Kitabı oku: «Maud und Aud»

Yazı tipi:

Gunstein Bakke

Maud und Aud
verlag die brotsuppe


Gunstein Bakke

Maud und Aud

Ein Roman über Verkehr

aus dem Norwegischen

von Sabine Gisin

verlag die brotsuppe


Inhalt

Maud und Aud

DER AUTOR

DIE ÜBERSETZERIN

Der Autofahrer unterscheidet sich vom Menschen im Naturzustand mehr als dieser von jedem Insekt.

HERMANN KNOFLACHER

Today it may be the writer who drives to the sacrifice – tomorrow it may be the reader.

STEPHEN BLACK | Man and Motor Cars

LEISE IN DEN FÜNFTEN GANG: Das Motorbrummen wird ruhiger, der fossile Treibstoff brennt auf Sparflamme, 100, näher an nichts geht nicht.

Während die Stadt näherkommt, wächst die Straße und wird breiter. Bei kaum nennenswertem Verkehr kann das Auto sich frei auf dem Asphaltband bewegen, das sich über die Landschaft strafft, in sie hineinschneidet, als quellte die Erde über ihren Leibgurt hinaus. Früher am Abend sind Autos in nicht allzu argen Fluten in die Stadt hineingefahren und aus ihr hinaus; jetzt müssen nur noch wenige irgendwohin. Jetzt hat fast niemand mehr irgendwo zu sein. Die ganze Verkehrsüberwachung ist, mit Ausnahme der düsteren Umrisse der da und dort stationierten Blitzgeräte – wo rote Pupillen plötzlich aufflackern können –, eingestellt.

Es hat eingedunkelt, es ist dunkel geworden. Doch die Dunkelheit verfügt, näher in Augenschein genommen, über Abstufungen – in Augenschein genommen ist die Dunkelheit gar nicht so dunkel. Die Tannenwipfel formen eine Zackenborde gegen den fast blauen, nein blauschwarzen Nachthimmel. Unter der Vegetation wirkt es, als stünden die kalkbleichen Böschungen noch im Schatten einer anderen Zeit. Mit der es diese Zeit mit ihren wechselnden, hektischen Lichtverhältnissen nicht aufnehmen kann.

Das Auto gleitet über das Band, durch das Land.

Das stetige Brummen lässt an Schlaf denken, an andere Motoren, Kühlschränke und stille Stunden, unbekannte Stunden. Ein solches Geräusch wird mit der Zeit vergessen, verschwindet es aber, wie etwa ein Tuch wegflattern kann, öffnet es eine andere, größere Stille.

Soll es sich nicht bemerkbar machen, muss das Brummen stetig sein und klingen, wie es immer klingt; das stetige Brummen soll den Innenraum füllen, durch das Rückgrat vibrieren und sich in einem Dunkel aus weichem Gewebe auflösen. Dann wirkt es ebenso natürlich wie der Atem, ja, beinahe an ihn gekoppelt, der aus diesem anderen, inneren Dunkel ein- und ausströmt, das man auch nicht betrachten kann, ohne dass es sich auflöste. Zwischen diesen Dunkeln, beide ein wenig feucht, liegt eine trockene Zone, das dem Auto eigene Klima.

Eine Stunde ist vergangen, seit das Auto startete, die Bedingungen fürs Vorankommen haben sich unterwegs verbessert. In den ersten, flackernden Minuten fegte einzig ein Lichtkegel über den Kiesweg, während die Karosserie rüttelte; ab und zu schnellten unten Steine auf, ein Geräusch, als würde jemand mitten in der Nacht von einem wilden Gedanken geweckt. Der Lichtkegel manövrierte durch die größten Löcher in der Fahrbahn, hielt aber an für einen Elch, der, einem historischen Einsprengsel gleich, stehenblieb, ein altes, hier in den Wäldern umherflackerndes Bild, bevor er langsam näherkam und an der Motorhaube schnupperte; ein großer grauer Kopf, graues Licht in den Augen. Eine andere Organisation der Welt. Ein Raumschiff.

Auch das Auto gehört, für das Tier, zu einer anderen Ordnung. Es bedeutet eine Gefahr, die das genetische System, die übergeordnete Intelligenz der Spezies, noch nicht erfolgreich hat registrieren oder einprogrammieren können.

Wer lernt, stirbt. Wer überlebt, hat nicht verstanden.

Eine Unruhe, ein Umherwerfen im Schlaf.

Dann ist alles wie zuvor.

Danach riss sich die Straße zusammen, zog einen Asphaltmantel über, verdeckte ihre gröbsten Gebrechen, wollte quasi raus unter die Leute. Schon bald werden unter dem Nachthimmel Häusergruppen sichtbar, zu kleinen Mustern geordnet, auf Hügelkuppen, an Böschungen und Südseiten drapiert. Je näher an der Stadt, desto größer sind diese Konglomerate, als bereitete sich die Stadt vor, bliese sich auf. Und drinnen, in farblich abgestimmten Zwei- und Vierpersonenheimen in kurzen Straßen benannt nach Blumen und Bäumen, die zwischen den Häusern und in den dahinterliegenden Wäldern in jedem wundersamen Frühling blühen und schwellende Knospen treiben, in diesen Häusern gibt es stabile, vernünftige Räume mit Funktionen und Lösungen, die Leben nach den Vorgaben ihrer Bewohner und deren Beschaffenheit ermöglichen. Jedes Bedürfnis, jede Funktion hat einen eigenen Raum, das ist praktisch und hygienisch; Wasser und Abläufe bauen den Wirtsorganismus aus, Sensoren erweitern die Anwesenheit. Lichter schalten sich ein, Herdplatten schalten sich aus. Die Temperatur sinkt in der Nacht um fünf Grad. Dein Heim ist nüchtern und auf dein Leben abgestimmt.

Von allen Räumen hat nur das Auto einen eigenen Raum, einen Carport.

Der Autoraum sammelt, was das Haus zerteilt. Das Auto bietet dem Körper einen Weg aus dem Körper. Das Auto ist sowohl eine Atmosphäre als auch ein Fahrzeug, das sich darin bewegen kann.

Steig in mich ein, sagt das Auto.

Reise in mir.

Von oben gesehen kann man diese Ansiedlung als irdisches, etwas eckiges Sternzeichen begreifen (Krabbe, Kratzspuren, Swastika). Aber aus dem Innern der Räume sieht die Welt anders aus, von hier aus ist die Stadt auch nicht die zunehmende Lichtkonzentration, an dessen äußerstem Rand dieses Zeichen liegt. Nein, von hier aus ist die Stadt kein Sternhaufen, sondern ein bestimmter Abstand, eine praktische Größe, eine Frage von Verkehr und Zeit. Eine halbe Stunde hin und her, hin oder her, an einem oft nur mit Mühe in vierundzwanzig Stunden unterzubringenden Tag. Hier leben die Leute ihre Leben, hier runden sie ihren Tag ab, längst schläft auch die Größte, aber vielleicht ist die Kleinste wieder aufgewacht und schaut aus dem oberen Stockbett durchs Fenster, von dort sieht sie das Auto auf der großen Straße, das vorbeifahrende Scheinwerferpaar, leuchtend und doch leerer als der Abend rundum, sozusagen eingesperrt im eigenen Licht?

Farbe und Automarke schreibt sie nicht mehr auf. Das war im letzten Sommer, jetzt ist sie zu alt und zu dieser Tageszeit wäre es sowieso unmöglich. Etwas verschiebt sich in den Eltern, wenn die Kinder ihre Gewohnheiten ändern.

Das Auto schert über die Straße, die sich verzweigt und das Auto seitlich weggeleitet. Es landet auf einem offenen, öden, in weißes Licht getauchten Platz, hält an bei vier Tanks à 20.000 Liter Treibstoff, hinaufgesaugt vom Meeresboden, draußen im offenen Meer aus nach altnordischen Göttern benannten Feldern; messerfrische, steintote Götter, Eintagsfliegengötter, wie die Jugendlichen, die man auf anderen, bemannten Stationen findet; in Dienst genommen auf einem Reservoir von Millionen Jahren, organisches Material, von der Zeit zu diesem Fluidum verarbeitet, das jetzt, raffiniert und prozessiert, ein letztes Mal unter der Asphaltkruste hervorgepumpt wird, an einer Tanksäule am Rande von Oslo, in ein Auto, das diese Zufuhr braucht, um kehrtmachen und dorthin zurückfahren zu können, wo es herkam. Ein schwarzer Mercedes.

Jetzt mit vollem Tank.

Der Motor kann wieder starten.

Dann ist es derselbe ruhige Brand.

ES IST EINE FRISCH GEWALZTE ASPHALTSTRASSE, genauer gesagt: Es ist ein frisch gewalzter Asphaltstreifen, der die halbe Straße ausmacht. Die andere Hälfte ist alt und grau und liegt einige Zentimeter tiefer im Gelände, darauf fahren die Autos in kleinen Kolonnen vorbei, die sich zuvor hinter den transportablen und provisorischen Ampeln als Schlangen gebildet haben.

Die Straßenarbeiter sind heimgefahren, der Asphalt ist neu und dunstet. Die fette Masse ist immer noch warm unter den Fußsohlen des Mädchens, das hinaus auf das schwarze Band gegangen ist und nun leichte Spuren hinterlässt. Bei jedem Schritt zirpt es, wenn der klebrige Stoff nachgibt und festhält, nachgibt und festhält. Es erinnert sie ans Mandelkuchenessen. Sie hat Lust, die Straße zu essen.

Als sie sich hinlegt und einen Engel machen will, wird die Kontaktfläche zu groß. Die Oberfläche nimmt den Abdruck ihres Körpers nicht an und die Armbewegungen – die Flügelschläge – haben zu wenig Bodenhaftung. Erst als sie wieder aufsteht, entsteht eine kleine Kuhle unter dem Hintern. Und zwischen Fäden und Streifen des dünnen Stoffs, die vom Rücken des Kleids abgerissen sind, lässt sich, wenn man nachsieht, erahnen, dass der neuen Straße ihr erster Unfall geschehen ist, und dass der Asphalt auch das Blumenmuster angenommen hat.

RUTH MERETE BORE IST TOT, steht da.

Sollte es wirklich Anzeige heißen, Todesanzeige. Ist dieses Wort nicht etwas abgenutzt, denkt einer.

Ruth Bore, Ruth Bore. Die schüchterne Brünette aus der Kantinenschlange, denkt ein anderer und sieht dabei einen dünnen, grauen Wollpulli, Brille; einen leicht über den Wasserhahn gebeugten Rücken, vorsichtig mit dem Strahl. Ganz im Gegenteil, Korrektur: Hart schlägt das Wasser ins Glas. Winzig kleine Tropfen hängen wie Tau in den Wollfäden.

Das ist der Unfall, von dem ich gehört habe, denkt eine mit einem Anflug von Heiterkeit, den sie nicht unterdrücken kann, der daher rührt, etwas zu wissen, das erst jetzt an andere verbreitet wird.

Jemand erinnert eine Nacht mit zwei Körpern, die nebeneinander lagen, zwei nackten Körpern, die die Wärme des anderen spürten, ohne sich wirklich nahezukommen, und jetzt, wo er das Kreuz über Ruths Namen sieht, spürt er wieder das ungebrochene Siegel und die Gewissheit jener Nacht:

Das ist nicht das Leben, das ich leben will.

Ach, das ist doch die, die jeden Samstag eine Tüte Twist kauft, welchen Tag haben wir heute?

Seinen Namen hat sie nicht angenommen. Immer hat sie etwas zurückbehalten.

Sie, die gemessen hat, um wie viel der Meeresboden unter den Plattformen absank.

Fünfter Stock, Nordflügel, dritte Tür links. Blaue Landkarte. Grüner Spannteppich. Zentimeter pro Jahr.

Ausgerechnet sie, die nach Dänemark unterwegs waren, ein schrecklicher Gedanke, als wäre das das Schlimmste, die geplatzte Ferienreise. Aber die Mädchen hatten sich so gefreut. Die ersten Familienautoferien, sagte Jon.

Mit ihr habe ich gespielt, Ruth, so hieß sie doch, zwei oder drei Sommer lang, die Sommersprossen und die Zöpfe, das einbrechende morsche Holz, die Stille während des Falls, und dann, da musste ich gerade wieder erwacht sein, die Kälte am Rücken, fauliger Geruch und Feuchtigkeit, ihre verängstigte, in ihr eigenes Echo verfangene Stimme, dort, weit oben … Ruth … oder hieß sie Kristine?

Das ist doch die bei Phillips Petroleum, die zurückhaltende Geologin, aber was für ein Temperament sie hatte, damals, wie war das nochmal, diese Sitzung, jedenfalls stand sie auf, knallrot im Gesicht, es ging um einen Bericht, den man bei der Entscheidung nicht berücksichtigt hatte, sie fühlte sich übergangen, irgendetwas war da.

Ich holte deinen Körper aus dem Wrack, ich kannte dich nicht, aber ich legte dich auf den Boden und sammelte dich ein. Ich half, deine Töchter freizubekommen, und ich hoffe, sie erleben eines Tages etwas, das so gut ist, wie das hier schlecht. So richtig, wie das hier falsch.

An ihr blieb kein Spitzname hängen, sie konnte nur Ruth sein. War für weichere Namen quasi zu steif.

Der Mann und die Töchter liegen im Spital, hängen an dünnen Lebensfäden, an dünnen Todesfäden. Manche reißen und manche werden gezwirbelt. Alle Fäden sind schwarz.

Ist das nicht der Mann, den ich letztes Jahr in der Zeitung gesehen habe, der gerade fertiggestellte Straßenabschnitt. Jon, doch, doch.

Sie war ganz sicher noch nicht durch. Niemand kennt die Stunde, das stimmt. Aber ihre Zeit war noch nicht gekommen.

So jung, 1981 minus 1949, aber ich muss aufhören, solche Sachen zu lesen, aufhören, diese Seiten aufzuschlagen und aufhören, wegen Menschen, die ich nie gekannt habe, feuchte Augen zu bekommen. Das ist unwürdig.

Er hat es offenbar geschafft, vorläufig jedenfalls, wer sagte nochmal, das sei unwahrscheinlich? Fuhr direkt von der Straße ab, direkt in den Fels. Und die Töchter, die Zwillinge, was für ein Leben erwartet die jetzt?

Bore. Kannte ich nicht mal einen, der so hieß? Der eine Importfirma in Lillestrøm hatte? Dem ein Drittel des Trabers Slogum Tor gehörte? Etwas nervöser Typ. Große Hände. Seltsam, wie gut man sich an manche erinnert. Habe ihn einmal getroffen. Hätte ihn immer wiedererkannt, überall.

Entrissen, so etwas können die gut schreiben, doch Abschied braucht Zeit. Man muss sich an die Gedanken gewöhnen, die keine Antwort bekommen, warten, bis der Mangel sie zersetzt.

Die vom Volleyballtraining, so nah am Netz und nie darin. Der Blick von der anderen Seite, der mich nie zu sehen schien. Als wäre das Netz wirklich eine Grenze. Gut im Blocken.

Ich schäle mich.

Ich schäle mich frei von den Wagen

Werfe Schale um Schale von mir,

Wagen um Wagen.

Merke, indem ich mich schäle,

werfe ich von mir auch Fleisch und Blut.

Werfe viel Menschliches von mir.

Der Mensch und seine Wagen folgen einander.

Oft stirbt er in seiner Rüstung.

Oft erinnert man ihn

nur, wie er in seiner Rüstung war

mit dem Wagen rundum.

HARRY MARTINSON | Der Wagen

DIE STRASSE WÄCHST, DIE STRASSE WEITET SICH und geht dabei in die Kurve, Jon Berre atmet: Der Atem ist in ihm, der Atem ist ein Körper im Körper, der Atem atmet. Jon Berre öffnet die Augen und starrt auf den Felsen, durch Glas, aber dort, im Scheibenglas, hängen Ruths Augen, in der Brille. Im Glas im Glas. Sie schaut auf denselben Felsen wie er, er sucht ihren Blick, sie kann den seinen nicht suchen. Der Stein ist hermetisch, grauweiß, knotig. Die Frontscheibe und die Brille wollen der Straße dahin folgen, wo sie sich weitet, da wird die Sicht versperrt und die Straße kippt. Glas splittert. Das Blut zirkuliert außerhalb des Körpers. Jemand schreit, grübelnd, quasi so, als wollte er sich selbst an das Schreien erinnern. Nein, wie ein Kind schreit, wenn es nicht mehr weiß, was es sonst tun kann, wenn der Schmerz abgeklungen ist. Das Blut schlängelt achtlos dahin und ist aus ihm hinausgewachsen, deutlich sieht er die Arterien, unter denen er wie eine Ausbeulung hängt. Eine Hand streckt sich aus seinem Bauch und hält etwas Davongleitendes; es schlägt mit einer Schwanzflosse, als es verschwindet. Er kann vermutlich sehen und hören, wagt aber nicht mehr, sicher zu sein und zwingt die Augen, die Augen zu öffnen, die Ohren, die Ohren zu öffnen: Das Zimmer, in dem er liegt, löst sich auf und ein anderes erscheint, auch hier liegt er, aber der eintönige Schrei kommt aus einem anderen Raum. Er öffnet den Mund, schreit und hört nichts. Vielleicht hat er gar nichts geöffnet und hat das gehört. Dass er nicht an denselben Stellen anfängt und aufhört wie früher, versteht sich, ein äußerer Kreislauf hat sich an seinen gekoppelt, mit all diesem Blut, Plasmadepot in Plastikdämmen, Ruths Blick sitzt in jeder Glasscherbe und fixiert weiterhin den Stein. Die Scherben zirkulieren mit dem Blut, leiten ihren Blick durch ihn. Das Blut fühlt sich hart an, als wäre es dabei, sich in einem gesprengten Adernetz festzufahren. Immer wieder will er das Steuer an sich und die Schläuche, die ihm den scharfen Saft einführen, wegreißen, bekommt sie aber nicht zu fassen. Sie geben ihm eine weitere Spritze und sagen, er müsse zu seinem eigenen Besten Bettruhe halten. Ohne dieses Außerkörperliche könne er jetzt keinesfalls sein.

AUD UND MAUD SITZEN AUF DER RÜCKBANK, als der Betriebschef die Kontrolle verliert, als die Familie aus dem Alltag und von der Fahrbahn gerissen wird und eine unter ihnen, Ruth Bore, von einer Sekunde auf die nächste fertig ist mit allem, was sie ausgemacht hat. Der Fels tat nichts dafür oder zuwider, der Fels stand, wo er stand, und stoppte das schnelle Fleisch, das umherirrende Fleisch, stoppte die Reise des kühnen Fleischs, und von allem, was Ruth gewesen war, blieb fast nur das Gesicht intakt, eine Scheibe, zitternd auf einer beweglichen Schicht aus Fleischfladen und Splittern, mit halboffenem Mund, als hätte sie sich etwas allzu Unbekanntem und Plötzlichem vorstellen wollen. Zu schwarz, um zu sein. Zu hart.

Etwa fünf Minuten davor, aber schon tief in einer anderen Zeit, sehen die Mädchen ihre lebende Mutter zum letzten Mal, dieses Gesicht, das ihre lebende Mutter ist. Fünf Minuten in einer anderen Zeit dreht sich die Mutter zu ihnen um, das Gesicht hat kaum Platz für sich selbst, der Mund ist verzogen, als sie ihn öffnet und etwas sagt, die Brille ein wenig auf der Nase verrutscht, sie muss mit einer Hand danach greifen und sie richten. Es sind diese Bewegungen, dieser Ausdruck, die es in die neue Zeit schaffen, nachdem sich das Wenige, das sie sagen wollte, aufgelöst hat oder einfach registriert wurde, so, wie man einen Druck von einer atm registriert, die Luft, die man atmet, das ganz Gewöhnliche. Die Bedingungen für das Leben, wie wir es kennen.

Der Vater darf sich nur mit kleinstmöglichem Spielraum und auf einem Bein weiter durchs Leben schleppen. Und doch ist da, in alldem, ein Wunder geschehen, hören sie;

das Wunder ist, dass es ihnen gelang, aus der zerdrückten Metallplatte, dem geschmolzenen Plastik, dem Geruch nach verbranntem Fleisch und Gummi zwei ziemlich zusammenhängende, zu hundert Prozent lebende Mädchen auszusortieren. Eine der Lebenden ist Aud, hundert Prozent ist viel, versteht sie. Sie ist, trotz der Brüche, immer noch ein Mädchen; die Arme wachsen immer noch aus den Schultern, die Beine beginnen immer noch an den Hüften, obwohl sie einige Schrauben und Schienen einsetzten, die ihr helfen sollen, zu der zusammenzuwachsen, die sie war, und dann zu der, die sie werden sollte. Täglich wird sie justiert und gepflegt und protokolliert, ihr Blut wird getestet. Ab und zu testen sie auch Mauds Blut, um zu sehen, ob es noch gleich ist.

Vom Kopf hat sie Aussicht auf all das. Nur den tiefen Riss in der rechten Gesichtshälfte, von der Schläfe bis zum Mundwinkel, kann sie nicht sehen, aber das Pochen in der Backe kann sie spüren, wie das Blut auf Hochtouren arbeitet, kann sie spüren, und wie sich die Finger danach sehnen, am Schorf zu pulen, der sich unter dem Verband bildet, das kann sie auch spüren. In den Fingern sitzen schon sieben Sommer, Schorfsommer, Hülsensommer, Grassommer in Grün und Rot. Sieben Pul- und Ablösesommer.

Maud hat keinen Riss im Gesicht. Maud hat nur ein wenig Kopfweh und sonst keine Verletzungen. Maud sieht immer noch aus wie sie selbst, außerdem sieht sie aus wie Aud, so, wie Aud früher aussah, es jetzt aber nicht mehr tut.

Ihr Gesicht ist jetzt bei Maud. Ihrer beider Gesicht.

Wenn Aud mit den Fingern über den Verband fährt, kratzt sich Maud an der gleichen Wange, das hilft. Wenn sich Maud mit dem Rücken an die Heizung vor dem Fenster stellt, spürt auch Aud, wie die Haut unter dem dünnen Stoff zu schmerzen beginnt und rutscht im Bett zur Seite.

Aber wenn Maud vor dem Spiegel beim Waschbecken steht, schließt Aud die Augen.

Die Erwachsenen wissen auch nicht recht, was sie sehen, und brauchen den Blick auf neue Art. Hjalmar und Karry machen das, die Lehrer, die Aud besuchen, machen es, nicht nur, weil sie anders aussieht, sondern weil die Mädchen etwas sind, was sie noch nie gewesen sind, nicht so. Zuvor haben sie gelebt, jetzt haben sie überlebt. Jetzt sind sie, auf einmal, am Leben.

Im Fernseher auf dem Fernsehtisch winken zwei Frischverheiratete Aud und Maud zu. Es sind Tscharls und Dai-Änna, Prinz und Prinzessin von Oeïls, oder heißt es Weïls? Sie lächeln und winken, lächeln und winken, aus einem Auto ohne Dach. Und es ist kaum zu fassen, wie langsam sich dieses Auto bewegt. Man kann sich fragen, wozu man ein Auto braucht, wenn es kein Dach hat und so langsam fahren muss. Viele Leute umringen es, wollen schauen, drängen heran. Maud und Aud rücken im Bett näher zusammen. Das Auto schützt wohl ein wenig vor all diesen Leuten. Es schleicht vorwärts, fast als wäre es kein richtiges Auto. Beschleunigte es nur ein bisschen, würden die Leute vielleicht vornüberkippen und darüberkugeln.

Doch das Auto gleitet durch die Menge, die Frischvermählten lächeln im Fernsehen und auf tausenden Filmrollen, sie fahren in die Linsen, ins Zuhause, in die Pupillen. Fahren in die Körper.

Es ist ein Wunder, ein wahres Wunder. Dieses so schüchterne Mädchen, das in einem Kindergarten gearbeitet hat. Da kommt sie jetzt. Sieh, wie sie leuchtet. So keusch, so eingeweiht und doch so unerfahren. Mit dem Göttinnennamen, der den großen Sprung erleichtern wird. Der Nachname, bereit sich zu öffnen und zu lösen, eine aus-gediente Hülle. Spencer. Jetzt kann er loslassen.

Frisch und ausgewachsen sitzt die Prinzessin dort, voller Vertrauen ins Unbekannte; sorglos gegenüber allem, was ihr von nun an entgegenkommt, mit nie gekannter Wucht.

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