Kitabı oku: «Dampfer ab Triest», sayfa 2

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Für Bruno selbst machte die Präzision erst den Reiz der Arbeit aus. Ganz so, wie er es von Professor Hans Gross gelernt hatte. Gerne dachte Bruno an die Zeit in Graz zurück. Zwei Semester hatte er bei Professor Gross studiert und war in das systematische Handwerk der Kriminalistik und in die wissenschaftliche Disziplin der Kriminologie eingeschult worden. Erst als er bei Professor Gross zur Lehre gegangen war, hatte er sich mit der Berufswahl seines Vaters ausgesöhnt. In jungen Jahren hatte er Ingenieur, technischer Wissenschaftler oder Konstrukteur werden wollen, seine ganze Faszination hatte der Naturwissenschaft und der sich rasend schnell entwickelnden Technik gehört. Als Jugendlicher waren seine größten Helden nicht etwa die Kriegsherren Napoleon, Prinz Eugen oder Admiral Tegetthoff gewesen, sondern der Erfinder der Schiffsschraube Josef Ressel und der Erbauer der Semmeringbahn Carl Ritter von Ghega. Die ersten Jahre als Polizist hatte er sich wie an einem falschen Ort gefühlt, geradezu wie in einem falschen Leben. Erst als er verstanden hatte, dass die Polizeiarbeit der Gegenwart immer tiefer in die Erkenntnisse der Wissenschaft tauchen musste, war er innerlich zum Polizisten geworden. Die Beförderungen waren danach wie von allein gekommen.

Salvatore Zabini wäre stolz auf die bisherige Laufbahn seines Sohnes gewesen.

*

Max von Urbanau tupfte mit der Serviette seine Lippen und atmete behaglich durch. Auch Carolina beendete das Dîner. Der Graf nickte dem diskret im Hintergrund stehenden Oberkellner zu, der sofort heraneilte.

»Haben Euer Gnaden wohl gespeist?«

»Wohl, wohl, mit besten Empfehlungen an den Küchenchef.«

»Herzlichen Dank, Euer Gnaden.« Damit servierten der Oberkellner und ein Piccolo die Teller ab. »Belieben Euer Gnaden einen Kaffee als Abschluss des Dîners zu nehmen?«

Max von Urbanau winkte ab. »Vielleicht später im Rauchsalon. Carolina, willst du eine Schale Kaffee?«

»Vielen Dank, so spät am Tag trinke ich nie Kaffee. Sonst kann ich nicht einschlafen.«

Damit zog sich der Oberkellner mit einer Verbeugung zurück.

»Meiner Seel, die Makrele war delikat. Hat dir das Dîner gemundet?«

»Oh ja, Papa, sehr gut.«

»Wenn ich schon ans Meer fahre, dann will ich auch Fisch essen.«

»Leicht und bekömmlich. Aber, Papa …«

»Ja?«

»Du sollst doch nicht rauchen.«

»Sieht mich hier irgendjemand rauchen?«

»Du hast eben vom Kaffee im Rauchsalon gesprochen.«

»Der Rauchsalon ist ein Ort für Herren. Da haben naseweise Fräuleins nichts zu suchen.«

»Aber Dr. Röthelstein hat doch …«

»Dr. Röthelstein ist ein Esel und hat mir gar nichts vorzuschreiben. Ebenso wenig wie du!«

Für ein Weilchen saßen der Graf und seine Tochter schweigend bei Tisch. Max von Urbanau bemerkte, wie Carolina wiederholt zum Fenster schaute. Er schmunzelte. »Willst du nicht ein paar Schritte am Hafen machen?«

Carolina blickte hocherfreut hoch. »Darf ich, Papa?«

»Ich habe doch längst bemerkt, dass du es hier im Speisesaal gar nicht aushältst.«

»Oh ja, ich würde so gerne rausgehen und den Hafen erkunden.«

Der Graf schaute auf seine Taschenuhr. Es war halb sieben Uhr. »Denk daran, vormittags unternehmen wir eine Autofahrt nach Duino. Ich muss der Gräfin meine Aufwartung machen, schließlich hat sie mir, als sie erfahren hat, dass ich nach Triest reise, drei Briefe geschrieben. Sie erwartet uns um zehn Uhr Vormittag. Außerdem will ich die Steilküste sehen. Also, liebe Carolina, geh los. Um acht erwarte ich dich zurück.«

»Vielen Dank, Papa.« Damit eilte sie hinaus.

Der Graf erhob sich mühsam und wurde vom Oberkellner in den Rauchsalon geleitet und mit Kaffee, einem Cognac sowie einer Zigarre versorgt. Genüsslich umgab sich der Graf mit dem Duft von erstklassigem Kaffee und der Rauchwolke einer dicken Havanna, auch der Cognac mundete vorzüglich. Ein Mann trat durch den Rauch auf den Ohrenstuhl des Grafen zu.

»Entschuldigt bitte die Inkommodität, Euer Gnaden. Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Giovanni Pasqualini, ich bin Teilhaber und Geschäftsführer der Azienda Commerciale di Porto Nuovo. Die Firma ist spezialisiert auf den Seehandel mit der Levante. Hier ist meine Karte.«

Max von Urbanau warf einen musternden Blick auf den Mann mittleren Alters. Sein Anzug saß tadellos, die Schuhe waren poliert, der Bart akkurat gestutzt, sein Deutsch ganz passabel. Immerhin wurde in diesem Hotel auf angemessene Erscheinung und passende Umgangsformen Wert gelegt. Der Graf verzog seinen Mund und nahm die Karte. »Also, was will er?«

»Wenn Euer Gnaden gestatten, wäre es mir eine Ehre, mit Euch in geschäftlicher Angelegenheit zu sprechen.«

»Für geschäftliche Angelegenheiten wenden Sie sich an meine Advokaturkanzlei in Graz.«

»Leider hat ganz Triest erst heute erfahren, dass Euer Gnaden unsere Stadt mit einem Besuch beehrt, sodass sich keine Gelegenheit ergeben hat, einen Termin mit Eurem avvocato telegraphisch zu vereinbaren.«

»Ich reise privat, da muss nicht die halbe Welt wissen, wo ich bin.«

»Vielleicht erlauben Euer Gnaden dennoch, dass ich Euch mit den Möglichkeiten für gewisse geschäftliche Aktivitäten in unserer bescheidenen Stadt in allgemeinen Zügen vertraut mache?«

Der devote Tonfall und die unterwürfige Gestik des Geschäftsmannes stimmten den Grafen milde, er las den Namen von der Visitenkarte. »Herr Pasqualini, schätzen Sie Zigarren und Cognac?«

»Außerordentlich, Euer Gnaden.«

»Gut, dann setze er sich und leiste er mir Gesellschaft. Und tu er nicht halsbrecherisch tiefstapeln, Herr Pasqualini, weil wenn in der Monarchie die Geschäfte gut geölt laufen, dann bestimmt hier an der oberen Adria. Also, ich bin ganz Ohr.«

*

Der Tod war ein einträgliches Geschäft.

Wenn man sich darauf verstand.

Man musste sich als Mensch dem Tod zur Gänze verschreiben, man musste den Tod jederzeit willkommen heißen, ihn mit größtmöglicher Gastfreundschaft bewirten und immerzu bereit sein, ihm den geforderten Tribut zu zollen. Denn ein so verlässlich wiederkehrender Gast der Tod auch sein mochte, er kam nie umsonst und er forderte unausweichlich seinen Lohn. Diesen hatte man zu bezahlen. Erst dann konnte man als Mensch auch an diesem Geschäft teilhaben und einen Teil des Profits einstreichen. Der Tod musste mit dem Leben bezahlt werden, das war allen klar.

Das Töten war ein lukratives Geschäft.

Wenn man sich darauf verstand.

Die Kunst war, dem Tod nicht das eigene Leben zu überantworten, sondern ein anderes. Kunst konnte brotlos sein, praktiziert von Hungerleidern, Traumtänzern und Verrückten. Kunst konnte aber auch zu Ruhm, Anerkennung und Reichtum führen, wenn sie von Meistern, Virtuosen und Genies praktiziert wurde. Hierin sah er sein Metier.

Der Mann bewegte sich einem Schatten gleich durch die engen Gassen der Altstadt. Er verschwand hinter einer Ecke, trat durch eine versteckte Tür und huschte eine dunkle Treppe hoch. In jeder Stadt konnte man diskrete Zimmer in unscheinbaren Häusern mieten, man musste nur wissen, mit wem man zu sprechen und wie viel man für Diskretion zu bezahlen hatte.

Er hatte alles genau gehört und eine Idee gehabt. Nun galt es, aus der Idee einen Plan zu schmieden. Er war gut in solchen Dingen.

Mord war sein Geschäft.

Weil er sich darauf verstand.

*

Carolina blickte zur roten Sonne am fernen Horizont und sah über das offene Meer. Wie schön! Eine lebhafte Brise schlug ihr entgegen, Wolken zogen schnell vom Meer auf das Land zu, reflektierten das Licht der tief stehenden Sonne und tauchten den gesamten Golf von Triest in glühend rote Abendstimmung. Was für ein großartiges Naturschauspiel. Sie stand am Ende des Molo San Carlo und war fast versucht, die Arme von sich zu strecken, wie eine Möwe die Brise einzufangen und mit wenigen Flügelschlägen weit hinaus aufs offene Meer zu fliegen. Sie war in Euphorie. So schmeckte die Freiheit! Der köstlichste Geschmack der Welt.

Wo war Friedrich?

Carolina wandte sich um und suchte im Gewühl. Auf der rechten Seite des Molo lagen die kleinen Lokaldampfer für den nahen Küstenverkehr, auf der linken Seite die Dampfer des Österreichischen Lloyd, die den adriatischen Schiffsdienst bestritten. Die bedeutendste Schifffahrtsgesellschaft der österreichisch-ungarischen Monarchie bediente nicht nur die Linien in der Adria, sondern dominierte auch den Schiffsverkehr in das östliche Mittelmeer und zum Schwarzen Meer, darüber hinaus verkehrten Überseedampfer auf den Eillinien von Triest nach Indien, China und Japan.

Eben stiegen die Fahrgäste des kleinen Dampfers Metcovich aus und füllten den Molo mit Leben. Wie Carolina sah, kehrte das Schiff von seiner Fahrt aus Venedig zurück. Dienstleute versuchten, das Gepäck der Reisenden zu ergattern, eine Gruppe von Hafenarbeitern machte sich bereit, die Fracht des Dampfers auf zwei bereitstehende Pferdefuhrwerke zu verladen. Die Matrosen an Bord brachten den Kran in Stellung, um die geladenen Holzkisten auf den Molo zu hieven. Rund drei Stunden dauerte die Überfahrt von Triest nach Venedig. Mehrere kleine Dampfer pendelten täglich zwischen den beiden großen Städten der oberen Adria und sorgten für rege wirtschaftliche und kulturelle Kontakte zwischen Österreich-Ungarn und Italien.

Carolina schob sich durch das Gedränge.

Sie schaute an der hohen Eisenwand des Dampfers Gisela empor, der morgen um acht Uhr in Richtung Cattaro ablegen und auf dem Hin- und Rückweg alle großen Hafenstädte der dalmatinischen Küste anlaufen würde. An Bord brannten viele Lichter, so manche Fahrgäste hatten sich schon eingeschifft und schauten von oben herab auf das lebhafte Treiben. Zwei Kinder winkten Carolina. Sie erwiderte den Gruß.

Sie wandte sich ab und suchte wieder nach Friedrich. Da! Zwei Augen blitzten aus der Menge hervor. Sie eilte los, Friedrich griff nach ihren Händen und zog Carolina an sich.

»Da bist du ja endlich!«

»Friedrich, was für eine Freude!«

Eine ganze Weile stand das junge Paar beisammen und bemerkte nichts von all der Geschäftigkeit und dem Trubel um sie herum. Erst als ein Dienstmann seinen Gepäckkarren rumpelnd auf sie zuschob und seine Stimme lebhaft erhob, brach der kurze Zauber des Beisammenseins. Friedrich schaute sich um.

»Lass uns ein Stück gehen«, schlug er vor und bot ihr seinen Arm an.

Carolina hakte sich bei ihm ein. Sie ließen den Molo hinter sich und gingen am Kai entlang. Zahlreiche Segelschiffe waren an der Kaimauer festgemacht, kleine einmastige Brazerra und etwas größere zweimastige Trabakel, die für den küstennahen Transportdienst und den Fischfang eingesetzt wurden. Möwen kreisten in der Luft und Nebelkrähen belagerten sorgsam spähend die Kaimauer.

»Ist dein Vater im Hotel?«

»Ja. Er hat sich in den Rauchsalon zurückgezogen.«

»Wann musst du zurück sein?«

»Um acht Uhr.«

»Wir haben also mehr als eine Stunde für uns! Wie schön.«

»Hast du eine Herberge gefunden?«

»Ja. Ein kleines Haus beim Bahnhof. Das Zimmer ist sehr schlicht, aber still, das Fenster liegt auf der Hofseite. So ist es angenehm. Eine angemessene Unterkunft für ein paar Heller.«

»Du bist so bescheiden.«

»Wer so wie ich von und für die Kunst und die Liebe lebt, braucht nicht viel Geld.«

Carolina kicherte. »Du lebst also für die Liebe.«

»Natürlich! Die Liebe ist eine Schicksalsmacht und beseelt den Menschen, entflammt den Geist und lässt die Herzen pochen. Mein Herz, geliebte Carolina, gehört dir allein.«

»Du bist ein Poet!«

»Und du bist meine Muse«, rief Friedrich theatralisch und hielt an. Er nahm Carolina in den Blick. »Wann können wir endlich beisammen sein? Wann können wir heiraten? Wann können wir Mann und Frau sein, so wie Gott uns schuf und die Natur es von uns verlangt?«

»Du weißt doch, dass das nicht möglich ist.«

»Wann wirst du deinem Vater von unserer Liebe berichten?«

»Noch nicht.«

»Ich will es herausschreien, ich will es in allen Zeitungen annoncieren, ich will es auf Plakate drucken und diese auf allen Litfaßsäulen der Monarchie affichieren, dass ich, Friedrich Grüner, dich, Carolina von Urbanau, liebe und dich immer lieben werde.«

Carolina schaute sich betreten um. »Bitte nicht so laut. Lass uns weitergehen.«

Ein Weilchen gingen sie eingehakt am Kai entlang.

»Morgen früh will mein Vater mit dem Automobil nach Duino fahren. Die Gräfin erwartet unseren Besuch. Abends können wir uns wieder treffen.«

»Ich werde auf dich warten.«

»Hast du genug Geld?«

»Ich brauche nicht viel.«

»Ich kann dir welches geben.«

Friedrich kaute auf seiner Unterlippe. »Ich bin so beschämt, dass ich so arm bin. Ein bettelarmer Schauspieler und Dichter, ich besitze nichts als einen alten Gehrock und ein Paar Schuhe. Und du bist die Tochter eines unermesslich reichen Grafen. Wie kann unsere Liebe in einer verkehrten und verrückten Welt wie dieser nur Bestand haben?«

»Bist du verzweifelt?«

»Ja. Es zerreißt mir die Brust.«

»Aber wir sind doch beisammen.«

»Ich weiß nicht, wie ich es überstehen soll, fast einen Monat mit dir auf hoher See zu sein und dich immer nur aus der Ferne sehen zu können. Was hast du dir nur dabei gedacht, mich dieser Tortur auszusetzen?«

Jetzt hielt Carolina inne, sie blickte erschrocken zu Friedrich hoch. »Bitte lass mich nicht allein auf dieses Schiff steigen. Bitte! Ich brauche dich. Und wenn wir uns nur heimlich treffen und nur wenige Worte wechseln können, so ist dies doch das einzige Glück, das ich für diese Schifffahrt erhoffen kann.«

»Keine Sorge, geliebte Carolina, ich werde mit dir und doch fern von dir an Bord gehen. Ich bin bereit, das Äußerste für dich zu tun. Du hast die Schiffskarte nicht umsonst für mich gekauft.«

»Aber du hast die Karte doch selbst gekauft.«

»Mit deinem Geld.«

»Lass uns nicht vom schnöden Geld sprechen. Das deprimiert mich.«

Schlagartig hellte sich Friedrichs Miene auf. Das war es, was Carolina so an ihm liebte, er trug eine unendliche Heiterkeit in sich. Er konnte aus dem tiefsten Unglück heraus von einem Moment auf den anderen mit nur einem Lachen auf den Lippen der fröhlichste Mensch der Welt werden. Friedrich war ein Wunder. Er wies mit großer Geste um sich.

»Diese Stadt, liebe Carolina, die ich seit meiner gestrigen Ankunft kennengelernt habe, ist ein Wunder der Menschheit, ein Ort der Hoffnung und Zuversicht. Allein welche verschiedenen Sprachen ich an diesem einen Tag meiner Anwesenheit hier schon gehört habe, füllt ganze Lexika. Italienisch, Slowenisch, Deutsch, Furlanisch, Kroatisch, Griechisch, Englisch, Türkisch und Arabisch. Triest ist ein Knotenpunkt der Kulturen, eine Welt für sich und gleichermaßen ein Leuchtturm der Zukunft. Ich liebe diese Stadt. Sieh nur all die vielen Menschen!«

Carolina ließ sich von seiner Begeisterung mitreißen. Ja, auch sie war in den wenigen Stunden seit ihrer Ankunft von der Buntheit der großen Hafenstadt überwältigt. »Erzähl mir von deinen Erlebnissen.«

Die Abendsonne tauchte am Horizont in das Meer. Straßenlaternen erhellten den Kai mit Licht.

Das Automobil

Sein Zuhause war der Hof seiner Eltern. Da, wo er aufgewachsen war, inmitten der Kornfelder und Obstbäume. Egal wie viele Jahrzehnte schon ins Land gegangen waren, der Hof in der Nähe der Auwälder an der Mur würde immer seine Heimat bleiben. Sein älterer Bruder hatte den Hof übernommen. So bestimmte es die Tradition, der Ältere hatte das Vorrecht. Also war er schon in jungen Jahren von Zuhause fortgegangen, hatte in Graz eine Stelle in der Maschinenfabrik gefunden und sich lange Zeit als Arbeiter und Bettgeher durchgeschlagen. Er war aber nicht wie die anderen Burschen vom Land dem Alkohol verfallen, sondern hatte gelernt. Er war ein fähiger Schlosser geworden, einer, den seine Dienstherren gerne beschäftigt und selbst in der Krise nur ungern wieder entlassen hatten. Er hatte weiter gelernt und war in einer Autowerkstatt Mechaniker geworden. Das Instandhalten und Fahren von Automobilen war sein Lebensinhalt geworden. So hatte ihn schließlich der Graf für ein solides Gehalt als Fahrer eingestellt. Rudolf konnte sich wahrlich nicht beklagen, seit er das Automobil des Grafen wartete und fuhr, ging es ihm gut, hatte er ein bequemes Zimmer, reichlich zu essen und eine Werkstatt, über die er alleine verfügen konnte.

Am heimatlichen Hof hatte ihn stets der Hahn geweckt. Früh aufzustehen war für ihn nie ein Problem gewesen. Er hatte nie etwas anderes gekannt. Beim ersten Sonnenschein war er aus dem Bett und hatte sein Tagewerk begonnen. Heute aber weckte ihn nicht der Hahn. Rudolf wusste zuerst gar nicht, wie ihm geschah, wo er war, welches Tier so schreien konnte. Erst als er ans Fenster trat, erinnerte es sich. Er war am Meer, er war in einer Herberge nahe dem Hafen von Triest. Und das markerschütternde Geschrei stammte von einer Möwe. Rudolf öffnete das Fenster und schaute hinaus. Der große Vogel entdeckte ihn, schrie noch einmal und flog davon.

Der Morgen graute. Er musste los. Die Arbeit wartete auf ihn.

Wenig später startete er das Automobil und fuhr los. Auf den Straßen der fremden Stadt begann sich das Leben zu regen. Die ersten Händler öffneten ihre Läden, die Hafenarbeiter trotteten zielgerichtet durch die Gassen, zwei hübsche Wäscherinnen überquerten mit vollgepackten Körben die Straße und schauten bewundernd dem großen und vornehmen Automobil hinterher. Der Graf hatte einen Wagen der Wiener Automobilfabrik Gräf & Stift gekauft, der Wagen war nagelneu, Baujahr 1906, sehr luxuriös und wahrscheinlich die beste Limousine, die man in der gesamten Monarchie kaufen konnte. Das Automobil hatte ein Vermögen gekostet und war der ganze Stolz des Herrn Grafen. Deshalb hatte er den Wagen auch an die obere Adria transportieren lassen. Und Rudolf durfte den Wagen fahren.

Der Bahnhof kam in Sicht. Der Nachtzug musste schon angekommen sein. Es dauerte ein Weilchen, bis Rudolf die richtige Laderampe fand, an der die Überseekoffer des Grafen bereitstanden. Mühsam wurden die drei großen schweren Koffer verladen. Zwei Männer der Bahnverwaltung halfen Rudolf beim Aufladen der wertvollen Fracht. Fast einen Monat würden der Herr Graf und die Komtess auf See sein. Er selbst würde einen Tag nach dem Ablegen des Dampfers den Heimweg nach Graz antreten.

Rudolf fuhr los, ließ den Bahnhof hinter sich. Der Graf hatte ihm die Verantwortung über die sichere Verwahrung der Koffer anvertraut. Bis das Gepäck auf die Thalia geladen werden konnten, würden sie in einem Magazin am Hafen gelagert werden. War es verstaut, würde Rudolf das Automobil für die Fahrt nach Duino vorbereiten. Er hatte schon während der Zugfahrt die Landkarte genau studiert und sich die Route eingeprägt. Der Graf würde nicht klagen können. Es war auch für Rudolf ein Abenteuer. Noch nie war er an das Meer gekommen.

Das Automobil rollte am Kai entlang, überholte einen Zug der elektrischen Straßenbahn. Am Kai standen einige Hafenarbeiter, die den großen Wagen anstarrten, drei junge Burschen winkten mit ihren Mützen und riefen Rudolf auf Italienisch Grüße zu.

Stolz packte Rudolf. Als er sich der Gruppe näherte, betätigte er die Hupe, winkte und trat auf das Gaspedal. Der hochdrehende Motor röhrte auf, die Hafenarbeiter johlten vor Vergnügen, der Wagen sauste schnell an ihnen vorbei. Rudolf genoss die rasante Fahrt am Kai.

Ein Ochsenkarren querte die Fahrbahn. Rudolf betätigte die Hupe. Aber der Ochsenkarren war viel zu langsam und schwerfällig, um rechtzeitig die Fahrbahn freizumachen. Rudolf packte den Bremshebel und zog kräftig daran. Er hörte ein Schnalzen. Der Bremshebel kippte nutzlos nach hinten. Rudolf schrie auf.

Das Bremsseil war gerissen! Das verstand er sofort. Das Automobil raste ungebremst auf den Ochsenkarren zu. Erschrocken hoben die beiden Tiere die Köpfe, der Lenker des Karrens schrie auf.

Rudolf hatte keine Zeit nachzudenken, er handelte sofort. Er umfasste das Lenkrad fest und lenkte zur Seite. Das rechte Vorderrad kam bis auf wenige Zentimeter an den Rand der Kaimauer. Geschafft, er war nicht mit dem Ochsenkarren kollidiert. Er zog das Lenkrad nach links.

Zwei Männer direkt voraus! Sie rissen zu Tode erschrocken ihre Augen auf. Rudolf lenkte nach rechts. Der Wagen schlingerte. Das ausbrechende Heck warf die beiden Männer um. Das Automobil schwankte bedenklich. Nach Leibeskräften versuchte er, den Wagen zu stabilisieren.

Da, ein Poller vor ihm! Und dahinter gestapelte Holzkisten. Wieder riss er das Lenkrad herum. Das Automobil kippte. Der Aufprall schleuderte Rudolf vom Fahrersitz. Es ging so rasend schnell, er hatte gar keine Zeit zu schreien. Er sah die Holzkisten. Dann der Aufprall.

Dunkelheit legte sich um ihn. Völlige Finsternis.

*

Bruno wohnte nach wie vor im Haus seiner Eltern im Stadtteil Cologna, gemeinsam mit seiner Mutter. Einst hatte hier eine Bauernfamilie gelebt, die auf den Berghängen Hühner und Ziegen gehalten und einen kleinen Weingarten bewirtschaftet hatte. Für den Hausgebrauch hatten die Bauersleute Gemüsebeete bestellt. Salvatore Zabini hatte es als hochgestellter Beamter des Zollamtes zu einigem Wohlstand gebracht, und als die landwirtschaftlichen Flächen rund um Triest zusehends von den Wohnhäusern der sich ausbreitenden Stadt verbaut worden waren, hatte er seine Wohnung in der Città Vecchia veräußert und das Haus mit Garten in Cologna gekauft. Die Renovierung nahm einige Zeit in Anspruch. Bruno hatte gute Erinnerungen an die Sprache, Witze und Handgriffe der Bauarbeiter, die unter der strengen Aufsicht seines Vaters den Umbau durchgeführt hatten. Für ihn als Knaben war das eine aufregende Zeit gewesen. Die Arbeiter hatten ihn gemocht, weil er ihnen Wasser, Brot, Käse und Wurst gebracht, weil er ihnen genau zugesehen hatte und sich die Handhabe der Werkzeuge hatte beibringen lassen. Das hatte ihm viel Spaß bereitet und ihn schnell lernen lassen. Den Klang der furlanischen Sprache, der Sprache der Landbevölkerung aus dem Karst, hörte er dort zum ersten Mal, denn seine Eltern sprachen Italienisch und Deutsch.

Die ehemaligen Bauern hatten vom Verkaufserlöse ihrer Liegenschaft eine Wohnung im Borgo Giuseppino gekauft und einen Laden eröffnet, an dem Bruno immer wieder vorbeikam und Gemüse kaufte.

Das Haus verfügte über zwei Eingänge. Durch den Vordereingang betrat man die eigentlichen Wohnräume, die von Heidemarie Zabini bewohnt wurden. Der Hintereingang führte zum ehemaligen Stall, der beim Umbau zu einer kleinen Dienstbotenwohnung umgebaut worden war. Darin wohnte nun Bruno.

Der morgendliche Fußmarsch zur Polizeidirektion war Bruno ein lieb gewordenes Ritual. Mit ausgreifenden Schritten ging er vom Hang hinab in die Altstadt. Das k.k. Polizeiagenteninstitut nahm eine ganze Etage im Gebäude der Polizei­direktion ein. Wie in den anderen Ländern Cislei­thaniens bildete das Polizeiagenteninstitut den nicht uniformierten Wachkörper und war unabhängig von den einzelnen Kommissariaten direkt dem Polizeidirektor unterstellt. Bruno betrat das Polizeigebäude, eilte die Treppe hoch und suchte das Wartezimmer der Kanzlei auf. Mehrere Personen saßen auf den Bänken und warteten. Die Menschen schauten allesamt hoch, als Bruno schwungvoll eintrat und grüßte. Er öffnete die Tür zu Ivanas Bureau. Diese war eben dabei, sich an ihren Arbeitsplatz zu setzen.

»Guten Morgen, Ivana.«

»Guten Morgen.«

»Gibt es Neuigkeiten von Belang?«

»Das Übliche. Kaffee?«

»Bitte ja, so wie immer.«

Er begrüßte die Polizeiagenten, die in ihrem Dienstzimmer arbeiteten. Kurz schaute er in das Bureau von Vinzenz und Luigi. Vinzenz Jaunig saß bereits an seinem Arbeitsplatz und sortierte Akten.

»Guten Morgen«, rief Bruno in Deutsch von der Tür aus.

Vinzenz hob den Blick und erwiderte den Gruß in seiner Muttersprache. Vinzenz war zehn Jahre älter als Bruno, er war vor fünfundzwanzig Jahren aus seiner Heimat Kärnten nach Triest gekommen und sprach fließend Italienisch, aber mit nach wie vor hartem Akzent. Der vierschrötige Mann war mit einer Italienerin verheiratet und Vater von vier Kindern. Sein ältester Sohn leistete eben den Militärdienst und strebte, wie sein Vater, die Laufbahn als Polizist an. Kräftige junge Männer mit einwandfreiem Leumund waren immer gesucht. Die Stadt wuchs und wuchs, da musste sich die Polizeibehörde rechtzeitig nach Blutauffrischung und Verstärkung umsehen.

Bruno zeigte auf Luigis leeren Schreibtisch. »Unser Jungspund schläft noch?«

Vinzenz zuckte mit den Schultern. »Du weißt ja, wie er ist.«

Bruno nickte und schaute zur geschlossenen Tür seines Vorgesetzten. Oberinspector Gellner erschien zumeist erst gegen halb neun in der Kanzlei, schwer vorstellbar, dass er am ersten Tag nach seinem Urlaub früher kommen würde. Auch Emilios Tür war geschlossen. Bruno sperrte die Tür zu seinem Bureau auf, trat ein und öffnete das Fenster. Das Wetter war hervorragend, sonnig, nur mäßig windig und nicht zu heiß. Ein guter Tag für die Arbeit. Er rückte den Stuhl zurecht und nahm am Schreibtisch Platz. Heute war er an der Reihe, sich die Vorträge der Bürger anzuhören. Auch diese Arbeit musste getan werden.

Ivana klopfte an die offen stehende Tür. »Ihr Kaffee.«

»Herzlichen Dank.«

Sie stellte die Tasse ab. »Soll ich die ersten schon vorlassen?«

»Ich brauche noch zehn Minuten. Ich gebe Ihnen Bescheid.«

»Ist recht, Signor Zabini.«

Damit verließ sie sein Bureau. Wohliger Kaffeeduft machte sich breit. Er nahm einen Schluck – köstlich wie immer – und hörte Schritte auf dem Gang. Die Schrittfolge, das Aufsetzen der Schuhe auf dem Parkett, Bruno erkannte daran seinen Kollegen.

Emilio Pittoni machte sich im Türstock breit. »Guten Morgen.«

»Guten Morgen«, erwiderte Bruno den Gruß.

»Du hast also den Bericht über die Rauferei schon geschrieben?«

»Ja.«

»An deinem freien Tag schreibst du Berichte?«

»Das hat sich so ergeben. Ich habe eine Stunde Zeit gehabt.«

Emilio verzog seinen Mund. »Was immer der Dienst befiehlt und die nächste Beförderung einbringt.«

Bruno regte seine Miene nicht. Es war ihm seit Langem klar, dass Emilio dem Zeitpunkt mit Argwohn entgegensah, an dem Bruno ihn in der Hierarchie überholen würde. Und es war auch klar, dass er kaum eine Gelegenheit ausließ, diesen Zeitpunkt hinauszuzögern. Sie waren Kollegen, sie waren Inspectoren I. Klasse, sie waren beide erfahrene Kriminalisten und arbeiteten gemeinsam, aber gute Kollegen oder gar Freunde waren sie nie geworden. Emilio konnte Bruno nicht ausstehen, weil er bei den Damen so beliebt war, weil er so fleißig arbeitete, weil er in Emilios Augen von Oberinspector Gellner bevorzugt wurde. Bruno hingegen misstraute Emilio, weil er seine definitiv vorhandene Intelligenz einsetzte, um mit fragwürdigen Methoden Fälle zu lösen.

»Wie du sagt, was immer der Dienst befiehlt.«

Die laute Stimme Gellners war aus Ivanas Bureau zu hören. Die beiden Inspectoren spitzten überrascht die Ohren. Sieh an, der Oberinspector war heute früher dran als sonst. Gellner lachte herzhaft. Offenbar hatte er aus dem Urlaub gute Stimmung mitgebracht. Die Beamten des k.k. Polizeiagenteninstituts hatten feine Ohren für die Stimmung des Herrn Oberinspectors entwickelt. Bei schlechter Stimmung ging man lieber nicht aus der Deckung, bei guter Stimmung konnte es in der Kanzlei mitunter fidel zugehen. Emilio warf Bruno noch einen nichtssagenden Blick zu und verschwand dann in sein Bureau. Gellner begab sich auf seine Runde, begrüßte seine Männer mit Handschlag, machte Witze und schien dem Wetter entsprechend bestens gelaunt. Gellner rief sie zu einer Besprechung in fünf Minuten zusammen. Die Bürger im Wartezimmer würden sich noch gedulden müssen.

Bruno verrichtete ein paar Handgriffe und trat kurz darauf auf den Gang. Eben huschte Luigi herein und warf Sakko und Hut auf seinen Schreibtisch. Zweifellos hatte Ivana ihn von der kurzfristig angesetzten Besprechung in Kenntnis gesetzt. Die Polizeiagenten brachten ihre Stühle aus den Dienstzimmern, betraten das geräumige Bureau des Oberinspectors und stellten die Stühle in einer Reihe vor dem wuchtigen Schreibtisch ab. Für die beiden Inspectoren standen zwei freie bereit.

Gellner verfolgte mit ernster Miene die Verrichtungen seiner Männer, holte Luft und machte eine einladende Handbewegung »Meine Herren, bitte setzen Sie sich.« Gellner wartete, bis sie saßen. Er fasste Luigi streng ins Auge. »Signor Bosovich, haben Sie es tatsächlich noch geschafft, zeitgerecht Ihren Dienst anzutreten?«

Luigi nickte kleinlaut. »Jawohl, Herr Oberinspector.«

»Ich vermisse Signor Materazzi.«

»Er ist dienstlich im Hafen unterwegs«, erklärte Vinzenz.

Gellner nickte. »Nun denn, meine Herren, ich bitte Sie, mir sorgfältig von den Geschehnissen in der Woche meiner Abwesenheit Bericht zu erstatten. Und fassen Sie die wesentlichen Inhalte Ihrer Tätigkeiten zusammen, auf dass es mir möglich ist, mir ein Bild von den Vorkommnissen zu machen.«

Gellners Sprechweise klang immer irgendwie gestelzt, ganz egal, ob er Deutsch oder das Triestiner Italienisch sprach. Vor sieben Jahren war er zum Leiter des k.k. Polizeiagenten­instituts ernannt worden. Alle im Raum wussten, dass er diese verantwortungsvolle Stelle wegen zweier Umstände erhalten hatte. Zum einen wegen seiner sehr guten Kenntnisse der italienischen Sprache, und zum anderen weil er als Deutsch­österreicher ein Protegé des deutschösterreichischen Statthalters war. Gezielt hatte Prinz Hohenlohe seit seiner Ernennung durch den Kaiser Deutschösterreicher an die wichtigen Hebel der Macht und der staatlichen Sicherheit gehoben.

Doch bevor Gellner das Wort seinen Untergebenen überließ, erzählte er mit stolzgeschwellter Brust und in ausführlichen Worten von seinem Ausritt mit der Jagdgesellschaft des Baron Bruckheim in das Görzer Hinterland, von den geselligen Abenden beim Kartenspiel im Schloss des Herrn Baron, der großartigen Sammlung von historischen Büchsen des Herrn Baron und von den famosen Schusskünsten des Herrn Baron beim Taubenschießen. Die Kriminalbeamten lauschten regungslos dem Vortrag. Nichts anderes hatten sie erwartet.

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26 mayıs 2021
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