, wenn er ohnmächtig wurde. Ihr schossen noch eine Reihe anderer dummer Gedanken durch den Kopf. Mentaler Selbstschutz. Wann immer die Rührung oder das Selbstmitleid oder die Verzweiflung von ihrem Denken Besitz ergreifen wollten, suchte sie nach Scherzen. Die billigsten waren die besten. Da blieb ihr das Lachen wenigstens nicht im Halse stecken.

Sie hielt seinem mitleidigen Blick tapfer stand. Was nicht leicht war. Sie wusste noch gut, wie er sie das erste Mal angesehen hatte. Gierig. Davon war nicht mehr viel zu spüren. Er wirkte verkrampft, fast ein wenig ängstlich. Das musste er nicht sein.

Er ahnte gar nicht, wie gut sie seine Feigheit nachvollziehen konnte. Er hatte Angst vor dieser Krankheit. Genau wie sie. Sie hatte immer noch eine furchtbare Angst. Anders als alle anderen, die so taten, als wäre das alles nur eine Frage der Zeit, der Therapie, der Einstellung. Das war es nicht. Wer einmal vom Blitz getroffen wurde, vertraut keinem Regenschirm mehr. Sie grinste bemüht burschikos.

«Das weiß ich, Ralf, das weiß ich nur zu gut.»

Hätte sie damals fliehen können, sie wäre bis ans Ende der Welt geflohen und hätte die Krankheit einfach daheim gelassen. Wie einen zu schweren Koffer, den man nicht braucht. Sollte sich doch ein anderer damit abschleppen! Was ging sie das an? Aber nein, es war ihre Krankheit. Ihr verdammter Krebs. Ihr ganz persönlicher. Danke sehr auch! Ihr Krebs! Vor dem sie höllische Angst hatte. Immer noch. Genau wie er. Dafür liebte sie ihn. Nein, dafür liebte sie ihn nicht. Dafür respektierte sie ihn. Er schien ihr ehrlicher als alle anderen, die so taten, als wäre sie gesund, geheilt, auf dem besten Weg zurück ins alte Leben, das es nicht mehr gab. Dafür war er der beste Zeuge. Wann immer er sie ansah, war ein Vorbehalt in seinem Blick zu spüren. Als hätte die hübsche Porzellanpuppe einen Riss. Den Riss gab es. Aber er konnte ihn unmöglich sehen. Das wollte sie ihm beweisen. Es gab nichts mehr zu sehen, was an ihre Krankheit erinnerte. Deswegen würde sie mit ihm schlafen. Vielleicht verschwand dieses verdammte Mitleid dann. Wenn auch nur für einen Moment.

«Und jetzt lass uns bitte nicht mehr darüber reden! Vorbei und vergessen! Wie ist es dir denn so ergangen? Erstickst du nicht langsam am eigenen Erfolg?!»

«Du wirst lachen», er wand sich kokett, «die Geschäfte gehen selbst für einen wie mich nicht mehr so gut. Kosten senken, Kosten senken, Kosten senken. Dass selbst Trash Geld kostet und guter Trash gutes Geld kostet, will den Controllern nicht in ihr kleines Buchhalterhirn.»

Ralf war ein Genie des Billigformats. Mit Gerichtsserien hatte er angefangen, dann Nannys auf Erziehungsreise durch Unterklasse-Gettos geschickt, dann war er in den Zoo gewechselt, Tierpflegerfilmchen drehen, Löwe, Fledermaus und Co., das alles war billig und traf den Nerv der Zuschauer. Ohne Geld auf Ibiza, Kochen mit Promis, das Modell und der Freak. So war sie sich auch immer vorgekommen an seiner Seite. Als Freak. Denn noch harmloser als er konnte man nicht auf andere wirken. Er sah nicht aus wie ein Nerd, im Gegenteil, aber von seinem Charakter her war er ein kleiner Junge, der immer nur das tat, was ihm Spaß machte. Natürlich musste auch was dabei herausspringen. Aber den eiskalten Geschäftsmann ließ er sich nicht anmerken. Das war eindeutig seine Stärke: perfekt inszenierte Naivität.

Die Steaks kamen. Sie mochten sie beide blutig. Das war ihr schon beim ersten Mal aufgefallen, damals waren sie auch hier im Grill Royal gewesen. Freunde hatten ihn dazugeladen, damals, sie wusste gar nicht mehr, warum, irgendein Termin wegen der Berlinale, und sie beide waren die Einzigen gewesen, auf deren Tellern Blutspuren zu sehen waren. «Blue rare! Klingt wie ein Jazzstandard», hatte er gescherzt, als er die angewiderten Blicke der anderen am Tisch sah. Fleisch war schon okay, aber es musste durchgebraten sein.

«Ich versteh nicht, wie man so etwas runterkriegt. Das ist rohes Fleisch von einem lebenden Tier», hatte sich seine damalige Begleitung mokiert. Eine Nachrichtensprecherin aus dem Vormittagsprogramm, die vor allem durch ihr feuchtes Lispeln auffiel. Martina hatte sie danach noch einige Male zufällig im Nachmittagsfernsehen gesehen und sich jedes Mal aufs Neue gewundert, wieso die Sender bevorzugt Nachrichtensprecherinnen mit Sprachfehlern einstellten.

Ansonsten war sie nett und hübsch – und strohdoof.

«Süße, jede Form von Kalorienverbrauch ist Kannibalismus», hatte er nur trocken entgegnet und Martina komplizenhaft zugeblinzelt. «Aber verrate das nicht deinen Zuschauern!»

Natürlich war eine Riesendiskussion über Trennkost, Schonkost, Fleischvermeidungskost entbrannt, eins dieser kommunikativen Strohfeuer, die nur dazu dienten, den Beteiligten kurzzeitig so etwas wie wärmende Aufgeregtheit zu verschaffen. Ernsthaft interessiert war keiner.

Auch Mrs. Daisy, so hatte sie die Nachrichtensprecherin insgeheim getauft, ging es nicht um die armen Tiere, sondern um ihren schönen Teint, den sie auf rein pflanzlicher Basis besser erhalten zu können glaubte. Ab und an ein wenig Koks schien auch nicht zu schaden, dachte sie wohl, denn sie verschwand einige Male, um ihr designerdesigntes Näschen zu pudern.

Martina verkniff sich die Frage, was aus ihr geworden war. Ralf wärmte keine alten Liebschaften auf, das war nicht seine Art. Außerdem, Mrs. Daisys gab es im Fernsehen und beim Film Hunderte, und jede von ihnen hätte ihm liebend gern dabei assistiert, wenn er sein T-Bone-Steak sezierte. Vegetarierin hin oder her.

Das Dessert kam. Er schwieg eine Weile, sah ruhig aus dem Fenster, hinaus auf die Spree, die so dunkel wirkte und ihr immer ein wenig Angst machte, als trieben Selbstmörder darin. Jetzt würde er sie gleich fragen, ob er ihr nach dem Nachtisch noch einen Espresso bei sich zu Hause anbieten könne. Damit wollte er ihr Zeit geben, sich innerlich aufzuwärmen. Kommunikatives Vorspiel. Was gar nicht nötig war. Sie wollte raus hier. Sie wollte zu ihm.

Ralf räusperte sich ein wenig verlegen. So schüchtern kannte sie ihn gar nicht.

«Ich hab gehört, du und dein Vater, ihr seid an dem Klimt-Fall dran?!»

Freitag, 9. März, 7 Uhr
Claasens Wohnung

Die Tage begannen immer gleich. Er wachte auf, starrte an die Decke und wünschte sich einen Hund. Einen kleinen, niedrig gewachsenen Collie, der pflegeleicht war und intelligent, und ihm einen Grund gab, aufzustehen und vor die Tür zu gehen.

Es gab keinen. Es gab keinen Hund. Und es gab keinen Grund aufzustehen. Absolut keinen einzigen verdammten Grund.

Seine Hand ging instinktiv zur Seite. Klopfte auf die Bettdecke neben ihm. Er wollte sich vergewissern, dass da niemand lag. Natürlich wusste er absolut sicher, dass da niemand lag. Seit Jahren schon nicht.

An einem Freitag dem Dreizehnten hatten sie sich getrennt. Das waren so die Scherze, die das Schicksal für ihn parat hielt. Heute war Freitag, heute war nicht der Dreizehnte. Aber er fühlte sich so. Folglich hatte er das gute Recht, sich einfach auf die Seite zu drehen und den Tag zu verschlafen. Obwohl er nicht müde war. Im Gegenteil. Er war hellwach. Wie immer, wenn er an Alina dachte. An die sieben guten Jahre, an die sieben schlechten und an die sieben, von denen er nicht mehr allzu viel erinnerte. Er hatte sich wie ein Vollidiot benommen, damals, aber das war nicht das Problem. Das wussten alle und er selbst wusste es am besten. Das war nicht das Problem. Das Problem war, er wusste nicht warum. Kein Therapeut, kein Freund hatte ihm das je erklären können. Alina hatte ihn oft ganz aufrichtig verwirrt angesehen, weil sie einfach nicht damit klarkam, dass er so leicht von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde wechseln konnte, ohne Vorwarnung, einfach so, schnipp.

Das waren die schlimmsten Momente gewesen. Wenn sie ihm ganz still, ohne Vorwurf, in die Augen sah und sich im Geheimen fragte, warum er ihr beider Leben zur Hölle gemacht hatte. Er wusste es nicht.

Hans im Glück. Alles war gut. Never ending success! Er war einer der besten Reporter des Landes, mehrfach ausgezeichnet, Großverdiener, auch dank einiger Bücher, die er so nebenher geschrieben hatte. Er liebte die schönste Frau der Welt, zählte jeden Morgen ihre Sommersprossen und dankte ihr für die kluge Tochter, die sie ihm geschenkt hatte. Zu klug vielleicht, aber in den ersten Jahren gab es nichts Schöneres, als sich seltsame Antworten auf ihre seltsamen Fragen auszudenken.

Sie wohnten in einer wunderschönen Altbauwohnung in Mitte, dritter Stock, Sonnenseite, in einem Haus, in dem sich die Nachbarn noch kannten. Sie hatten Freunde, gute Freunde, sie besaßen ein Haus auf dem Land, ein kleines, sie hatten alles, aber es war nicht genug.

Es war nicht genug gewesen für sie, es war nicht genug gewesen für ihn. Sie schliefen regelmäßig miteinander, es war keine Pflicht, es war Spaß. Den Spaß, den man hatte, wenn man sich «Manche mögen’s heiß» zum zwanzigsten Mal ansah. Dass sie ihn betrog, merkte er erst spät. Zu spät, dachte er immer, aber das war gar nicht das Problem gewesen.

«Mach da kein Drama draus», hatte sie gesagt.

«Mach da kein Drama draus!»

Er hatte sie geliebt vom ersten Moment an. Sie war die Morgensonne auf dem Friedhof seines Herzens, genau so hatte er sich ausgedrückt, als er sie im Brecht-Keller zutextete mit seiner Liebe, die er sich durch Worte begreiflich machen musste. Unzählige Worte. Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass so ein Glück auf der Welt für ihn zu finden war. Und so ein Unglück, wie er später lernen musste. Dass sie damals nicht davongerannt war, hatte ihn im Nachhinein ziemlich erstaunt.

«Ich hab mich wahnsinnig amüsiert», entgegnete sie immer, wenn er sie darauf ansprach, «und wahnsinnig geschmeichelt gefühlt. Du warst Mr. Big und ich Mrs. Doolittle, aber die Sprechrollen waren genau andersrum an dem Abend. Ich hätte nie gedacht, dass ein Mann sich schon beim ersten Mal so lächerlich machen kann. Aber ehrlich gesagt, anders hättest du mich auch nie rumgekriegt!»

Er war fünfzehn Jahre älter als sie, zwei Wochen nach seinem einundvierzigsten Geburtstag hatte er sie kennengelernt. Ein Seminar für computergestützte Recherche, wie es damals so schön hieß, einer dieser Nebenbei-Jobs, die er besonders gern mitnahm, weil meist noch eine Bettgeschichte mit raussprang. Sein einundvierzigster Geburtstag und er hatte bis dahin keine Beziehung gehabt, die ein Erinnern wert gewesen wäre. Nicht einmal das Scheitern all der Affären war erinnernswert. Nichts, nada, nothing.

Plötzlich stand sie da und er wusste, er wollte ein Kind, ein Zuhause, eine Zukunft. Und als er all das hatte, trat er es mit Füssen. Es war Größenwahn. Er war einfach größenwahnsinnig geworden. Das schöne Gefühl, geliebt zu werden, das ihn anfangs so sacht gewärmt hatte, weil seine Kleingläubigkeit die Flamme nur leicht züngeln ließ, war zum verzehrenden Feuer geworden.

Er wollte ihr die Welt zu Füssen legen, fremde Länder erobern, Ruhm und Reichtum anhäufen, Troja besiegen. Er war durchgeknallt. Die ersten Jahre war das wunderschön. Sie lebten wie im Rausch. Dann war da irgendwann nur noch der Rausch. Sie fand zurück in den Alltag. Er nicht.

Sie bekam ein Kind, ihr Kind, das war von Anfang an klar, es war ihr Kind, nicht ihr gemeinsames, sondern ihr Kind. So empfand er es. Er war plötzlich außen vor. Gerade noch waren sie König und Königin in ihrem ganz eigenen Reich gewesen und plötzlich war da die Prinzessin, die Anspruch auf alles und jeden erhob.

«Was für ein süßes Kind», sagte jeder, «was für eine wunderschöne Mutter», lobten selbst Frauen – und was für ein überflüssiger Vater, dachte er sich, wenn er dem Schauspiel Mutterschaft mal wieder als untätiger Zuschauer beiwohnte.

Er hatte keine Chance. Alinas Verbundenheit mit Martina war Liebe von einer Art, die er nie gekannt hatte, nie kennen würde. Die beiden waren eins. Es war nicht einmal Böswilligkeit, dass er außen vor blieb, es war selbstverständlich. Das sah er genauso.

Er stürzte sich in die Arbeit, schrieb einen Roman, ging auf Lesereise, fing sein altes Leben wieder an, das er so gar nicht vermisst hatte. Er schlief mit Frauen, verabschiedete sie ohne Bedauern, trank gelegentlich zu viel, einfach so aus Spaß, trank täglich zu viel. Niemand sprach ihn darauf an.

«Mach da kein Drama draus», hatte sie gesagt. Es war an einem Dreizehnten gewesen, als sie ihm ihr Geständnis machte, billige Ironie des Schicksals. Ein Arbeitskollege aus ihrer Redaktion, er kannte ihn, ein smarter Vollblutsportler, der jährlich zum Tiroltriathlon antrat und den Rest seiner Freizeit mit seinem I-Pad verbrachte. Einer dieser Idioten, den er ohne Zögern zum Abschuss freigegeben hätte und den er sich jetzt beim Sex mit seiner Frau vorstellen musste. Im Büro, bei ihm zu Hause.

«Auch hier, in unserem Schlafzimmer?»

Ihr Blick verbot ihm, sich weiter in seinem Schmerz zu suhlen. Aber was sonst sollte er tun?

«Er oder ich!» Die Forderung lag ihm damals auf der Zunge, aber er konnte sie nicht ernsthaft stellen. Er hatte Angst. Er oder ich. Das bedeutete: Einer von beiden würde alles verlieren, einer würde alles gewinnen. Der Fifty-fifty-Joker. Die Fratze des Teufels. Er hatte Angst. Er hatte Angst, alles zu verlieren. Martinas Lachen beim Frühstück, wenn er mal wieder eine ihrer Hausaufgaben nicht verstand, Alinas sanftes Streicheln über seinen Hinterkopf, wenn er das Haus verließ, die Wärme des Zusammenseins an Sonntagen, die jeder ganz für sich verbrachte. Er wollte sie nicht verlieren.

«Das war genau das Falsche damals. Dass du so feige warst. Dann dieses Gesaufe, das Rumvögeln. Ich habe mich vor dir geekelt.» Das spürte er selbst, dass er falsch reagiert hatte. Er hätte schreien können, sie vor die Wahl stellen sollen, er hätte ein, zwei Monate das Haus verlassen müssen und dann den Neubeginn wagen können, stattdessen war er geblieben und ihr gemeinsames Leben zerbröselte einfach so.

Martina zuliebe waren sie zusammengeblieben, Gewohnheit war ein Band, Hass, Lust an der Zerstörung. Es war Rosenkrieg. Es war schlimmer als Krieg, denn selbst ein Waffenstillstand war nicht mehr denkbar. Einer von beiden musste dran glauben. So groß die Liebe gewesen war, so groß die Schuld desjenigen, der sie aufs Spiel gesetzt hatte. Das war eindeutig er gewesen. Martina war ganz klar aufseiten Alinas. Seine Freunde waren ganz klar aufseiten Alinas.

Gott und die Welt waren aufseiten Alinas. Nur Jack Daniels war auf seiner Seite. Aber auch nur, solange er genug Kohle hatte.

«Dein verdammtes Selbstmitleid!» Er zog sich die Bettdecke über den Kopf und warf sie dann mit einem Schwung beiseite. Kalte Dusche, bis einundfünfzig zählen, Liegestütze, bis einundfünfzig zählen, Kniebeugen. Er hielt das Sportprogramm aus der Entzugsklinik eisern bei. Er wusste nicht wozu, aber er wusste, er durfte nicht lockerlassen.

Eine Kanne grünen Tee zum Frühstück, dann wahlweise fünf Kilometer im Tiergarten joggen oder eine halbe Stunde Schwimmen. Zeitungslektüre in seinem Stammcafé. Früher wäre das für ihn der ideale Beginn eines Tages gewesen. War es ja auch. Andere beneideten ihn darum. Er beneidete sich auch, für die Zeit damals, die ersten Jahre mit Alina.

Sie verweigerte jeden Kontakt. Das konnte er gut verstehen, aber als er noch soff, hielt er sich natürlich nicht daran. Es fehlte wenig und er hätte vor ihrer Wohnung campiert. Sie lebte allein, das wusste er, sie hatte eine Beziehung, auch das wusste er, nicht den Tiroler Triathleten, das war schon lange aus, nein, irgendeinen Langweiler aus der Rechtsabteilung des Senders, für den sie seit einigen Jahren arbeitete.

Sie war eine gute Redakteurin, sie sah besser aus denn je, sie hatte Erfolg, Freunde, warum sollte sie ihn sehen wollen?

«Warum sollte Mum dich sehen wollen», das hatte Martina auch immer gefragt und natürlich wusste sie, welche Antwort die richtige Antwort gewesen wäre.

«Glaubst du, sie würde dir je glauben, dass du ein anderer geworden bist. Das wird sie dir niemals glauben, Paps. Das wird dir niemand glauben, nie. Ich auch nicht.»

Das meinte sie nicht böse. Das meinte sie einfach nur ehrlich. Martina hatte diesen Willen zur absoluten Ehrlichkeit. Deshalb war sie auch Reporterin geworden, was er ihr immer hatte ausreden wollen.

«Das ist ein Scheißjob, wenn du ihn ernst nimmst, und es ist erst recht ein Scheißjob, wenn du ihn nicht ernst nimmst. Niemand liebt dich dafür, aber alle werden dich hassen!»

Sie hatte nicht auf ihn gehört. Sie hatte es sich geradezu zum Prinzip gemacht, niemals auf ihn zu hören. Sie war eine treue, liebende, perfekte Tochter gewesen in all den Jahren, als er unzurechnungsfähig gewesen war, und auch in der Zeit danach, hatte sie sich regelmäßig um ihn gekümmert. Obwohl kein Anlass mehr zum Mitleid gegeben war. Aus Liebe tat sie es nicht. Sie tat es aus Pflichtgefühl. Sie sah in ihm den Vater, den es zu umsorgen galt, weil er ihr Vater war. Ein Pflicht der Natur, keine Sache des Herzens.

Was seine Arbeit anbelangte – da hielt sie sich ganz und gar fern. «Du machst dein Ding, ich mach meins.»

Immer wieder hatte er ihr vorgeschlagen zusammenzuarbeiten, ein gemeinsames Buch zu schreiben, gemeinsam Reportagen zu recherchieren, was auch immer, Hauptsache gemeinsam. Aber sie wollte es allein schaffen. Zwei Jahre ging sie nach Amerika, dann kam sie zu «Online». Er hatte längst keine Aussicht mehr auf einen neuen Vertrag, aber einfach so ignorieren konnte man seine Empfehlung auch nicht. Es war kein Liebesdienst, sie zu empfehlen, er hätte sie jederzeit angestellt, auch wenn sie die Tochter des Tiroler Triathleten gewesen wäre.

Das sah sein Chef auch so. Kehrtmann war gar nicht so verkehrt. Er hüstelte verlegen über seinen schlechten Kalauer. Jedenfalls hatte er ihrer Einstellung sofort zugestimmt.

Ihre Art zu schreiben war einzigartig. Truman Capote hatte das anfangs gekonnt, als ihn der Suff und der Größenwahn noch nicht in die Knie gezwungen hatten. Fakt und Fiktion verschmelzen. Poesie denken, aber Prosa schreiben. Nüchtern, sachlich näherte sie sich den Themen, aber mit einem so großen Einfühlungsvermögen, dass selbst ein Serienmörder menschliche Züge bekam – wenn sie es nur wollte.

Aber dafür hatte sie einen hohen Preis zahlen müssen. Er war sich sicher, dass ihre Krankheit die Folge ihres Hangs zu kranken Themen war. Bosnische Vergewaltiger, albanische Mädchenhändler, deutsch-italienische Mafiosi, sie ließ ja nichts aus. Kein noch so krankes Thema. Aus Ekel war sie krank geworden. Aber wer wollte ihr das sagen, jetzt, da sie es schon wieder sich und ihm und Gott und der Welt beweisen musste, dass sie die Beste war. Es gab nur eine Chance, sie vor sich selbst zu retten, er musste ihr zuvorkommen. Und diesmal hatte er ein paar mehr Trümpfe in der Hand als gewöhnlich.

₺433,84