Kitabı oku: «Jenseits des Spessarts»
Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben. Er ist Rechtspfleger (Fachjurist), verheiratet, drei Kinder. Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich (ca. 65 Bücher). Außerdem hat er bisher Hunderte Kurzerzählungen veröffentlicht. In den letzten Jahren hat er sich vermehrt dem Genre Krimi zugewandt und in diesem Zusammenhang bereits einige Kriminalerzählungen veröffentlicht.
2003 kam ihm die Idee für einen Würzburger Regionalkrimi. „Der Schoppenfetzer“ war geboren. Diese Reihe hat sich mittlerweile als erfolgreiche Serie in Mainfranken und zwischenzeitlich auch im außerbayerischen „Ausland“ etabliert. 2013 ist der erste Band der Simon-Kerner-Reihe mit dem Titel Blutiger Spessart erschienen. Es folgte Das letzte Schwurgericht, anschließend Todwald – Der Spessart tötet leise – Die Spur des Wolfes – Im Spessart lauert der Tod und zuletzt Spessartblues – Zerbrochene Seelen. Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung „Das Syndikat“. Seit 2013 widmet er sich beruflich ausschließlich dem Schreiben.
Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.
Jenseits des Spessarts
Ein Simon Kerner Thriller
Prolog
Die Stimme
Als sich das Telefon im Arbeitszimmer kurz nach Mitternacht mit einem speziellen Klingelton meldete, zuckte der Angerufene leicht zusammen. Diese Tonfolge, die nur der Stimme vorbehalten war, hatte er schon lange nicht mehr gehört. Es war geraume Zeit verstrichen, seit sich die Stimme das letzte Mal gemeldet hatte. Damals kündigte sie den Angriff einer feindlichen Clique auf seine Familie an. Der Angriff erfolgte dann auch, sie konnten ihn aber erfolgreich abwehren. Dabei wurde aber ein männliches Familienmitglied getötet und mehrere schwer verletzt. Ein Preis, den man bereit sein musste, zu zahlen, weil er dem Ganzen diente. Seitdem hatte er sein Gebiet ausdehnen und seine Macht festigen können. Er würde der Stimme zwar niemals absolut vertrauen, aber er hatte die Person hinter der Stimme in der Hand. Freiwillige Loyalität war etwas Schönes, aber eine anfällige Pflanze, die durch Egoismus, Geldgier und Machtstreben leicht zerstört werden konnte. Er bevorzugte wirkungsvollen Druck, mit Angst als Basis. Der Angerufene verfügte über ein ganzes Repertoire dieser Druckmittel gegenüber verschiedenen Menschen, auch gegenüber der Person, die er nur Die Stimme nannte. Paranoid, wie sie war, rief sie immer mit einer technisch verfälschten Stimme an, so auch jetzt. Furcht vor Tod oder Leid war eines, aber nicht das wirkungsvollste Instrument, über das er verfügte. Er förderte die Person hinter der Stimme, ließ sie aufsteigen, so hoch, dass die Angst vor einem Absturz viel schwerer wog als die Furcht vor einer schnellen Kugel. Der Angerufene meldete sich: „Es freut mich, wieder einmal von dir zu hören“, erklärte er ohne Begrüßungsfloskeln. „Was gibt es?“
„Es braut sich politisch etwas zusammen“, erwiderte die Stimme ohne Einleitung. „Ihr habt es übertrieben. Insbesondere die Familie von Mustafa al-Asmani. Zu viele schwerwiegende Verstöße gegen das Strafgesetzbuch. Manche seiner jungen Männer glauben, sie könnten sich alles erlauben. Die jüngste Schießerei in einem Döner-Imbiss mit zwei Toten hat das Fass zum Überlaufen gebracht.“
„Daran waren wir nicht beteiligt“, gab der Angerufene zurück.
„Die Falken in der Regierung differenzieren da nicht. Die Nachrichten von Zwangsheiraten, die Übergriffe auf Polizeibeamte und dann ein Ehrenmord auf offener Straße. Ihr denkt, das geht immer weiter so. Ich fürchte, hier wird sich bald einiges ändern. Ich kann dir nur raten, deine Familie zu disziplinieren.“
Ehe der Angerufene noch etwas erwidern konnte, klickte es in der Leitung. Die Stimme hatte aufgelegt. Er lehnte sich auf dem bequemen Diwan zurück und blickte zum Fenster hinaus. In der Ferne sah er die beleuchtete Festung Marienberg. Die Stimme hatte recht. In der letzten Zeit waren die jungen Männer von beiden Spessart-Clans zu aufmüpfig geworden. Sie respektierten nur noch ihre eigenen Gesetze und Regeln. Im Prinzip waren sich die beiden Clan-Chefs im Großraum Spessart einig, die Finger vom Einflussbereich des jeweils anderen zu lassen. Er überlegte kurz, ob er dem gegnerischen al-Asmani-Clan eine Warnung zukommen lassen sollte, entschied sich dann aber dagegen.
Die sengende Sonne hatte zahlreiche Wasserlöcher im Addo Elephant National Park völlig ausgetrocknet. Die Wildtiere versammelten sich notgedrungen an den wenigen noch ergiebigen Wasserstellen. Die Not der Grasfresser bedeutete für die Beutegreifer eine Zeit des Überflusses. Leoparden, Löwen, Wildhunde und Hyänen konnten dort ohne große Anstrengung Beute machen. Sie mussten nur geduldig warten.
Simon Kerner saß im Büro der Rangerstation und schrieb Berichte für das Ministerium. Seit gut fünf Jahren lebte er jetzt mit seiner kleinen Familie in Afrika als Chef der Wildererbekämpfungstruppe im Addo Elephant National Park, Provinz Ostkap in Südafrika.
Vor einer Woche war ihnen der Schlag gegen eine Bande gelungen, die mit gewildertem Elfenbein schmuggelte. Sosehr ihn der Erfolg der Aktion freute, so sehr nervte ihn immer die anschließend notwendige Büroarbeit. Heute schweiften seine Gedanken immer wieder zu Clara ab. Seine Lebensgefährtin Theresa war am frühen Morgen mit der gemeinsamen Tochter bei einem wichtigen Termin im St.-Georges-Krankenhaus von Port Elizabeth. Clara, die mittlerweile vier Jahre alt und bisher glücklich und frei unter den Männern des Camps aufgewachsen war, zeigte seit einiger Zeit merkwürdige Symptome. Das immer sehr lebhafte Kind wirkte in den letzten beiden Wochen oft müde und abgeschlagen, ohne erkennbare Ursache. Hin und wieder blutete sie aus der Nase und sie klagte über Gliederschmerzen. Zuerst beruhigten sich die Eltern damit, dass Clara einfach zu viel herumtobte. Dann traten diese Zustände vermehrt auf, zudem war das bisher immer ausgeglichene Mädchen oft quengelig und wirkte dabei schwach und teilnahmslos. Da sie hier in der Wildnis relativ weit von jeglicher ärztlichen Versorgung entfernt lebten, entschieden sich Theresa und Simon, das Kind gründlich untersuchen zu lassen. Theresa war gestern zu diesem Zweck mit Clara ins Krankenhaus gefahren. Nun wartete er auf eine beruhigende Nachricht.
Kerner wurde aus seinen Gedanken gerissen, denn auf der Veranda des Bungalows hörte er das Trampeln von Stiefeln. Rex, Kerners Rhodesian Ridgeback, der, wie immer, wenn Kerner im Büro arbeitete, auf dem Fell einer Antilope vor seinem Schreibtisch lag, hob wachsam den Kopf. Da er keinen Warnton von sich gab, kannte der Rüde die Person, die es so eilig hatte. Schon klopfte es hart an die Tür und Richard, Angehöriger des Volkes der Zulu und Ranger der Nationalparkverwaltung, trat ein. Im Laufe der Jahre hatte er sich zu Kerners rechter Hand entwickelt. Er nickte Kerner knapp zu, dabei erklärte er sichtlich erregt: „Chief, ich habe gerade routinemäßig die Standorte der Sender kontrolliert. Bei Onna, der Nashornkuh, gibt es eine Auffälligkeit. Bisher war sie mit ihrem Kalb ziemlich standorttreu in der Umgebung des Wasserlochs 7 herumgezogen. Nach den Aufzeichnungen hat sie sich in den letzten Stunden kein Yard bewegt. Deshalb habe ich die Drohne hingeschickt.“
Kerner runzelte die Stirn. Im Auftrag der Reservatsverwaltung hatten sie mehrere Elefanten und Nashörner mit Sendern versehen, um die Tiere jederzeit auffinden zu können.
Die Rangerstation verfügte über eine leistungsfähige Drohne, mit deren Hilfe sie sehr wirkungsvoll bestimmte Gebiete des Reservats überprüfen konnten.
Der Ranger sah ihn aufgeregt an.
„Es tut mir leid, Chief. Wie es aussieht, wurde Onna getötet. Sie liegt regungslos in der Nähe des Wasserlochs 7, das Kalb steht bei ihr.“
Kerner schlug zornig mit der Hand auf den Schreibtisch. Rex sprang erschrocken auf und stellte die Ohren. Der Chief wusste, was diese Aussage bedeutete. Wilderer! Die Bande war mit Sicherheit schon über alle Berge.
„Diese verdammten Verbrecher!“, fluchte er, dabei erhob er sich. „Wir müssen sofort raus und zumindest das Kalb retten. Verständige die Männer, damit sie die Transportbox fertig machen. Du weißt, was zu tun ist!“
Richard nickte, dann drehte er sich um und eilte hinaus. Einen Augenblick später hallte seine Stimme über das Gelände.
Simon Kerner griff sich mit grimmiger Miene das Holster mit seinem Revolver vom Haken und schnallte es sich um. Anschließend öffnete er seinen Waffenschrank, entnahm ihm seine ständige Begleiterin im Busch, die Heckler & Koch, und zusätzlich das Narkosegewehr. Obwohl das Kalb für die Männer sicher noch nicht gefährlich war, war es alleine aufgrund seines Gewichts ohne Betäubung nicht zu handeln. Er griff sich den Koffer mit dem Betäubungsmittel.
Wenig später waren sechs Ranger mit dem Kleinlaster und der Transportbox unterwegs. Kerner fuhr mit dem Jeep voraus, Rex saß hechelnd neben einem der Männer auf der Rückbank. Er spürte die Anspannung seines Herrn und war entsprechend aufgeregt. Als sie sich dem Wasserloch näherten, verlangsamten sie das Tempo. Sie wollten das Kalb nicht erschrecken. Auf den umstehenden Bäumen versammelten sich bereits einige Geier, die die tote Nashornkuh als reichhaltige Nahrungsquelle ausgespäht hatten. Durch die Annäherung der Fahrzeuge wurden sie aufgescheucht, stiegen schwerfällig auf und begannen in großer Höhe Kreise zu ziehen. Die Männer machten die Motoren aus, blieben aber bei den Fahrzeugen, um das Kalb nicht zu beunruhigen.
Mit dem Fernglas konnte Kerner die tote Nashornkuh schnell ausmachen. Sie lag ungefähr hundert Meter von ihnen entfernt. Dicht bei ihr stand das Kalb. Es sicherte mit spielenden Ohren herüber. Da sich die Mutter aber nicht bewegte, verharrte es am Platz. Simon Kerner begutachtete es einen Moment. Nach seiner Einschätzung wog es wohl schon eine halbe Tonne. Er stieg aus und stellte den Koffer mit den Betäubungsutensilien auf den Sitz. Dann bereitete er die Spritze vor. Das Betäubungsgewehr arbeitete mit einer CO2-Kartusche als Treibmittel. Kerner lud es. Er würde nur einen Schuss zur Verfügung haben. Die Treffergenauigkeit des Gewehrs lag bei etwa fünfzig Metern. Um sicherzugehen, würde er so nahe wie möglich rangehen. Rex bekam den Befehl, im Jeep zu bleiben, dann winkte er seinen Männern zu. Sie sollten sich bereithalten, das Kalb zu verfolgen, denn die Wirkung des Narkosemittels trat nicht sofort ein. Langsam begann sich der Ranger auf das Kalb zuzubewegen. Aufmerksam beobachtete es jede seiner Bewegungen. Als er sich bis ungefähr auf die Leistungsgrenze des Gewehrs genähert hatte, machte es plötzlich ein paar Sprünge von der Mutter weg. Da sie sich nicht bewegte, wurde es unsicher und blieb wieder stehen. Im Zielfernrohr des Gewehrs war ein Entfernungsmesser eingebaut. Das Kalb war nur noch etwas mehr als vierzig Meter von ihm entfernt, als er stehen blieb, es anvisierte und den Schuss abgab. Es gab ein zischendes Geräusch, als sich das CO2 in die Druckkammer entlud. Der Pfeil drang in die Keule des Kalbes ein und das Betäubungsmittel wurde injiziert. Erschrocken rannte das Kalb los, verharrte dann aber wieder. Es sicherte zu seiner Mutter hin. Unschlüssig blieb es stehen. Nach ungefähr drei Minuten begann die Narkose einzusetzen. Langsam legte sich das Kalb nieder. Schließlich sank sein Kopf auf den Boden.
Simon Kerner gab seinen Männern ein Zeichen. Im Schritttempo kamen sie mit dem Lkw angefahren. Sie reichten ihm einen Lappen, den er über die Augen des Kalbes legte, damit sie nicht austrockneten. Jetzt musste es flott gehen! Sie stellten die Transportbox so vor den Kopf des betäubten Tieres, dass sie mit der Ladefläche des Lkws eine Linie bildete. Mit Hilfe der Seilwinde, die hinter dem Führerhaus des Lasters angebracht war, zogen sie das Kalb in die Transportbox und diese dann auf die Ladefläche. Nachdem das geschafft war, wischten sich die Männer den Schweiß von der Stirn. Die Betäubung sollte noch einige Zeit anhalten. Das Kalb kam jetzt zu einer Auffangstation für Tierwaisen, wo es eine reelle Überlebenschance haben würde.
Simon Kerner betrachtete die getötete Nashornkuh. Ein schlimmer Verlust, der bei der Bedrohung dieser Art nicht ausgeglichen werden konnte. Sie würde den Aasfressern der Steppe ein paar Tage reichlich Nahrung bieten.
Kerner setzte sich in seinen Jeep und wendete. Rex forderte sein Recht und erhielt ein paar Streicheleinheiten, in dem Augenblick piepte sein Funkgerät.
„Kerner, bitte kommen.“
„Simon“, meldete sich die Stimme Theresas, die er fast nicht erkannt hätte. „Clara und ich sind wieder im Camp. Dauert es noch lange, bis du wieder nach Hause kommst?“
Alarmiert drückte er auf den Sprechknopf. „Ich bin schon auf dem Rückweg.“ Er gab Gas und raste, eine weithin sichtbare Staubfahne hinter sich herziehend, über die Piste. Sein Gefühl ließ ihn Schlimmes erwarten.
Er brachte den Jeep vor seiner Wohnung zum Stehen und sprang aus dem Wagen. Mit Rex im Gefolge eilte er ins Haus. Kerner stellte die Gewehre in die Ecke, da war Theresa auch schon bei ihm und fiel ihm um den Hals. Ein lautes Schluchzen kam aus ihrem Mund. Er strich ihr beruhigend über den Rücken.
„Theresa, was ist denn los? Wo ist Clara?“
Es dauerte einen Moment, ehe sie wieder in der Lage war, sich verständlich auszudrücken. Sie löste sich von ihm.
„Unser Kind hat Leukämie!“, kam es gepresst aus ihrem Mund. Simon Kerner hatte das Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Mit weit aufgerissenen Augen sah er seine Lebensgefährtin an.
„Leukämie? Das ist doch Unsinn! Wie kann das sein? Da haben sich die Ärzte mit Sicherheit getäuscht!“ Er sah sich um. „Wo ist Clara?“, fragte er erneut.
Theresa hatte sich mittlerweile wieder etwas gefasst. „Nein, Simon, es ist kein Irrtum. Die Ärzte haben die Untersuchungen mehrfach gemacht, um eine Fehldiagnose auszuschließen.“ Sie ging zum Tisch und ließ sich nieder. „Die Fahrt hierher hat das Kind schon wieder total erschöpft. Sie liegt in ihrem Bett und schläft. Wir müssen zukünftig Anstrengungen möglichst vermeiden.“
Simon Kerner stand noch immer wie versteinert im Raum und starrte vor sich hin. „Wie kann so etwas sein?“, wiederholte er. „Sie war doch immer gesund …“
„Das habe ich die Ärzte auch gefragt“, entgegnete Theresa. Sie schenkte sich aus einer Karaffe auf dem Tisch ein Glas kalten Tee ein. „Sie konnten mir auch keine befriedigende Antwort geben. Solche Fälle gibt es ganz einfach.“
Langsam tastete sich Kerner ebenfalls zu einem Stuhl. „Aber das ist doch sicher heilbar?“
„Ich wurde umfassend aufgeklärt. Bei Kindern ist diese Krankheit sehr gefährlich, da die Zellerneuerung bei ihnen wesentlich schneller vonstattengeht als bei Erwachsenen. Wir dürfen keine Zeit verlieren, die Behandlung muss umgehend erfolgen!“
„Wie?“
„Zuerst kommt eine Chemotherapie. Damit kann man das Fortschreiten der Krankheit aufhalten. In der Zeit muss man dann einen geeigneten Spender für eine Knochenmarktransplantation finden.“ Sie atmete tief durch. „Die Heilungschancen liegen bei bis zu 80% … wenn wir wirklich schnell agieren!“
Kerner starrte schweigend vor sich hin. Sie sah ihn an und legte ihre Hand auf seine. „Simon, wir müssen zuversichtlich sein … für unser Kind …“
Er schüttelte den Kopf. „Wie soll das hier im Busch funktionieren? Sie braucht doch bestimmt ständige ärztliche Betreuung von Spezialisten. Ich bezweifle, dass das St.-Georges-Krankenhaus in Port Elizabeth das leisten kann. Hierfür benötigt man eine Einrichtung, die damit Erfahrung hat. Und bei all dem bräuchte sie ihre Eltern in der Nähe.“
„Simon, das klingt ja, als würdest du aufgeben wollen!“ Sie sah ihn entsetzt an.
Kerner sah sie verständnislos an. „Nicht eine Sekunde dürfen wir so etwas denken! Unser Kind benötigt die beste Behandlung, die es bekommen kann!“ Er ballte die Fäuste auf der Tischplatte. „Theresa, es gibt keine andere Lösung: Wir brechen hier unsere Zelte ab und gehen zurück nach Deutschland!“
Der Prozess wegen des Ehrenmordes an einer jungen Araberin, die sich weigerte, einen ihr von den Eltern zugeteilten Ehemann zu heiraten, war gerade zu Ende gegangen. Der Bruder des Opfers glaubte, die Ehre der Familie reinwaschen zu müssen, indem er seine Schwester erschoss.
Nach der Urteilsverkündung, 15 Jahre Freiheitsstrafe wegen Totschlags, begab sich Oberstaatsanwalt Dr. Haenisch in sein Dienstzimmer. Er bedauerte zwar, dass das Schwurgericht bei seiner Entscheidung nicht von Mord ausgegangen war, aber die Anklage war tatsächlich auf etwas tönernen Füßen gestanden und man hatte sie deshalb auf Totschlag reduziert. Es war heute sein letzter Prozess in seiner Eigenschaft als Oberstaatsanwalt gewesen. Übermorgen würde er aus der Hand des Ministerpräsidenten seine Ernennungsurkunde zum Staatssekretär im Innenministerium erhalten. Nach der letzten Landtagswahl hatte ihn der alte und jetzt wiedergewählte Innenminister überraschenderweise gefragt, ob er sich vorstellen könne, für dieses Amt zur Verfügung zu stehen. Ihm schwebe vor, ihn als erfahrenen Juristen bei der Bekämpfung der bandenmäßigen Schwerkriminalität einzusetzen, die sich in den letzten Jahren im Grenzbereich des hessischen und fränkischen Spessarts breitgemacht hatte. Er sollte, mit entsprechenden Vollmachten ausgestattet, der Hydra die Köpfe abschlagen. Nach einiger Bedenkzeit stimmte er zu.
Jetzt musste er nach Bamberg fahren, um aus den Händen der Generalstaatsanwältin Yasmin Römer seine Entlassungsurkunde entgegenzunehmen. Dr. Haenisch hängte seine schwarze Robe in den Schrank. Fast zärtlich fuhr er mit den Fingerspitzen über den samtigen Stoff. Sie hatte ihm viele Jahre treu gedient und nach außen die ihm mit dem Amt zugewachsene Autorität verkörpert.
Wenige Minuten später fuhr er seinen zweisitzigen Sportwagen aus der Tiefgarage des Strafjustizzentrums. Auf der A 7 benötigte er eine knappe Stunde, dann betätigte er die Sprechanlage an der beschrankten Hofeinfahrt des Oberlandesgerichts Bamberg, in dem auch die Generalstaatsanwaltschaft ihren Sitz hatte. Wenig später klopfte er am Vorzimmer der Generalstaatsanwaltschaft und trat ein.
„Grüß Gott, die Frau Generalstaatsanwältin erwartet mich.“
Der junge Beamte im Vorzimmer kannte ihn natürlich. „Grüß Gott, Herr Dr. Haenisch, ich gebe nur kurz Bescheid.“ Er klopfte an eine doppelte Verbindungstür, dann trat er ein. „Herr Dr. Haenisch ist da“, hörte er ihn sagen.
„Ach, schön, er soll doch bitte reinkommen“, hörte er die vertraute, leicht rauchige Stimme von Dr. Yasmin Römer, seit gut zwei Jahren Generalstaatsanwältin im Oberlandesgerichtsbezirk Bamberg. Als Frau in diesem Amt war sie ein Novum in Bayern. Der Beamte ließ den Besucher ein und fragte ihn im Vorübergehen: „Möchten Sie einen Kaffee?“
„Sehr gerne“, erwiderte er, dann wandte er sich der Frau zu, die sich hinter einem ausladenden Schreibtisch erhoben hatte und auf ihn zukam: „Frau Generalstaatsanwältin, vielen herzlichen Dank, dass Sie heute noch den Termin möglich gemacht haben.“
Sie hörten, wie die Tür von außen geschlossen wurde. Schlagartig veränderte sich ihr Verhalten.
„Christian, du solltest es nicht übertreiben.“ Sie ging auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen ihrer Highheels und gab ihm einen Kuss auf den Mund.
„Yasmin, das muss sein. Schließlich erwartet dein Vorzimmerzerberus von mir als kleinem Oberstaatsanwalt, dass ich mich angemessen devot verhalte.“ Sie warf ihm eine Grimasse zu und stach ihm mit dem Zeigefinger spielerisch in den Bauch.
Als es an die Tür klopfte, machte er automatisch einen Schritt rückwärts. Der junge Mann brachte den Kaffee auf einem Tablett und stellte es auf einem mit Intarsien ausgelegten Beistelltisch ab. Zucker, Milch und kleine Gebäckstücke lagen dabei. Mit kurzem Gruß verschwand er wieder.
„Ein ganz schön knackiges Bürschchen hast du dir da vor die Tür gesetzt“, bemerkte Haenisch und grinste.
„Moment, den Jungen habe ich vor kurzem von der Personalverwaltung zugewiesen bekommen, weil seine Vorgängerin sich aus Karrieregründen versetzen ließ.“
Sie ging zum Tisch und schenkte ihrem Besucher Kaffee ein. „Das ist heute also dein offizieller Abschiedsbesuch“, stellte sie fest. „Du bekommst von mir deine Entlassungsurkunde – und das war’s dann …“ Sie klang plötzlich fast ein wenig wehmütig.
„Na ja, das ist halt der offizielle Gang der Dinge“, gab er zurück. „Aber das heißt ja nicht, dass wir uns nicht mehr sehen können. Bei der Aufgabe, die mich zukünftig erwartet, werde ich wohl nicht in München residieren.“
Sie gab zwei Stück Zucker in seinen Kaffee und rührte langsam für ihn um. Dabei sah sie ihn ernst an.
„Dir ist klar, welch gefährliche Aufgabe dir der Minister da angetragen hat?“
Er nahm einen Schluck Kaffee, dann erwiderte er: „Hinter diesem Auftrag steht ein komplexes Projekt, das dem Innenminister sehr am Herzen liegt. Die kriminellen Aktivitäten der arabischen Familienclans haben sich jetzt auch nach Bayern und Hessen verlagert. Vermutlich durch die Flüchtlingsströme der vergangenen Jahre, die teilweise unkontrolliert über die Grenze gekommen sind. Es sind zwei Familien, die in den letzten beiden Jahren vermehrt durch Gewalt aufgefallen sind. Sie verweigern die Anerkennung unseres Rechtssystems und glauben, eine Parallelgesellschaft aufbauen zu können.“ Er nahm sie wieder in den Arm. „Aber wem erzähle ich das. – Wie sieht es heute nach dem ganzen offiziellen Brimborium aus? Hast du heute Abend Zeit?“
Sie lächelte ihn an. „Selbstverständlich bin ich davon ausgegangen, dass du heute Nacht bei mir bleibst. Wer weiß, wann wir wieder einmal so eine Gelegenheit haben.“
Sie ging zum Schreibtisch und nahm eine mit weißblauen Rauten bedruckte Mappe in die Hand, auf der in der Mitte das farbige bayerische Staatswappen zu erkennen war.
„Ich schlage vor, wir bringen es hinter uns“, erklärte sie, wieder sachlich werdend.
Dr. Haenisch nickte und stellte seine Kaffeetasse ab.
Sie griff zum Telefon und sprach mit ihrem Vorzimmer. Wenig später klopfte es an die Verbindungstür und der junge Beamte öffnete, um den Präsidenten des Oberlandesgerichts anzukündigen. In dessen direktem Gefolge betraten einige Staatsanwälte und Richter das Dienstzimmer. Sie begrüßten sich gegenseitig, dann formierten sie sich um den Schreibtisch der Generalstaatsanwältin. Währenddessen öffnete im Hintergrund der Vorzimmerbeamte eine Flasche Sekt. Nachdem die Generalstaatsanwältin ein paar wohlgesetzte Sätze gesprochen hatte, überreichte sie Dr. Christian Haenisch seine Entlassungsurkunde als Oberstaatsanwalt und gratulierte ihm gleichzeitig zu seiner bevorstehenden Ernennung zum Staatssekretär. Haenisch dankte kurz, dann gab es Sekt und etwas Smalltalk, bis sich die Gäste nacheinander verabschiedeten. Nachdem alle gegangen waren, brachte die Generalstaatsanwältin Dr. Haenisch zu ihrer zweiten Tür, die ihr einen direkten Zugang zum Flur ermöglichte, ohne über das Vorzimmer gehen zu müssen. Sie legte ihre Hand auf die Türklinke und gab ihm einen weiteren Kuss.
„Wir sehen uns bei mir um achtzehn Uhr. Ich werde versuchen, rechtzeitig aus dem Haus zu kommen.“
Wieder alleine, blieb sie mitten im Zimmer stehen und sah nachdenklich durch eines der Fenster hinaus ins Grün eines Baumwipfels. Sie wurde von zwiespältigen Gefühlen erfüllt.
Die Generalstaatsanwältin lebte alleine in einem komfortablen, geräumigen Bungalow am Rande von Bamberg. Dr. Yasmin Römers erste Ehe wurde geschieden, ihr zweiter Ehemann verstarb schon nach drei Jahren an Krebs. Obwohl sie zu diesem Zeitpunkt erst sechsundvierzig Jahre alt war, beschloss sie zukünftig alleine zu bleiben und sich verstärkt der Karriere zu widmen, was ihr letztlich ja auch erfolgreich gelang. Ihren letzten Ehenamen behielt sie bei. Für die Karriere waren ausländisch klingende Namen nicht immer dienlich.
Sie lernte Christian Haenisch zufällig bei einem Urlaubsaufenthalt an der Nordsee, ein Jahr nach dem Tod ihres letzten Mannes, kennen. Haenisch hatte gerade eine Beziehung beendet und war ebenfalls frei. Als frisch gebackene Referentin des Justizministers lebte sie damals in München. Er arbeitete schon seit Jahren als Richter am Landgericht Aschaffenburg. Die beiden waren sich sofort sympathisch und landeten schließlich ein paar Tage später nach einem feuchtfröhlichen Tanzabend im Bett. Seitdem hatten sie sich, trotz der steilen Karriere von Yasmin, nicht mehr aus den Augen verloren. Obwohl sie später dann als Generalstaatsanwältin seine Vorgesetzte war, kamen sie gelegentlich, wenn es passte, zu unverbindlichen Treffen zusammen. – So wie heute Nacht.
Am nächsten Morgen, nach einem gemeinsamen Frühstück, verabschiedete sich Christian Haenisch herzlich von Yasmin Römer und ging zu seinem Auto, das einige Straßen weiter in einer ruhigen Nebenstraße parkte. Am Haus der Generalstaatsanwältin patrouillierten aus Sicherheitsgründen vermehrt Polizeistreifen, die ein Auge auf davor parkende Fahrzeuge warfen. Er wollte nicht, dass sein Kennzeichen im Protokoll einer Streife auftauchte. Yasmin Römer stand hinter den dichten Gardinen und beobachtete, wie er wegfuhr.
Als sie mitbekam, dass man Haenisch zum Staatssekretär im Innenministerium ernennen wollte, war sie zunächst betroffen. Das war ein gewaltiger Karrieresprung, mit dem er sie überholte. Gewiss, ihre Ernennung zur Generalstaatsanwältin konnte sie als großen persönlichen Erfolg verbuchen, der sie auch zutiefst befriedigte, allerdings sah sie sich noch nicht auf der obersten Sprosse der Karriereleiter. Sie konnte sich durchaus vorstellen, in einem nächsten Schritt in die bayerische Regierung berufen zu werden. Justizministerin Dr. Yasmin Römer klang sehr gut, wie sie fand. Das Problem war nur, dass ihr Haenisch jetzt kräftig Konkurrenz machte. Als Staatssekretär war er Teil der Regierung und vom Staatssekretär zum Minister war nur ein kleiner Sprung. Besonders dann, wenn er seine neue Aufgabe erfolgreich löste. Sie wandte sich vom Fenster ab. Es gab da noch ein paar gefährliche Punkte in ihrer Vita, die sie unbedingt bereinigen musste, weil sie ihre Karriereträume zerstören konnten.