Kitabı oku: «Der Schoppenfetzer und das Maulaff-Mysterium»
Günter Huth
Der Schoppenfetzer
und das Maulaff-Mysterium
Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben. Von Beruf ist er Rechtspfleger (Fachjurist). Günter Huth ist verheiratet und hat drei Kinder. Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich. Außerdem hat er bisher Hunderte Kurzerzählungen veröffentlicht. In den letzten Jahren hat sich Günter Huth vermehrt dem Genre „Krimi“ zugewandt und bereits einige Kriminalerzählungen veröffentlicht. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburger Regionalkrimi. „Der Schoppenfetzer“ war geboren. 2013 erschien sein Thriller „Blutiger Spessart“, mit dem er eine weitere Reihe eröffnete, die eine neue Facette seines Schaffens als Kriminalautor zeigt. Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung Das Syndikat.
Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und rein zufällig.
Günter Huth
Der Schoppenfetzer
und das Maulaff-
Mysterium
Der vierzehnte Fall des Würzburger
Weingenießers Erich Rottmann
Buchverlag
Peter Hellmund
im Echter Verlag
Günter Huth
Der Schoppenfetzer und das Maulaff-Mysterium
© Echter Verlag, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Gestaltet von Peter Hellmund
Gedruckt und gebunden von Pressel, Remshalden
Portraitfoto von Rico Neitzel - Büro 71a, Würzburg
Zweite Auflage 2018
ISBN 978-3-429-05346-8 (Print)
ISBN 978-3-429-05006-1 (PDF)
ISBN 978-3-429-06417-4 (ePub)
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Würzburg 1945
Würzburg, am Abend des 16. März 1945
Heinrich Schneider, der für die Maulhardgasse zuständige Blockwart, öffnete mit zitternder Hand die schmale Tür im Flur, die in die Besenkammer seiner Parterrewohnung führte. Drei auf seinen Rücken gerichtete Maschinenpistolenläufe trieben ihm kalten Angstschweiß auf die Stirn. Die unter ihren Stahlhelmen kalt hervorblickenden Augen der drei Soldaten und die Waffen in ihren Händen ließen keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit aufkommen. Es handelte sich um ein Kommando der gefürchteten „Kettenhunde“ – Mitglieder der Feldgendarmerie, die über der Uniform eine Kette um den Hals trugen, an der ein Metallschild mit der Prägung „Feldgendarmerie“ befestigt war. Die Gendarmen waren von den Soldaten gefürchtet und gehasst.
An der hinteren Wand der Kammer stand ein Blechspind. Der Führer des Feldgendarmeriekommandos, ein junger, groß gewachsener Hauptfeldwebel, verpasste Heinrich Schneider mit dem Ellbogen einen harten Stoß in den Rücken, der ihn nach vorn taumeln ließ.
„Los! Mach voran!“ Er war sichtlich nervös. Draußen hörte man das Heulen der Sirenen, die seit geraumer Zeit allgemeine Luftwarnung signalisierten. Eigentlich wäre es jetzt Heinrich Schneiders Aufgabe gewesen, mit Hilfe der ihm unterstellten Blockhelfer dafür zu sorgen, dass sich die Volksgenossen in die Luftschutzkeller begaben. Stattdessen waren vor wenigen Minuten die drei Feldgendarmen überfallartig in seine Wohnung eingedrungen. Sie konfrontierten ihn mit dem Vorwurf, einem Fahnenflüchtigen Unterschlupf zu gewähren. Seinen verzweifelten Versuch, sich unwissend zu zeigen, unterband der Unteroffizier sofort mit einem harten Schlag des Klappkolbens der Maschinenpistole in die Nieren, der ihm abrupt die Luft raubte.
„Du weißt, dass auf Wehrkraftzersetzung die Todesstrafe steht“, machte ihm der Hauptfeldwebel klar. „Falls du jetzt keine Zicken machst, lässt dich das Standgericht vielleicht mit ‚lebenslänglich‘ davonkommen.“ Die rote Narbe, die über einen Teil seiner linken Wange lief, gab seinem Gesicht etwas Fratzenhaftes.
Heinrich Schneider war kein tapferer Mensch. Ihm war klar, dass ihm diese Soldaten so lange zusetzen würden, bis er einknickte. Er wusste, dass er nicht fähig war, schwere Schmerzen zu ertragen. Innerlich bat er seinen Bruder um Verzeihung, dann hatte er die drei zu der Abstellkammer geführt. Hastig räumte er einen Besen und einen Zinkeimer zur Seite, damit er die Tür des Blechschranks öffnen konnte. Als das Heulen der allgemeinen Luftwarnung verstummte, hielt er inne. Eine bedrohliche Stille lastete über der Szene.
20.07 Uhr
„Weitermachen!“, trieb ihn der Soldat an. Da begannen die Sirenen erneut. Es ertönte ein kurzer Alarmstoß mit nachfolgenden zweimaligen Dauertönen. Fliegeralarm! Das bedeutete eine Verschärfung der allgemeinen Gefahrenlage! Es mussten feindliche Bomber in einen Radius von hundert Kilometer rund um Würzburg eingedrungen sein. Mit der Folge, dass der Gauleiter für die Bevölkerung Vollalarm angeordnet hatte. Für die gesamte Zivilbevölkerung bedeutete dies, sich umgehend in die Luftschutzbunker zu begeben.
Die drei Feldgendarmen sahen sich beunruhigt an.
„Verdammt, mach voran!“, schrie der Hauptfeldwebel und gab Heinrich Schneider neuerlich einen Stoß. Die Männer wollten ihren Auftrag möglichst schnell hinter sich bringen.
Mit flatternden Fingern öffnete Schneider die Tür des unverschlossenen Spinds. Auf den ersten Blick sah man mehrere Fächer, in denen allerlei Utensilien lagerten. Schnell warf er die Gegenstände heraus und entfernte die nur lose aufliegenden Fachböden. Mit den Fingerknöcheln klopfte er in einem bestimmten Rhythmus gegen die metallene Rückwand.
„Michael, hör mir jetzt gut zu“, sagte Oskar Schneider mit drängender Stimme. Im Schein mehrerer Kerzen kniete er vor seinem achtjährigen Sohn und hielt das Gesicht seines Kindes in beiden Händen. „Onkel Heinrich hat ein anderes Klopfzeichen gegeben als sonst. Das bedeutet, dass draußen wahrscheinlich Soldaten stehen, um mich mitzunehmen.“
Der blonde Junge sah seinen Vater mit großen Augen an. Er spürte die Angst seines Vaters und sie übertrug sich auf ihn.
„Papa …“ sagte er leise, aber sein Vater unterbrach ihn.
„Sie werden dir sicher nichts tun. Pass auf, ich stecke dir diese Zeichnung in deinen Mantel.“ Er hielt ein gefaltetes Blatt Packpapier in die Höhe und zeigte es seinem Jungen, dann steckte er es ihm in die Manteltasche. „Sprich zu niemandem darüber. Gib es nicht aus der Hand. Wenn du einmal größer bist, wird dir der Inhalt hoffentlich helfen …“ Seine Stimme versagte. Er nahm seinen Sohn in die Arme und drückte ihn fest. „Vergiss nicht, dass dich dein Papa ganz lieb hat.“
Entschlossen fasste er dann den Jungen bei der Hand und stieg mit ihm eine steile Steintreppe hinauf. Er klopfte gegen die Rückwand des Spinds, der hier den Weg verstellte.
Heinrich Schneider hörte das kurze Klopfzeichen, welches etwas später seinem Klopfen antwortete, und senkte verzweifelt den Kopf. Gott möge mir verzeihen, dachte er kurz, während sich die Soldaten an seiner Seite bereit machten. Es gab ein kratzendes Geräusch, als die Rückwand des Spinds von hinten mit einem Ruck entfernt wurde. Die bleichen, ängstlichen Gesichter eines mittelalten Mannes in Zivilkleidung und eines Jungen blickten ihnen entgegen. Sie standen auf dem obersten Absatz einer schmalen Steintreppe, die von hier hinunter in den historischen Weinkeller der Weinstube Maulaffenbäck führte, die im Nachbarhaus untergebracht war – eine Verbindung, die noch aus den Ursprüngen der Weinstube stammte. Damals war das Nachbargebäude, in dem Heinrich Schneider wohnte, mit dem Maulaffenbäck zusammengebaut.
In der Tiefe hinter dem fahnenflüchtigen Vater und seinem Sohn war der flackernde Schein mehrerer Kerzen zu erkennen. Hinter aufgestapelten Weinkisten war ein abgeschotteter Bereich eingerichtet, der ihnen als Zufluchtsstätte diente. Der Sachverhalt war eindeutig.
Heinrich Schneider sah seinen jüngeren Bruder Oskar um Verzeihung flehend an. Oskars Frau war vor einigen Wochen auf dem Land beim Eintauschen von Lebensmitteln in einen feindlichen Tieffliegerangriff geraten und dabei ums Leben gekommen. Heinrich hatte daraufhin seinen Neffen bei sich aufgenommen. Er selbst war unverheiratet und kinderlos. Als sein Bruder Oskar die Nachricht vom Tod seiner Frau erhielt, setzte er sich umgehend von der Truppe ab. Für ihn zählte jetzt nur noch sein Kind. Oskar wusste, dass sein Bruder Heinrich mit der Sorge um den Jungen überfordert war. Es hatte einiger heißer Diskussionen bedurft, ehe Heinrich bereit war, seinem desertierten Bruder und seinem Sohn in diesem Keller Unterschlupf zu gewähren. Für ein Parteimitglied der NSDAP eigentlich ein unvorstellbarer Vorgang. Er wusste, was sie dabei riskierten. Das Weinlokal war schon seit Wochen geschlossen, der Keller unbenutzt.
Der Hauptfeldwebel packte Heinrich Schneider am Jackenkragen und zerrte ihn ein Stück zurück, wo er stolpernd von einem der anderen Soldaten aufgefangen wurde. Ratschend schlossen sich Handschellen um seine Handgelenke. Er setzte sich nicht zur Wehr, da er wusste, dass es keinen Zweck gehabt hätte.
Als Oskar Schneider die Szene vor dem Spind erfasste, nickte er nur, dann schob er seinen Sohn schützend hinter sich.
Der Hauptfeldwebel verlor keine Zeit. „Gefreiter Oskar Schneider, ich verhafte dich wegen Fahnenfluchts! Los, du verdammtes Kameradenschwein! Mach, dass du rauskommst!“ Er musste brüllen, um den Lärm der Sirenen zu übertönen. Hart packte er den Mann an der Hemdbrust. Mit brutaler Gewalt zerrte ihn der „Kettenhund“ durch den Spind nach vorn. Haltlos stürzte er, einen heiseren Schrei ausstoßend, auf den Boden des Flurs, wo sich einer der Soldaten auf ihn stürzte und sich auf seinen Rücken kniete. Michael sah dem Geschehen mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen zu. Plötzlich stieß er einen spitzen Schrei aus, dann sprang er aus dem Spind und stürzte sich auf den Soldaten, der seinen Vater festhielt.
„Zurück mit dir!“, knurrte der Hauptfeldwebel, packte ihn am Arm und riss ihn zurück. „Dein Sohn hat mehr Mumm als du, du verdammtes Kameradenschwein!“
„Bitte, lasst meinen Jungen gehen!“, bat Oskar Schneider verzweifelt.
„Halt dein Maul“, schrie ihn der auf ihn kniende Soldat an und schlug ihm mit dem Griff der Maschinenpistole gegen den Schädel. Sofort lief Blut über sein Gesicht. Dann ließ er die Handschellen klicken.
„Papa! Papa!“, jammerte das Kind und trat in Richtung der Beine des Feldgendarmen, ohne sie jedoch zu treffen.
„Wir müssen los!“, befahl der Hauptfeldwebel und gab seinen Männern einen Wink. „Den Jungen nehmen wir mit. Soll sich die Kommandantur um ihn kümmern.“
Die beiden Gefangenen wurden auf die Füße gezerrt und mit vorgehaltenen Waffen zur Wohnungstür gestoßen. Einer der Soldaten hielt Michael am Arm fest, der sich mittlerweile weinend in sein Schicksal gefügt hatte. Wie versteinert ließ er sich willenlos vorwärtsschubsen.
20.12 Uhr
Auf der Straße hörte man das tiefe Brummen vieler feindlicher Flugzeuge. Überall am Himmel schwebten von Aufklärungsflugzeugen abgesetzte Leuchtmarkierungen, sogenannte Christbäume, die an Fallschirmen langsam auf die Stadt herabglitten und für die nachfolgenden Bomber das Abwurfgebiet markierten. In der Ferne hörte man schon die Explosionen der ersten einschlagenden Sprengbomben.
20.16 Uhr
„Verflucht, jetzt wird es ernst!“, stieß einer der Soldaten hervor und sie drängten die beiden Gefangenen brutal zu einem vor dem Haus wartenden Kübelwagen. Der Hauptfeldwebel starrte nach oben, dann traf er eine Entscheidung.
„Junge, du weißt, wo der nächste Luftschutzraum ist?“, fragte er drängend. Zögerlich nickte das Kind. „Dann los, bring dich in Sicherheit! Gleich wird es hier verdammt ungemütlich.“
„Papa! Bitte geh nicht fort!“, rief der Junge weinend und stand verlassen neben dem Fahrzeug.
„Michael, tu, was der Soldat sagt“, rief sein Vater aus dem Wagen heraus. „Ich hab dich lieb! Wir sehen uns später.“
Er wusste, dass er log, aber das Kind musste sich unbedingt in Sicherheit bringen. Die Bombeneinschläge kamen immer näher. Der Kübelwagen fuhr los. Flüchtende Menschen auf den Straßen wichen dem Fahrzeug aus. Eine Frau aus der Nachbarschaft, die selbst ein Kind an der Hand führte, hatte die Szene mitbekommen, sah den hilflos dastehenden Jungen und deutete die Situation richtig. Sie fasste Michael am Arm und zog den Willenlosen durch das Getöse der fallenden Bomben hinter sich her zum nächsten Bunker, der zum Glück nicht weit entfernt war.
20.19 Uhr
Keinen Moment zu früh. Sekunden später schlugen die ersten Sprengbomben in der Maulhardgasse ein und fegten die Dächer von den Häusern.
Der Kübelwagen mit den Feldgendarmen und den beiden Gefangenen war keine hundert Meter weit gefahren, als er von der Wucht einer in der Nähe einschlagenden Bombe gegen eine Hauswand geschleudert wurde. Der Gefreite, der das Fahrzeug lenkte, wurde von der Explosion schwer verletzt und brach sterbend über dem Lenkrad zusammen. Der Hauptfeldwebel und der andere Gefreite flogen aus dem Fahrzeug und blieben besinnungslos liegen. Wie durch ein Wunder wurden die beiden Gefangenen nur leicht verletzt. Sie überwanden ihre momentane Orientierungslosigkeit. Ohne Überlegung kämpften sie sich aus dem Wagen und rannten in Richtung Marienplatz davon.
20.21 Uhr
Als sich die beiden Brüder im Bombenhagel und zwischen den beginnenden Bränden ein Stück vom Fahrzeug entfernt hatten, kam der Hauptfeldwebel wieder auf die Beine. Schnell erkannte er die Situation. Er wirbelte herum und schickte den beiden Flüchtenden einen langen Feuerstoß aus seiner Maschinenpistole hinterher. Heinrich Schneider bekam zwei Kugeln in den Hinterkopf und brach tot zusammen. Oskar Schneider war kurz davor, sich im Schutz einer Staubwolke, die ein Bombeneinschlag in der Nähe erzeugt hatte, den Blicken des Soldaten zu entziehen, als ihn drei Projektile der Salve in den Rücken trafen. Eine zerschmetterte ihm die Wirbelsäule, die beiden anderen drangen von hinten in sein Herz ein. Mit einem Aufschrei brach er zusammen und starb Sekunden später.
Michael, der sich gegen den harten Griff der Frau gestemmt hatte, musste, kurz bevor sie den Bunker erreichten, die Szene mit ansehen. Seine lauten Schreie wurden vom Heulen der Sirenen und vom Donner der Bombenexplosionen erstickt. Die Frau zerrte ihn in den schützenden Bunker.
Die nächste Welle flog an und warf die ersten Brandbomben ab. Der Hauptfeldwebel raffte sich auf. Mit einem Blick erkannte er, dass dem Fahrer des Kübelwagens nicht mehr zu helfen war. Er riss seinen überlebenden Kameraden in die Höhe und sie stolperten, sich gegenseitig stützend, in den Luftschutzbunker, in dem auch der junge Michael Schneider Schutz gefunden hatte.
Michael kauerte sich in einer Ecke des Bunkers neben der Frau zusammen. Als er die beiden Soldaten, die seinen Vater und seinen Onkel erschossen hatten, hereintaumeln sah, drängte er sich er wimmernd noch tiefer in den Hintergrund. Die zahlreichen anderen Menschen im Bunker rückten instinktiv von den beiden „Kettenhunden“ ab, so weit dies in der drängenden Enge des Schutzraumes überhaupt möglich war. Feldgendarmen waren eine verhasste Institution, mit denen niemand zu tun haben wollte.
In den nächsten Minuten entfachten die Brandbomben in den durch die Sprengbomben abgedeckten Fachwerkhäusern der Altstadt das Inferno. Ein alles verzehrender Feuersturm raste durch die Straßen. Die Temperatur im Schutzraum stieg enorm an. Den Menschen wurde unerträglich heiß und man hatte Mühe zu atmen. Sie rissen sich die Jacken und Mäntel vom Körper. Auch Michael riss sich irgendwann den Mantel vom Leib.
Die Menschen, die im Luftschutzbunker in der Nähe der Maulhardgasse Schutz gesucht hatten, überlebten wie durch ein Wunder. Als sie sich Stunden nach dem Ende der Bombardierung trauten, den Schutzraum zu verlassen, existierte die ihnen bekannte Stadt nicht mehr. Überall brannten noch Häuser in der Umgebung lichterloh. Alle, die hier wohnten, hatten ihre Existenz und ihre Heimat verloren.
Michael stand verloren in dem Chaos und war verzweifelt. Alle seine Bezugspersonen waren tot. Eine große Verwirrung bemächtigte sich seiner. Das Vermächtnis seines Vaters ging in der Verzweiflung unter. Verstört taumelte er durch die Ruinen. Irgendwann schlief er in einer Ecke völlig erschöpft ein.
Am nächsten Morgen wurde er von einem alten Mann bemerkt. Er gab ihm Wasser. Da der Junge nicht redete, aber sehr heruntergekommen aussah und offenbar allein war, brachte er ihn zu einer Sammelstelle des Roten Kreuzes, wo man Kinder versorgte, die durch den Angriff ihre Eltern verloren hatten.
Später kam er in ein Waisenheim. Der Junge war durch die Ereignisse dieser Nacht so traumatisiert, dass er die Erinnerung daran tief in seinem Gehirn verschloss. Er wusste weder seinen Namen, noch kannte er seine Adresse. Es gab lediglich einen kleinen Hinweis auf seine Identität: In seinem Hemd war ein Namensschild eingenäht, auf dem „Schneider“ stand. Sein Schweigen machte ihn zu einem haltlosen Blatt, das dem Sturm der Nachkriegszeit wehrlos ausgeliefert war. Das Gesicht des Soldaten mit der Narbe, der seinen Vater erschossen hatte, hatte sich ihm allerdings unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt.
Es dauerte viele Monate, bis er Menschen wieder einen kleinen Zugang zu seiner gequälten Seele gewährte. Die Nebel des Vergessens lichteten sich aber nicht. Irgendwann verloren sich die Spuren des Jungen in den Wirren der letzten Kriegstage. Eine traumatisierte Waise von vielen, deren Schicksal ungewiss war.
An jenem 16. März 1945 hatte es nur etwa zwanzig Minuten gedauert, bis der alles vernichtende Bombenhagel das architektonische Kleinod Würzburg in das Grab am Main verwandelt hatte. Am Ende der Feuerwalze waren um die 5000 Tote zu beklagen – Frauen, Kinder und alte Männer. Viele Menschen starben in verschütteten Luftschutzkellern – sei es, weil der Feuersturm allen Sauerstoff aufzehrte, sei es, weil durch die Brände giftige Gase durch die Straßen waberten. Viele erstickten an Kohlenmonoxidvergiftungen.
70 Jahre später
Würzburg, den 4. August 2015
Das schrille Läuten eines Telefons, das die Stille einer nächtlichen Wohnung durchdringt, hat etwas Unheimliches und versetzt die Bewohner in eine gewisse Alarmbereitschaft. Elvira Stark erging es da nicht anders. Sie schreckte aus ihren Gedanken auf und warf automatisch einen Blick auf das Ziffernblatt der Uhr über dem Sideboard in ihrem Wohnzimmer. Es war kurz vor vier. Sie war noch nicht im Bett gewesen. Sie war viel zu aufgeregt und nervös. Seit sie vor zwei Stunden Öchsle alleine in der Rosengasse aufgegriffen hatte, marschierte sie unruhig in ihrer Wohnung umher. Ihr erster klarer Gedanke nach dem Läuten war: Es ist etwas passiert! Sie eilte zum Telefon, hob ab und meldete sich.
Die Stimme, die aus dem Hörer kam, klang roboterhaft unmoduliert und leicht verzerrt.
„Guten Abend, Frau Stark, ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu sehr erschreckt.“ Vergeblich versuchte sie festzustellen, ob es sich um eine weibliche oder eine männliche Stimme handelte. Die Verzerrungstechnik machte dies unmöglich.
„Was wollen Sie?“
„Frau Stark, leider muss ich von Ihnen einen Dienst erbitten. Gehen Sie nachher, auf keinen Fall aber vor halb fünf, zur Maulhardgasse. Nur Sie und sonst niemand. Dem Eingang des ‚Maulaffenbäck‘ gegenüber wartet ein Paket auf Sie.“
„Moment! Aber was ist …“ Sie kam nicht mehr dazu, nach Erich Rottmann zu fragen, denn das Gespräch war bereits unterbrochen. Verstört legte sie den Hörer zur Seite. Ihr Magen zog sich zusammen, wenn sie daran dachte, was sie dort erwartete. Hastig eilte sie ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
Eine Woche zuvor, am 27. Juli
Der Service-Mitarbeiter der Bahn löste die Bremse des auf dem Bahnsteig bereitstehenden mobilen Rollstuhllifts und zog das hydraulische Gerät in die Nähe der Bahnsteigkante. Schnell warf er einen Blick auf seine Armbanduhr: 13.46 Uhr. In der Ferne konnte er die weiß-rote Bugspitze des einfahrenden ICE Frankenland aus München erkennen. Der Zug hatte nur eine Minute Verspätung. Per Telefon war er über die Mobilitätsservice-Zentrale verständigt worden, dass sich im Wagen 14 ein Rollstuhlfahrer mit dem Zielbahnhof Würzburg befand. Wagen 14, Fahrgästen der 1. Klasse vorbehalten, würde im Abschnitt D des Bahnsteigs halten.
Stetig langsamer werdend, rollte der ICE in den Bahnhof ein. Auf dem Bahnsteig warteten zahlreiche Fahrgäste.
Der Service-Mitarbeiter wartete, bis der Wagen 14 exakt an dem dafür vorgesehenen Abschnitt des Bahnsteigs zum Stehen kam und sich die Türen mit einem Zischen öffneten. Zuerst verließ der Zugbegleiter den Wagen und verständigte sich mit dem Wartenden mit einem Nicken.
„Servus. Ich denke, wir lassen erst die anderen Passagiere aussteigen. Seniore Luccaliano ist damit einverstanden.“
Ein Schwall von Reisenden verließ den Zug und eilte in Richtung Treppe. Einige hatten ihr Ziel erreicht, andere mussten den Bahnsteig wechseln, um ihren Anschlusszug zu bekommen.
Als sich einsteigende Passagiere in den Wagen drängen wollten, verwies sie der Zugbegleiter auf einen anderen Einstieg und der Service-Mitarbeiter fuhr den Rollstuhllift, nachdem der Zugbegleiter wieder eingestiegen war, dicht an die Treppe. Er arretierte die Räder und fuhr den Lift auf Höhe des Zugniveaus. Durch die Tür konnte er drinnen einen alten Herrn sehen, der in einem modernen Elektro-Rollstuhl saß und geduldig darauf wartete, dass er auf den Lift fahren konnte. Der Mann trug einen breitrandigen Hut, der sein Gesicht beschattete. Tiefe Falten markierten seine Züge wie hineingemeißelt und wurden durch die ausgeprägte Bräune, die sein Gesicht aufwies, nochmals betont. Unter dem hellen Übergangsmantel waren ein hellblaues Hemd und eine Krawatte zu erkennen. Seine ebenfalls gebräunten Hände hielten einen Gehstock mit silberfarbenem Knauf. Das Alter des Mannes war schwer einzuschätzen. Hinter ihm standen zwei hochgewachsene Männer mit Sonnenbrillen, die die Szene aufmerksam beobachteten. Die beiden hätten Brüder sein können.
Auf ein Zeichen des Zugbegleiters hin bewegte der Rollstuhlfahrer den Steuerstick seines fahrbaren Untersatzes. Das singende Geräusch eines Elektromotors ertönte und das Gefährt rollte auf die Plattform des Lifts. Der Begleiter hob ein Gepäckstück auf und trat damit ebenfalls auf die Plattform. Einen Augenblick später berührten die Räder von Seniore Luccalianos Rollstuhl zum ersten Mal Würzburger Boden. Der Blick seiner graublauen Augen glitt mit wacher Aufmerksamkeit über die Menschen, die eilig den ICE bestiegen, und über die anderen, die sich in einem breiten Strom über die Treppe in Richtung Bahnhofshalle ergossen. Bis jetzt hatte er keinen Ton gesprochen. Schließlich sah er den Zugbegleiter direkt an.
„Mille grazie für Ihre Betreuung“, sagte er leise mit sonorer Stimme. Sein Deutsch war akzentfrei. Einer der Männer hinter ihm, die über die Treppe ausgestiegen waren, gab dem Zugbegleiter die Hand, dabei drückte er ihm diskret einen Geldschein in die Hand. Erstaunt warf der Mann einen Blick auf die Banknote, dann bedankte er sich überschwänglich. Der Mann im Rollstuhl winkte nur ab. Der Zugbegleiter stieg eilig zurück in das Abteil. Durch die Lautsprecher am Bahnsteig kam die Ansage, dass der ICE abfahrbereit war.
Während der Intercityexpress einen Augenblick später langsam aus dem Bahnhof rollte, näherte sich eilig ein junger Mann über den Bahnsteig und kam zielstrebig näher.
„Grüß Gott, Herr Luccaliano, mein Name ist Stefan Berger, ich bin Ihr persönlicher Fahrer.“ Er beugte sich hinunter und wollte dem alten Herrn die Hand reichen. Der beachtete diese Geste aber nicht, sondern stellte in scharfem Ton fest: „Sie sind zu spät! Es war vereinbart, dass Sie mich am Bahnsteig erwarten.“
„Ich weiß“, gab Berger zurück, „ich muss mich auch vielmals entschuldigen, aber die Parkplatzsituation rund um den Würzburger Bahnhof ist einfach katastrophal.“
Der Mann im Rollstuhl machte eine ungeduldige Geste. „Das nächste Mal planen Sie Verzögerungen mit ein. So, jetzt sehen Sie zu, dass wir hier von diesem zugigen Bahnsteig runterkommen.“
Der Service-Mitarbeiter trat einen Schritt nach vorn. „Leider ist der Würzburger Bahnhof noch nicht mit einem Lift ausgestattet, so dass wir bedauerlicherweise einen kleinen Umweg nehmen müssen. Folgen Sie mir doch bitte.“
Einer der schweigsamen Begleiter des Rollstuhlfahrers hängte den Gepäcktrolley hinten an den Rollstuhl, dann steuerte der alte Mann das Gefährt hinter dem Servicemann her. Die Männer folgten. Über verschiedene Umwege erreichten sie schließlich den Bahnhofsvorplatz. Der Service-Mitarbeiter verabschiedete sich. Seine Aufgabe war erfüllt. Auch er erhielt ein großzügiges Trinkgeld, dann eilte er davon.
Auf dem Parkplatz steuerte Berger einen Kleinbus an, der auf Knopfdruck über eine Fernbedienung nach hinten eine Rampe ausfuhr, mit deren Hilfe Luccaliano bequem in das Fahrzeug fahren konnte. Dort wurden die Räder seines fahrbaren Untersatzes arretiert. Seine beiden Begleiter setzten sich neben den Fahrer. Luccaliano blieb während der Fahrt im Rollstuhl sitzen. Obwohl er mit unbeweglicher Miene aus dem Fenster sah, erfüllten ihn tief in seinem Innersten sehr gemischte Gefühle, als er draußen die Häuser der Stadt an den Scheiben vorbeihuschen sah.
Eine halbe Stunde später rollte der betagte Italiener über die barrierefreie Schwelle einer Penthousewohnung im Stadtteil Frauenland. Die auf dem Dach eines sechsstöckigen Bankhauses erbaute Wohnung war großzügig geschnitten und nahm das gesamte oberste Stockwerk des Gebäudes ein. Sie verfügte über eine Dachterrasse und genügend Räume, da auch Personal mit einziehen sollte.
Seniore Luccaliano zog den Hut vom Kopf und warf ihn auf den Sessel einer Polstergarnitur aus weißem Leder. Unter der Kopfbedeckung kamen militärisch kurz geschnittene weiße Haare zum Vorschein, die einen markanten Kontrast zu seinem gebräunten Teint bildeten. Ein Buch, das er zwischen Oberschenkel und Rollstuhllehne eingeklemmt hatte, legte er auf den Tisch. Offenbar hatte er im Zug darin gelesen. Langsam bewegte er sein Gefährt vor die westliche Wand des Wohnzimmers, die aus einer aus einzelnen Glassegmenten zusammengesetzten Fensterfront bestand. Durch die Scheiben konnte man einen Teil der Dachterrasse sehen. In der Ferne war die markante Skyline der Festung Marienberg zu erkennen. Luccaliano versank eine ganze Weile in der Betrachtung der Aussicht, dann drehte er den Rollstuhl abrupt um und stellte die Bremsen fest. „Adriano, helfen Sie mir bitte“, bat er auf Italienisch, dabei wies er auf die Fußstützen. Der mit „Adriano“ angesprochene Begleiter beeilte sich, diese einzuklappen, dann stemmte sich der alte Mann hoch.
Als Berger ihm dabei behilflich sein wollte, knurrte er nur kurz: „Meinen Stock!“ Als er, sich auf die Gehhilfe stützend, festen Stand hatte, löste er die Knöpfe seines Mantels und ließ ihn von den Schultern gleiten. Adriano fing ihn auf. Luccaliano trug unter dem Mantel einen maßgeschneiderten Anzug, der seine schlanke Figur betonte.
„Den Rollstuhl können Sie in den Flur schieben“, erklärte Luccaliano Berger. „Innerhalb der Wohnung werde ich ihn nicht benötigen. Wann kommt das Hausmädchen?“
„Magdalena Pawlowicz ist bereits heute früh eingetroffen. Sie hat das für sie vorgesehene Zimmer bezogen und ist jetzt unterwegs, um einige Lebensmittel einzukaufen. Sie haben uns ja Ihre entsprechenden Wünsche übermittelt. Ich denke, sie wird in der nächsten halben Stunde zurück sein. Möchten Sie sich vielleicht nach der langen Reise etwas ausruhen? Es ist auch einige Post für Sie eingetroffen.“
Luccaliano winkte ab. „Zeigen Sie zunächst einmal meinen Männern ihre Zimmer. Dann möchte ich das Bad sehen und anschließend die restliche Wohnung. Ich habe sie bisher ja nur auf Bildern gesehen.“
Bevor Luccaliano das Bad betrat, blieb er kurz stehen und kramte in seiner Hosentasche. Er zog einen Zettel hervor und übergab ihn Berger.
„Rufen Sie diese Nummer hier an. Sie gehört einem Ronald Schneider. Sagen Sie ihm, dass sein Cousin Michael aus Rom ihn sprechen möchte. Sicher wird er erst einmal überrascht sein, denn er weiß nicht, dass ich in Würzburg bin. Aber das macht nichts. Sagen Sie ihm, dass Sie ihn in drei Stunden zu Hause abholen.“
„Was ist, wenn er mir nicht glaubt? Wenn er Fragen hat?“
Luccaliano lachte leise. „Sagen Sie ihm, dass ich meine Planungen, die ich in meinem Brief angedeutet habe, früher als gedacht realisieren konnte. Glauben Sie mir, er wird kommen.“ Dann humpelte er ins Bad.
Riccardo Luccaliano hörte das Läuten der Klingel. Luigi, der zweite Begleiter des Italieners, ging zur Sprechanlage im Flur. Luccaliano warf einen prüfenden Blick auf den Couchtisch. Magdalena hatte trotz der kurzen Zeit, die ihr zur Verfügung gestanden hatte, alles zu seiner Zufriedenheit gerichtet.
Es dauerte einige Minuten, dann kam Ron Schneider ins Zimmer.
Der Italiener ging seinem Gast am Stock einige Schritte entgegen.
Ron Schneider blieb in der Tür stehen und musterte Luccaliano mit großen Augen. „Lieber Cousin, du siehst mich einfach sprachlos! Als ich vorhin den Anruf erhielt, konnte ich es gar nicht glauben. Du bist schon hier! Ich habe erst in einigen Monaten mit dir gerechnet. Also dann, herzlich willkommen in Würzburg! Ich freue mich wirklich, dich kennenzulernen.“ Er ging auf Luccaliano zu und umarmte ihn.
„Tja, Ronald, manchmal entwickeln sich die Dinge schneller, als man denkt. Ich bin auch sehr glücklich, nach den vielen Jahrzehnten meiner Abwesenheit von Deutschland noch einen Verwandten in Würzburg gefunden zu haben. Schön, dass du dir die Zeit genommen hast, mich so spontan zu besuchen. Wir haben uns sicher viel zu erzählen.“
„Oh, bitte, nenn mich Ron. Kein Mensch sagt Ronald zu mir. Ich weiß auch nicht, was sich meine Eltern bei dieser Namenswahl gedacht haben.“