Kitabı oku: «Der Schoppenfetzer und die Silvanerleiche»
Günter Huth
Der Schoppenfetzer
und die Silvanerleiche
Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben. Von Beruf war er Rechtspfleger (Fachjurist). Günter Huth ist verheiratet und hat drei Kinder.
Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich. Außerdem veröffentlichte er zahlreiche Kurzerzählungen. In den letzten Jahren hat sich Günter Huth vermehrt dem Genre „Krimi“ zugewandt und bereits einige Kriminalerzählungen veröffentlicht. 2003 kam ihm die Idee
für einen Würzburgkrimi. Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung Das Syndikat.
Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und rein zufällig.
Günter Huth
Der Schoppenfetzer und die Silvanerleiche
Der erste Fall des Würzburger
Weingenießers Erich Rottmann
Buchverlag
Peter Hellmund
im Echter Verlag
Günter Huth
Der Schoppenfetzer und die Silvanerleiche
© Echter Verlag, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Gestaltet von Peter Hellmund
Gedruckt und gebunden von Pressel, Remshalden
Fünfzehnte Auflage 2018 · E-Book-ISBN 978-3-429-06394-8
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Das Licht im Zimmer war gewollt spärlich. Die Schatten der beiden Menschen in dem großen Büroraum verschmolzen zu einer konturlosen Einheit. Es wurde nicht gesprochen. Nur hin und wieder hörte man leises Seufzen, heftiges Atmen oder das Rascheln hastig zur Seite geschobener
Bekleidung. Die Szene war eindeutig.
Plötzlich stockte das heftige Spiel der Geschlechter. Einer der Schatten löste sich vom anderen und gewann die Kontur einer Frauengestalt zurück. Der andere Schatten war männlich.
„Wir müssen völlig verrückt sein, dass wir dieses Risiko eingehen“, sagte die Frau heftig atmend. Sie sprach im Rhythmus einer mühsam unterdrückten Erregung, jedoch leise. Schließlich erhob sie sich mit einem Ruck von der Couch, schob ihren Rock nach unten und begann mit zitternden Fingern die Knöpfe ihrer Bluse wieder zu schließen.
„Was soll schon groß passieren“, erwiderte der Mann, während auch er sich auf der Couch aufrichtete. Der Klang seiner Stimme verriet Enttäuschung. „Um diese Zeit ist doch keiner mehr im Haus.“
„Wenn wir hier erwischt würden, gäbe es in der Stadt einen schönen Skandal, den wir beide beruflich nicht überleben würden.“
Sie hatte mittlerweile ihre Kleidung wieder vollständig in Ordnung gebracht und richtete nun mit geschickten Fingern ihre in Unordnung geratene Frisur.
„Mein Gott, zwei erwachsene Menschen lieben sich … Gut, der Ort ist vielleicht etwas exotisch, aber das ist doch keine Schlagzeile.“
Er lächelte sie mit seinem spitzbübischen Grinsen an, dem sie kaum widerstehen konnte. Die Frau spürte dabei seinen wissenden Blick, der über ihre reizvolle Figur glitt, deren wohlgeformte Silhouette trotz ihrer konservativen Kleidung kaum kaschiert wurde.
Sie ergriff eines der beiden Gläser, die auf dem Couchtisch standen und reichte es dem Mann.
„Ist das mein Glas?“, vergewisserte er sich.
Sie nickte nur geistesabwesend.
Er setzte an und nahm einen langen, kräftigen Schluck. Es war schwül in dem Raum, und er hatte einen trockenen Mund.
Einen Sekundenbruchteil später spuckte er laut prustend den Teil des Getränks heraus, den er noch nicht hinuntergeschluckt hatte. Viel war es nicht.
„Mein Gott, in dem Glas war Wein!“, stieß er entsetzt hervor. Das Glas fiel zu Boden.
Zuerst verwundert, dann immer besorgter, zuletzt entsetzt, beobachtete die Frau, wie sich in dem Gesicht des Mannes eine dramatische Veränderung vollzog. Innerhalb von Sekunden bekam er massive Atembeschwerden, und die Augen quollen aus ihren Höhlen. Seine Sprache war nur noch ein heiseres Gestammel, und seine Hände tasteten hilfesuchend zum Hals. Als er würgend neben der Couch zusammenbrach, löste sich endlich ihre Starre. Es gab keinen Zweifel, der Mann benötigte dringend Hilfe. Ihre Gefühle drängten sie, sofort zum Telefonhörer zu greifen, während der rationale Teil ihres Gehirns vor den gesellschaftlichen Folgen eines Notarzteinsatzes an diesem Ort warnte.
Ehe sie sich zwischen diesen beiden widerstreitenden Empfindungen entscheiden konnte, klopfte es an die Tür.
Übergangslos verlor sie die Nerven. Ohne nachzudenken, verließ sie fluchtartig das Büro durch die zweite Tür. Sie sah nicht mehr, dass sich der Mann auf dem Boden noch einmal heftig aufbäumte, bevor sein Atem mit einem letzten Röcheln erlosch.
Zurück ließ sie einen zarten Hauch von Emotion, einem herb-frischen Eau de Toilette, wie es gerne von jugendlichdynamischen Businessfrauen benutzt wurde.
Die Montagnacht war schwül. Die im Asphalt gespeicherte Wärme zeugte von der drückenden Hitze des zurückliegenden Frühsommertages. In Würzburg rückten die Zeiger der Uhren immer näher auf Mitternacht.
Der Mann im korrekten schiefergrauen Anzug, der zu dieser späten Stunde das Gebäude betrat, war mittleren Alters, durchschnittlich groß, hager und drahtig, mit schütterem Haarwuchs. In seiner Position verfügte er über einen Hausschlüssel.
Von einer Aufsichtsratssitzung kommend, wollte er trotz der späten Stunde noch kurz in seinem Büro vorbeischauen, um ein paar Unterlagen mitzunehmen, die er für eine frühe Sitzung am nächsten Tag benötigte. Kurz bevor er sein Arbeitszimmer betrat, glaubte er jenseits des langen Flures Geräusche zu hören, die er nicht einordnen konnte. Sie kamen offenbar aus einem anderen Büro, das auf dem selben Flur, jedoch einige Türen entfernt lag. Im Halbdunkel des Ganges verharrte er etwas unschlüssig, dann gewann seine Neugierde die Oberhand, und er pirschte sich leise an. Sein Puls beschleunigte. Fast berührte sein Ohr das Holz. Er wusste, dass die Tür auf der anderen Seite schallschluckend gepolstert war und daher nur verhältnismäßig laute Geräusche nach außen dringen konnten.
Da war es wieder! Ein seltsam erstickendes Würgen. Es klang fremd, fast tierisch.
Unvermutet brach das Geräusch ab. Drinnen war es wieder völlig still.
Er zögerte. Brennend gerne hätte er gewusst, was zu so später Stunde in diesem Zimmer vorging.
Er stand unschlüssig. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, und er fixierte die Klinke, als könne er sie allein mit der Kraft seines Willens bewegen. Schließlich siegte seine Neugier über die Vorsicht. Er klopfte an. Erwartungsgemäß bekam er keine Antwort.
Trotzdem wartete er noch einen Moment.
Plötzlich hörte er vom anderen Ende des langen Flurs, das hinter einer Biegung lag, das hallende Geräusch einer sich schließenden Tür. Der Raum, vor dem er stand, hatte, wie er wusste, noch einen weiteren Ausgang. Es schien so, als habe SIE ihr Büro gerade verlassen und war gegangen.
Tief durchatmend trat er ein.
Als er den schwachen Lichtschein bemerkte, hätte er den Raum fast wieder fluchtartig verlassen. Hatte er sich getäuscht? War SIE doch noch da? Die Lichtquelle, die Schreibtischlampe, erhellte nur das engere Umfeld der Arbeitsplatte, auf der sie stand, richtig. Das übrige Zimmer lag in einem diffusen Dämmerlicht.
„Hallo“, rief er halblaut. Der Klang seiner Stimme beunruhigte ihn.
Als auch sein nochmaliges „Hallo!“ ohne eine Reaktion verhallte, schloss er die Tür und wagte sich zögernd weiter in das Zimmer hinein. Auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen.
Tief sog er die Raumluft ein. Deutlich roch er den markanten Duft des ihm so vertrauten Eau de Toilette, der wie ein sanfter Schleier im Zimmer stand. Ziemlich frisch noch. Er war sich sicher, dass SIE gerade noch hier gewesen sein musste.
Fast wäre er über das schlecht erkennbare Hindernis gestolpert, das plötzlich vor seinen Füßen auftauchte. Erschrocken starrte er auf das behoste Beinpaar, das irgendwie völlig deplaziert in den Raum hinein ragte.
Zögernd machte er einen Schritt vorwärts. Jetzt sah er die männliche Gestalt, die direkt vor einer schwarzen Ledercouch auf dem Fußboden lag. Die Couch war Teil einer Sitzgarnitur, die dem Büro, selbst bei der schlechten Beleuchtung, einen repräsentativen Charakter verlieh.
Erleichtert stellte er fest, dass der Liegende ihn offenbar noch nicht bemerkt hatte. Aber gerade das war das Eigenartige an der Situation. Er empfand Beklemmung. Schließlich holte er sein Gasfeuerzeug aus der Tasche und leuchtete in den düsteren Winkel.
„Verdammt!“, entfuhr es ihm, als er die entstellten Züge des Menschen registrierte. Dessen Miene war zu einer verzerrten Grimasse erstarrt. Tief eingemeißelter Schmerz, in einer Maske konserviert.
Als ihm die Erkenntnis kam, wäre ihm das Feuerzeug vor Schreck fast aus der Hand gefallen. Er war zwar kein Experte, aber wenn er sich nicht sehr täuschte, dann lag dort eine Leiche.
Der Mann war ihm kein Unbekannter. Ein innerer Zwang verlangte von ihm, sich Gewissheit zu verschaffen. Er überwand sich und fasste dem Liegenden an das Handgelenk. Seine Finger suchten den Puls. Die Hand war normal warm, aber schlaff, der Herzschlag nicht tastbar. Lange konnte er noch nicht tot sein.
Neben dem Oberkörper des Toten hatte er im Schein der Flamme ein Weinglas auf dem Teppich entdeckt. Ein zweites, teilweise gefülltes, stand auf dem Tisch. Dem Mann stieg vor plötzlich aufwallendem Zorn das Blut in den Kopf. Er kannte die Gläser nur zu gut. Sie gehörten IHR, und er wusste, dass sie normalerweise niemandem gestattete, sie zu benutzen. Es mussten schon besondere Umstände vorliegen, dass sie bei diesem Mann eine Ausnahme gemacht hatte. Umstände, die, nach dem Zustand der Kleidung des Toten, nicht schwer zu erraten waren. Sein Hemd war an der Brust weit aufgeknöpft und hing ihm teilweise aus dem Hosenbund. Darunter konnte man, halb verdeckt, ein Pistolenholster erkennen.
Eines der Kissen, die auf der Couch lagen, war auf den Boden gefallen. Die anderen waren zusammengedrückt, so als hätte vor kurzem ein schwerer Körper darauf gelegen. Es bedurfte keiner großen Phantasie, um zu dem Schluss zu kommen, dass der Tote offensichtlich mitten aus einer amourösen Begegnung ziemlich abrupt aus dem Leben gerissen worden war.
Der Mann richtete sich wieder auf und ordnete sein Jackett. Seine Gedanken flogen. Ein Wechselbad der Gefühle trieb seinen Blutdruck in die Höhe. Wut und Eifersucht beherrschten sein Denken. Was genau war hier geschehen? Wenn das zutraf, was er sich ausmalte, war hier etwas abgelaufen, was SIE, käme es in die Öffentlichkeit, in allergrößte Schwierigkeiten bringen würde. Er erinnerte sich an das Türenschlagen, das er vor seinem Eintritt in dieses Büro gehört hatte. Offenbar war sie in Panik davongerannt.
Ganz langsam gewann sein rationaler Verstand wieder die Oberhand über seine Emotionen.
Die Frau, die in diesem Raum arbeitete, war seine Gegnerin gewesen. Irgendwie hatte er sie damals bewundert und geliebt. Sie hatten sich bekämpft, und sie hatte gesiegt. Jetzt musste er sich mit einer untergeordneten Stellung zufriedengeben. Seitdem übte sie Macht über ihn aus – und er hasste sie dafür. Er hatte nach Wegen gesucht, sich gegen diese Hassliebe zu wehren. Ohne Erfolg.
Irgendwann hatte er damit begonnen, SIE auch in ihrem privaten Umfeld zu beobachten. Zunächst vorsichtig unauffällig, ohne, dass sie es bemerkte. Langsam hatte er sich dann in eine Rolle hineingesteigert, in der er sich irgendwann als Jäger sah. Die Beobachtete wurde in seinen Augen zum Objekt, zur Beute. Das gab ihm das herrliche Gefühl, Macht über sie ausüben zu können. Von dieser bloßen Empfindung, bis hin zu dem Bedürfnis, ihr, seiner Beute, diese Macht auch irgendwie zu demonstrieren, war es nur noch ein kleiner Schritt.
Es war eine mondfinstere Nacht, als er, getrieben von seiner Obsession, zum ersten Mal das Grundstück seiner Beute betrat und aus dem Garten eines ihrer zum Trocknen aufgehängten Wäschestücke entwendete. Er wollte, dass seine Beute von der Gegenwart des Jägers wusste. Deshalb hinterließ er ein Zeichen. Sie sollte wissen, dass er die Macht hatte, jederzeit in ihre private Sphäre eindringen zu können. Deshalb hängte er anstelle des Wäschestücks einen kleinen Fichtenzweig an die Wäschespinne. Er übernahm damit die Gepflogenheit von Jägern, die die Erbeutung eines erlegten Wildtieres mittels eines Fichtenbruches anzeigten.
Seitdem war er schon mehrfach in die persönlichen Lebensbereiche seiner Beute eingedrungen. Er war in ihrem Haus gewesen und hatte sein Zeichen in ihrem Auto und ihrem Büro hinterlassen.
Seine Aktivitäten zeigten bald Wirkung. Er bemerkte, dass sie nervös wurde. Ihr Selbstbewusstsein erhielt einen Riss. Er hatte die Macht.
Sein Mut wuchs mit ihrer Angst. Er besorgte sich Trophäen, Fetische. Gegenstände aus ihrem intimen Umfeld, die er nur erbeuten konnte, indem er ihr bedrohlich nahe kam.
Sie fühlte seine ständige Gegenwart, konnte aber gegen dieses Phantom nichts tun. Er war für sie ein bedrohlicher Schatten. Namenlos. Gesichtslos. Nicht greifbar. Aber immer gegenwärtig.
Irgendwann tauchte dann dieser Mann auf. Ständig hielt er sich in der Nähe seiner Beute auf. Dann erfuhr er es: Das war auch ein Jäger, der wiederum ihn, den Jäger, jagen sollte. Sie vertraute diesem Mann, fühlte sich durch ihn beschützt. Eine interessante Herausforderung für ihn. Er bewies ihr schnell, dass er trotzdem weiterhin Macht über sie hatte.
Je mehr er darüber nachdachte, desto stärker kam er zu der Erkenntnis, dass diese unerwartete Situation, in die er hier hineingeraten war, ihm die Chance bot, ihr seine Macht auf besonders krasse Weise zu demonstrieren. Er hatte keinen Zweifel, dass ein Toter in diesem Büro einen gewaltigen Strudel auslösen würde, in dessen Sog sie untergehen würde. Wenn er hingegen diesen Toten beseitigte und damit die Gefahr von ihr abwendete, hätte sie an seiner Allmacht sicher keinen Zweifel mehr. Dieser Gedanke erregte ihn. Erregte ihn sehr.
Es erstaunte ihn etwas, dass sie vorhin so panisch reagiert hatte. SIE war normalerweise kühl kalkulierend und hart im Nehmen. Sicher würde ihr Verstand sehr schnell wieder die Oberhand gewinnen. Sie war sehr intelligent, und ihr würde sehr schnell klar sein, dass das Auffinden dieser Leiche an diesem Ort ihrer gesellschaftlichen Vernichtung gleichkommen würde.
Mit Gewalt unterdrückte er ein aufkommendes Hochgefühl und zwang sich zu rationalem Denken. Es war auf den ersten Blick nicht ersichtlich, woran der Mann gestorben war. Er konnte keine Verletzung erkennen, die auf äußere Gewalteinwirkung schließen ließ. Die eine Hand war auf Brusthöhe im Hemd verkrampft.
Die Gedanken hetzten durch seinen Kopf. Ihm war klar, dass sich, sobald die Leiche gefunden wurde, die ganze Maschinerie in Bewegung setzen würde. Staatsanwaltschaft, Polizei, Presse. Es würde eine Lawine losgetreten werden, die keiner mehr aufhalten konnte. Eine Lawine, die das Objekt seines Jagdtriebs unter sich begraben konnte. Irgendwie musste er es schaffen, eine falsche Fährte zu legen, die von IHR ablenkte.
Nach kurzem Zögern begann er zu handeln. Wobei sein Tun mehr einer spontanen Eingebung, als einem kalkulierten Vorgehen entsprang.
Der peitschende Knall eines Schusses, im Zentrum einer Stadt, in einer dunklen Nacht, in einem menschenleeren Gebäude, hat etwas Erschreckendes. Ein solcher Vorgang ist in seinen psychischen Wirkungen gleichzusetzen dem finalen Paukenschlag in einer dramatischen Oper, der einer bevorstehenden Hinrichtung vorausgeht. Die nachfolgende Stille macht die Vorgänge für den Zuschauer körperlich begreifbar und weckt bei ihm instinktive Ängste.
Objektiv betrachtet bestand für den Akteur des nächtlichen Dramas in der schlafenden Stadt, in dem verlassenen Gebäude, keine Gefahr. Schon wenige Zimmer weiter war der Schuss nicht mehr als solcher zu identifizieren.
Der Mann stand breitbeinig über den Toten gebeugt. Mittlerweile steckte der Kopf der Leiche bis zum Hals in einer blauen Plastiktüte aus den Beständen des Reinigungspersonals. Aus derselben Quelle stammten die Gummihandschuhe, die er sich übergezogen hatte.
Der verhüllte Kopf lag auf dem heruntergefallenen Kissen.
Der Plastiksack hatte seit einer Minute einen kleinen Schönheitsfehler. Zu beiden Seiten des verhüllten Kopfes war ein Loch eingestanzt. Ein kleines oben, ein größeres unten.
Das Geschoss hatte das Kissen zwar mühelos durchschlagen, die verräterischen Blutspuren waren allerdings, wie erhofft, im Stoff hängen geblieben.
In der rechten Hand hielt er mit zittrigen Fingern die großkalibrige Pistole, die er aus dem Holster am Gürtel des Toten gezogen hatte. Der beißende Geruch von Nitropulver stand im Raum und reizte seine Schleimhäute.
Der Mann atmete so heftig, als hätte er einen schnellen Lauf hinter sich. Benommen starrte er auf die am Boden liegende Gestalt. Langsam bückte er sich und legte die Pistole vorsichtig neben sich auf den Boden. Die Bedrohung, die auch für ihn selbst von der Waffe ausging, war ihm bewusst.
Erneut wischte sich der Mann den Schweiß von der Stirn. In einer unbewussten Anwandlung von Ekel benutzte er dabei nicht seine gummigeschützte Hand, sondern den Ärmel seines Jacketts, weil er mit dem Latex die Leiche angefasst hatte. Dann gab er sich einen Ruck, hob den Kopf des Toten und stülpte eine zweite Plastiktüte über die erste. Dabei achtete er sorgfältig darauf, dass er nicht mit dem Blut auf dem Kissen in Berührung kam.
Suchend irrte sein Blick durch den halbdunklen Raum. Als er nicht fündig wurde, bückte er sich und zog sich einen Schnürsenkel aus einem seiner Schuhe. Damit band er die beiden Plastiktüten am Hals der Leiche zu. Dabei versuchte er die Nachgiebigkeit des Fleisches zu ignorieren, die ihm bewusst machte, dass er gerade einen menschlichen Kopf verpackte.
Die Waffe! Er musste sich noch um die Waffe kümmern. Tief durchatmend ging er neben der Leiche in die Hocke, drückte ihr den Griff der Waffe in die rechte Hand und schloss die schlaffen Finger darum. Mit Bedacht drückte er jeden einzelnen Finger so um den Griff der Waffe, dass es so aussah, als hätte sie der Tote selbst in der Hand gehalten. Er war zwar sicher, dass die Pistole ausschließlich die Fingerabdrücke des Toten trug, aber es wäre ja möglich gewesen, dass er sie mit den Handschuhen verwischt hatte. Anschließend überlegte er kurz, dann steckte er die Pistole ins Schnellzugholster am Gürtel der Leiche zurück. Dort war sie vorläufig sicher verwahrt.
Atem schöpfend blieb der Mann noch einen Moment stehen und starrte auf die reglose Gestalt mit der Plastikhaut über dem Kopf. Obwohl ihm die Sache, jetzt, nachdem er nicht mehr in die gebrochenen Augen des Getöteten blicken musste, etwas leichter fiel, stand er noch immer unter Strom.
Er rief sich zur Ordnung und löste sich aus seiner starren Haltung. Für Bedenken war jetzt keine Zeit. Er musste fertig werden. Noch gab ihm das Adrenalin in seinen Adern die Kraft, diese nervenzehrende Ausnahmesituation zu meistern. Er ahnte aber, dass dieser Zustand nicht mehr lange andauern würde.
Er fasste die Leiche an den Schultern und zog sie ein Stück zur Seite, dann hob er das Kissen weg. Im Parkettboden wurde ein kleines, kalibergroßes Loch sichtbar. Hier war das Projektil eingedrungen, nachdem es den Schädel des Opfers durchschlagen hatte. Diese Spur war in der Hektik, die ihm die vergangene Stunde aufgenötigt hatte, leider nicht zu vermeiden gewesen.
Das Kissen verschwand ebenfalls in einem Plastiksack. Dann zog er den schweren Teppich, von dem er vor dem Schuss an einer Ecke das Teppichklebeband gelöst und ihn dann zurückgeschlagen hatte, wieder an Ort und Stelle und drückte das Klebeband fest. Zufrieden knurrte er. Das Loch war nun nicht mehr zu sehen.
Er verließ das Arbeitszimmer und betrat den Flur. Dort lauschte er kurz. Es war aber nur das Rauschen des Blutes in seinen Adern zu hören.
Die nächtliche Sparbeleuchtung des Flures genügte ihm. Ohne Zögern hastete er in einen abzweigenden Nebengang. Er betrat ein anderes Büro. Hier herrschte die typische Atmosphäre eines Raumes, in dem mehrere Menschen in einer gewissen Enge zusammenarbeiten mussten. Durch die offengelassene Tür kam der Schein der Flurlampe und bot gerade soviel Licht, dass er sich orientieren konnte.
Die Einrichtung des Büros wurde von einem ärmlich anmutenden Puzzle aus abgenutzten Möbeln und einigen Accessoires moderner Bürotechnologie geprägt. Der Gegensatz zur repräsentativen Einrichtung der Büros der Führungskräfte war augenfällig.
Für solche sozialkritischen Gedanken hatte der Mann allerdings jetzt keinen Kopf. Er packte einen hier abgestellten Transportwagen für Geschäftspost und zog das abgenutzte Gefährt hinter sich her auf den Flur. Das Klappern der schlackernden Räder schallte über den Gang. Obwohl er sicher war, im Hause allein zu sein, strapazierte das metallische Geräusch seine sowieso schon zum Zerreißen angespannten Nerven zusätzlich.
Er schob den Karren neben den leblosen Körper. Sein erster Versuch, die Leiche auf den Karren zu heben, misslang kläglich. Wie ein nasser Sack fiel der Körper mit einem dumpfen Geräusch auf den Teppich zurück.
Nervös lockerte er sich die Krawatte, um besser atmen zu können. Dann griff er noch einmal beherzt zu. Der Tote hatte einen sportlich trainierten Körper und mochte gut seine 90 Kilo wiegen. Ihm kam der schlaffe Leichnam allerdings noch wesentlich schwerer vor.
Endlich hatte er die Leiche auf der Ablagefläche des Kar-rens. Um die baumelnden Arme unter Kontrolle zu bringen, klemmte er sie unter den Körper. Er hob das Weinglas vom Boden auf und steckte es in den Plastiksack zu dem Kissen, dann schob er den Sack in eines der Fächer des Transportkarrens. Das zweite Glas ließ er auf dem Tisch stehen.
Der Mann warf einen letzten Kontrollblick in die Runde, dann öffnete er die Tür zum Flur und schob den Karren wieder hinaus. Bedingt durch die Belastung hatten die Räder nun deutlich besseren Bodenkontakt und klapperten nicht mehr.
Er ging in das Büro zurück und knipste die Schreibtischlampe aus. Dann verließ er den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Die Putzfrau würde sich am nächsten Tag zwar etwas über das nicht verschlossene Büro wundern, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie dem keine große Bedeutung beimessen würde. In einigen Tagen würde sie es vergessen haben.
Langsam schob er den Karren zum Aufzug. Jetzt war das Gefährt zwar leise, dafür entwickelte es ein höchst eigensinniges Fahrverhalten. Stur versuchte es immer wieder gegen die Wand zu rollen, was er nur durch anstrengendes Gegenlenken verhindern konnte.
Das Gefährt mit seiner Last und er passten gerade so eben in die Kabine hinein. Im Erdgeschoss verließ der Mann den Lift und sah sich nach beiden Seiten des Flures um. Erwartungsgemäß war auch hier keine Menschenseele zu sehen.
Er schob den Karren zum südlichen Ausgang des Hauses, öffnete die Tür und trat in einen Vorhof hinaus. Milde Nachtluft umfächelte ihn und kühlte seine heiße Stirn. Eine düstere Lampe erhellte diesen Bereich nur dürftig. Ihm kam das Schummerlicht gerade recht. Vorsichtig schloss der Mann ein weiteres, schwereres Tor auf, das den Vorhof von der Straße trennte.
Von seiner Position konnte er ein Stück des Vorplatzes einsehen. Der Platz war menschenleer. Aus der Ferne vernahm er das Gelächter von Menschen. Da er nicht wusste, ob sie näherkommen würden, hastete er ins Haus zurück. Jetzt musste es schnell gehen. Er zog die Leiche vom Aktenkarren herunter und schleppte sie mit schleifenden Schuhen durch den Vorhof zum Tor. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass draußen noch immer alles ruhig war, zerrte er den leblosen Körper hinaus und plazierte ihn an einer ihm geeignet erscheinenden Stelle. Der Mann hatte das Gefühl, dass bereits langsam die Leichenstarre einsetzte. Er zog die Pistole aus dem Holster und legte sie neben die herunterhängende Hand der Leiche, so dass es aussah, als wäre sie dem Toten nach dem Schuss aus der Hand geglitten. Mit einem letzten kritischen Blick überzeugte er sich davon, dass die Szene die Illusion eines Selbstmordes vermittelte. Danach eilte er zu seinem Auto, das er in unmittelbarer Nähe geparkt hatte und verstaute dort den Plastiksack mit dem Kissen und dem Glas. Dann hastete er ins Haus zurück. Einen Moment später ließ er sich erschöpft in den Bürosessel seines Arbeitszimmers fallen. Während er sich noch an dem Hochgefühl seiner Tat berauschte, zog er die Gummihandschuhe von den Händen und steckte sie in seine Aktentasche. Er musste noch die Unterlagen für den nächsten Tag zusammensuchen.
Erich Rottmann stemmte seine 103 Kilogramm Lebendgewicht, bei immerhin 175 Zentimetern Körpergröße, etwas schwerfällig von der Sitzbank hoch und schnappte sich seine ausgebeulte, graugrüne Lodenjacke, die er neben sich auf die Bierbank gelegt hatte. Diese Jacke war für Rottmann kein Kleidungsstück im herkömmlichen Sinne. Sie war Ausdruck seiner Lebenseinstellung. Rottmann liebte es leger, locker, ausgebeult, dafür aber strapazierfähig in der Funktionalität. Er hasste die einschnürende Enge eines Gürtels und liebte die elastische Nachgiebigkeit von Hosenträgern. Seine Schuhe waren ausgetreten, aber bequem. Er besaß maximal zwei Paar, denen hielt er aber die Treue, bis sie irgendwann auseinanderfielen. Seine modische Präferenz, wenn man bei Rottmann überhaupt von einer solchen sprechen konnte, ging in Richtung kariertes Holzfällerhemd mit großen Brusttaschen, wobei er Erdfarben bevorzugte. Wohl eine Prägung aus seiner Jugend, die er bis zu seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr in Gramschatz auf dem elterlichen Bauernhof verbracht hatte. Später hatte ihn dann der Beruf nach Würzburg verschlagen, wo er seitdem wohnte.
„Meine Herren, es war sehr schön, aber ich mach mich jetzt vom Acker. Ich wünsch euch noch was. – Man sieht sich.“
Seine Aussprache wirkte leicht verschwommen. Statt eines Handschlags klopfte er vernehmlich mit den Knöcheln auf die Tischplatte.
Alle Mitglieder des Weinstammtisches Die Schoppenfetzer, die zu dieser späten Stunde zwar körperlich komplett, aber geistig nur noch teilweise gegenwärtig waren, klopften einmütig zurück.
Die Schoppenfetzer waren eine lockere Interessengemeinschaft ehemaliger und aktiver Kriminalisten und Juristen, die alle eines gemeinsam hatten: die Liebe zum Frankenwein. Ihr Stammlokal war normalerweise der Maulaffenbäck, ein altes, traditionsreiches Weinlokal in der Würzburger Innenstadt. Nur zur Zeit des Weindorfes tagte der Stammtisch extern.
„Erich, was ist denn heute mit dir los“, rief Dr. Horst Ritter, im Ruhestand befindlicher, ehemaliger Leitender Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Würzburg, „Du schwächelst aber gewaltig! Oder musst du daheim noch deine Hühner füttern?“
Mehr oder weniger infantiles Kichern der Stammtischbrüder war die Reaktion auf diesen albernen Scherz. Jeder dieser honorigen Herren befand sich mehr oder weniger ausgeprägt in jenem Stadium schwebender Weinseligkeit, die auch die ernsthaftesten Männer in den Entwicklungsstand kleinkindlichen Humorverständnisses zurück führte.
Horst Ritter war verwitwet, lebte jedoch seit dem Ableben seiner Gattin seit mehreren Jahren in einem streng eheähnlichen Verhältnis mit seiner ehemaligen Chefsekretärin. Hinter vorgehaltener Hand munkelte man am Stammtisch, dass im gleichen Umfang, wie er früher dieser Dame ihre Aufgaben diktiert hatte, diese nun ihrerseits die Regeln der heimischen Politik bestimmte. Vermutlich mit ein Grund, weshalb Dr. Ritter zu den aktivsten Mitgliedern des Stammtisches zählte.
„Wahrscheinlich muss er noch abspülen“, zischelte Ron Steiner, emeritierter Seniorpartner einer großen Anwaltskanzlei. Ron Steiner zischelte eigentlich immer. Ab dem vierten Schoppen machte sich allerdings der dürftige Sitz seiner dentalen Vollprothese immer besonders nachteilig bemerkbar und verstärkte diese Lautäußerung so, dass er jeder bissbereiten Kobra hätte Konkurrenz machen können. Seine Bemerkungen zielten auf den notorischen Junggesellenstatus von Erich Rottmann. Eine mehr oder weniger offen gezeigte Neidhammelreaktion der überwiegend in sehr geordneten Verhältnissen lebenden Stammtischbrüder.
Wieder kicherte die Runde, diesmal aber verhaltener.
„Meine Herren, für solche niedrigen Aufgaben gibt es Spülmaschinen“, entgegnete Rottmann mit leichtem Zungenschlag. Dann kommandierte er überflüssigerweise: „Öchsle, bei Fuß!“
Er winkte abschließend, ohne bestimmten Adressaten, in die Runde und machte sich dann, leicht schwankend, auf den Weg zum Ausgang der Weinhütte, dicht gefolgt von Öchsle, seinem vierbeinigen Schatten. Einer kniehohen, rauhaarigen, schwarzgrauen Promenadenmischung mit Knickohren, die ihrem Herrn in treuer Ergebenheit auf Schritt und Tritt folgte.
Einer seiner letzten Fälle als Leiter der Würzburger Mordkommission hatte Rottmann vor zwei Jahren in das Würzburger Tierheim geführt. Ein kleiner Welpe, der seinerzeit mit dem Stigma ‚Vater unbekannt, Mutter verschollen vor dem Heim in einer Pappschachtel ausgesetzt worden war, fiepte sich mit aller ihm zur Verfügung stehenden Treuherzigkeit in Rottmanns Herz. Wenig später war der Kriminalbeamte stolzer Hundebesitzer. Diese Adoption hatte Rottmann niemals bereut.
Der ehemalige Erste Kriminalhauptkommissar hatte ja keine Ahnung von Hundeerziehung. Das war aber auch nicht nötig. Öchsle erzog sich gewissermaßen selbst. Anders ausgedrückt, er las seinem Herrn alle Wünsche von den Augen ab und handelte danach. Seinen weingetränkten Namen hatte er der Neigung zu verdanken, hin und wieder einmal, wenn sein Herrchen guter Laune war, einige Tropfen Trockenbeerenauslese schlappern zu dürfen.