Kitabı oku: «Das Nadelöhr»
Günter
Neuwirth
Das Nadelöhr
Roman
IMPRESSUM
ISBN 9783990400364
© 2013 by Styria premium
in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG
Wien · Graz · Klagenfurt
Bücher aus der Verlagsgruppe Styria gibt es in jeder Buchhandlung und im Online-Shop
Lektorat: Reinhard Deutsch
Covergestaltung: Bruno Wegscheider
Layout: Anna Caterina Wegscheider
Coverfoto: 123rf.com/pixelery
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
Alle Rechte vorbehalten
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Danksagung
Zitat
Oktober, Wien
Mai, Rappotenstein
Weitere Bücher
DANKSAGUNG
Dank an meinen Freund
und Weggefährten Mathis Zojer,
der mich freundlicherweise
mit Mona und Konrad
bekannt gemacht hat.
„Eher geht ein Kamel
durch ein Nadelöhr,
als dass ein Reicher
in das Reich Gottes
gelangt.“
Jesus von Nazareth,
aramäischer Wanderprediger (ca. 4 v. Chr. bis ca. 31 n. Chr.)
OKTOBER, WIEN
„Lass mich los!“
Er ließ nicht los.
„Hilfe! Der Kerl fasst mich! Schleich dich!“
Der Mann packte Monas zweite Hand, klemmte beide Hände unter seine Achseln. Wie ein Schraubstock. Mona wand sich, warf sich gegen seine Brust, trat gegen sein Schienbein, traf aber nicht. Er war stärker, schneller und entschlossener, und er wollte ans Ziel kommen. „Wehr dich nicht, Pupperl, sonst hast am Ende nur blaue Flecken.“
Er packte nun auch Monas Bein.
„Hilfe! Ich werde vergewaltigt! Hilfe!“
„Schrei mir nicht ins Ohr, sonst werd ich grantig auch noch.“
Der untersetzte, breitschultrige Mann tauchte unter Mona und hob sie mühelos hoch. Sie strampelte, hatte aber gegen seine Kraft keine Chance.
„Geh, Werner, mach keine blöden Scherze. Wir tragen das Luder zu zweit. Hast ja gehört, was der Chef gesagt hat. Keine Verletzten heute.“
Der Polizist verzog das Gesicht und stellte Mona, ohne ihre Hände loszulassen, auf die Beine.
„So, Fräulein, jetzt kein Theater mehr. Ab die Post, raus hier“, sagte der zweite Polizist und kratzte seinen kurz gestutzten Vollbart. Mona nutzte die Chance, noch ehe sie denken konnte. Ihr Knie fuhr mit vollem Schwung dem Mann zwischen die Beine. Er ächzte, schnappte nach Luft, sah Kassiopeia, die Jungfrau und beide Magellanschen Wolken an der Decke der Wohnung des zur Räumung befohlenen Abbruchhauses, zweiter Stock, letzte Tür. Auch er handelte schneller, als er denken konnte. Seine Faust fuhr aus, eine Lokomotive auf Schienen, in der Abendsonne funkelndes Olympiagold im Hammerwerfen. Die Faust traf Monas Wange, sie wurde durch das Zimmer geschleudert, knallte gegen den Türstock und ging zu Boden.
„Du bist doch so ein Volltrottel, Werner!“ keifte der zweite, ältere Polizist. „Jetzt schau dir die Sauerei an. Hat es nicht geheißen: Keine Verletzten?“
Der jüngere Polizist lehnte sich gegen die Wand, drückte die Hände in die Hüften und knurrte mit schmerzverzerrtem Gesicht.
„Sie hat angefangen, verdammt noch mal! Mitten in die Familienplanung. Lach nicht, du Wappler, ist echt nicht lustig.“
/ / /
Der alte Mann schob sich an der Häuserwand näher an die auf der Fahrbahn stehenden Mannschaftswagen und die vor ihnen aufgereihte Schar Uniformierter heran. Er raffte seine Plastiksäcke mit all seinem Hab und Gut, kaute mit seinen schadhaften Zähnen auf den Lippen. Und er hob sich auf die Zehenspitzen, versuchte zu spähen, etwas zu erhaschen, einen Einblick oder wenigstens einen Eindruck zu gewinnen. Er verstand. Das leerstehende Haus, verfallen seit knapp zwei Jahren, war auch ihm vor einiger Zeit eine gern aufgesuchte Unterkunft für manche regnerische Nacht gewesen und hatte ihm dieses Viertel inmitten des dicht verbauten Wohnsektors der Stadt zu einem temporären Wohnort gemacht, so lange, bis das junge Volk gekommen war, bis die Burschen und Mädchen mit ihren Lumpengewändern, ihren blechgeschmückten Gesichtern und ihren Hunden gekommen waren und ihn, der die Stille inmitten des besinnungslos tosenden Stadtgetümmels seit jeher liebte, vertrieben und ihn nach einer anderen Bleibe in den Schatten der Wohntürme hatte suchen lassen. Vor diesem Haus also versammelte sich ein Großaufgebot der Polizei und schritt zur Tat. Welcher Tat? Was ging hier vor?
Der Mann lauschte um sich, fing die Kakophonie der Stimmen und Meinungen der Schaulustigen ein und destillierte alsbald aus dem Gewirr den Grund der polizeilichen Aktivitäten. Räumung. Delogierung. Entfernung der illegalen Bewohner. Vollzug der Gesetze des Landes. Wiederherstellung der sozialen Ordnung. Entfernung der dreißig oder vierzig jungen Leute, denen diese Gesellschaft keine Anreize oder Ankerpunkte für wohlgefälliges Gebaren eröffnet hatte, oder die, je nach Lesart, arbeitsscheues, lichtscheues, konformitätsscheues Gesindel waren und die die Härte der Gesetze zu spüren jeden Tag auf das Neue Anlass gaben.
Er hatte genug gesehen und gehört, hatte diese Erschütterung der seiner Meinung nach immerzu brüchigen Kruste zivilisierten Verhaltens vernommen und konnte unverrichteter Dinge seiner Wege gehen, denn welche Dinge hätte ein alter obdachloser Mann schon verrichten können in einer Welt, in der die Verrichtung das höchste aller Güter war, selbst wenn niemand wusste, was hier wohl verrichtet werden sollte oder konnte. Der Mann sah aus der Ferne, wie mehrere junge Leute von den Polizisten aus dem Haus geleitet wurden. Manche wurden getragen.
Er hob seine Plastiksäcke und eilte fort, suchte einen stillen Hauseingang einige Gassen weiter, langte in seinen Mantel und zog eine noch fast volle Flasche hervor. Der billige Schnaps brannte auf den Lippen, auf der Zunge und erfüllte doch den alten ausgemergelten Körper mit Wärme.
Seine Hände zitterten.
/ / /
Mona richtete sich auf und wischte über ihr Gesicht. Ihr Kopf brummte, aber sie fing sich. Drei Mitbewohner saßen auch im geschlossenen Wagen, und drei Polizisten.
„Was schaust du so deppert?“
Der Mann ließ seine Blicke nicht von Mona. Ebenso die zwei anderen Polizisten. Auch ihre Mitbewohner starrten sie an.
„Hör an, die Prinzessin Schneeflocke kann ja reden. Na, bissi Kopfweh?“
Die drei Polizisten lachten grimmig. Die drei Mitbewohner lachten nicht. Auch sie hatten sich gegen die Räumung gesträubt und tätlich Widerstand gegen die Staatsgewalt geleistet, also waren nicht nur ihre Personendaten abgefragt und notiert, sondern sie waren in den Wagen verfrachtet worden. Zwecks Ausnüchterung, zwecks Verwahrung wegen Übertretung der Gesetze, zwecks Disziplinierung der Disziplinlosen.
Mona befühlte ihre Wange. Nicht so gut. Der Schlag war heftig gewesen. Sie tastete nach ihren Backenzähnen.
„Na super, ein Zahn ist locker“, murmelte sie vor sich hin.
Sie sah den Mann, der ihr den Schlag verpasst hatte, nicht in diesem Wagen. Ja, sie hatte zuerst zugeschlagen, sie hatte nicht nur seinen Stolz beschädigt, sondern ihm auch Schmerzen zugefügt, aber er würde bestimmt keine bleibenden Schäden von der unliebsamen Begegnung davon tragen. Ihr aber wackelte ein Backenzahn. Und schmerzte. Der ganze Kopf schmerzte. Als sie den Bewegungswinkel des Zahns erprobte, schossen giftrote Pfeile unter ihre Schädeldecke. Sie hatte gute Zähne, kein Karies, bislang ein vollständiges und wohlerhaltenes Gebiss, doch jetzt kündigte sich eine Lücke an. Oder würde der Zahn sich wieder an seinen Sitz im Gebiss gewöhnen und ihr noch ein Leben lang erhalten bleiben? Mona war sich nicht sicher. Neunzehn Jahre sorgsame Zahnpflege, seit der frühesten Kindheit, und jetzt das. Mona knurrte in sich hinein. Ihre Eltern waren in allen Belangen gewissenhaft und strebsam gewesen, auch beim Zähneputzen, nicht aber freundlich oder gar liebevoll. Immer nur Drill und Unterordnung, immer nur Leistungswille und Förderunterricht. Das geltungsgierige Bürgerpack hatte eine stockkonservative Justierung des Lebensplans für die zu hohen Zielen auserkorene Tochter versucht. Aber nicht mit ihr, das war Mona schon sehr bald klar geworden, nicht eine Tochterkarriere auf ihre Kosten, hatte sie sich geschworen und gegen die Eltern opponiert, wütend revoltiert, bald resigniert. So war sie fortgegangen von einem Zuhause, in dem sie sich von allem Anfang an fremd und eigentlich unerwünscht vorgekommen war. Sie hatte die Brücken hinter sich abgebrochen, doch eine Brücke würde sie bald einmal brauchen, eine im Gebiss.
„Das Schwein hat mir einen Zahn ausgeschlagen!“, brüllte sie dem selbstgerechten Mann entgegen.
„Na geh hör auf. Wo denn?“
Mona öffnete weit ihren Mund und zeigte auf die Stelle. Der Polizist erhob sich und schaute in ihren Mund.
„Alles noch da! Wo ist das Problem?“
Er ließ sich wieder auf seinen Sitzplatz fallen.
„Der Zahn wackelt aber!“
„Sehe ich nicht. Und wenn schon? Der wackelt garantiert schon seit Monaten. Das kommt vom Kiffen. Kiffern fallen die Zähne aus. Ist ja kein Geheimnis, dass ihr Autonomen dauernd kifft. Und sauft. Und mit euren Hunden pudert. Gehören eh alle vergiftet. Die Hunde natürlich.“
Mona hörte das sonore Gelächter der uniformierten Männer gar nicht, und doch erhob sie ihre linke Hand, ballte eine Faust und streckte den Mittelfinger signifikant in die Höhe.
Der Wagen hielt. Die Türen wurden von außen geöffnet. Der Weg ins Gefängnis lag vor Mona, er musste nur noch begangen werden. Ganz leicht. Unausweichlich.
/ / /
Die Rhapsodie im Ohr, den Fahrschein in der Hosentasche, die Aufregung im Bauch. Luis sah Lichter an sich vorbei huschen. Eine Haltestelle, eine weitere, bald war er am Ziel, stieg aus dem Zug, ließ sich vom Menschenstrom erfassen und mittragen. Alleine hätte er es vielleicht nicht geschafft, nein, gewiss hätte er es nicht geschafft, hätte wieder versagt, hätte alles verloren, bevor der Wettkampf überhaupt begonnen hatte. Warum er sich nicht einfach eine Jahreskarte kaufte? Immerhin benutzte er häufig die öffentlichen Verkehrsmittel seiner Heimatstadt. Mit einer Jahreskarte würde er über das Jahr gerechnet einiges an Geld sparen. Aber er mochte das Klingeln der Fahrkartenentwerter in der Straßenbahn oder vor den U-Bahnstationen. Dieses Klingeln in den blauen Kästen und die frische Druckertinte auf den Fahrscheinen gab ihm irgendwie das Gefühl von Vertrautheit. Er fühlte sich jedes Mal wieder in seine Kindheit zurückversetzt, als er mit seiner geliebten Großmutter, die keinen Führerschein und somit auch kein Auto besessen hatte, immer mit der Straßenbahn gefahren war und sich an den Fensterscheiben die Nase platt gedrückt hatte. Leider verkehrten die alten Straßenbahngarnituren mit ihrem unverkennbaren Geruch nach Sperrholz, Menschenschweiß und überhitzten Wärmestrahlern nicht mehr, heutzutage waren die Züge klimatisiert und rochen nach Kunststoff und Desinfektionsmitteln. Zumindest existierten die guten alten Fahrkartenentwerter noch.
Er gab sich seinen Grübeleien hin, schob tausenderlei gedankliche Ablenkungen vor die Herausforderung, der zu stellen er sich verpflichtet hatte.
Wie oft hatte er Kontaktanzeigen aufgegeben, auf ein freundliches Wort, eine verheißungsvolle Antwort gehofft? Warum tat er sich das an? Reichte nicht die Selbstbeschämung, sich morgens im Spiegel zu sehen? Dabei hielt niemand ihn für hässlich. Niemand. Für übergewichtig, ja, für ungepflegt, ja, für verschroben, ja, vielleicht auch für versponnen, na gut, aber nicht für hässlich. Seine Mutter war eine schöne Frau, ein wenig von ihr war auch auf den Sohn gefallen. Oder vielleicht zu viel? Auch die Kälte? Die Seelenlosigkeit? Die Berechnung? Oder hatte er einfach nur immerzu versagt?
Luis zog die Stöpsel aus seinen Ohren und verstaute den MP3-Player in einer der vielen Taschen seiner Jacke.
War er für den Anlass richtig gekleidet? Er musterte in einem Schaufenster sein sich in tausend Reflexionen verlierendes Spiegelbild. Na ja, ging so. Er atmete tief durch, versuchte seine Herzfrequenz unter Kontrolle zu bekommen, schaute erneut an sich herab, räusperte sich und betrat das Lokal. Er konzentrierte sich, nicht zu schnell zu gehen, aber auch nicht zu langsam. Das eine könnte ihm als Nervosität ausgelegt werden, das andere als Arroganz. Luis ließ den Blick kreisen, suchte nach einem suchenden Augenpaar. Und wurde fündig. Wie schön sie war! Die Herzfrequenz verwehrte sich jeder weiteren Kontrolle. Und wie adrett sie bekleidet war! Zum Glück hatte er seine abgetragenen Jeans und Sportschuhe zuhause gelassen und war in die schicke Hose und die polierten Schuhe geschlüpft. Er trat auf den Tisch zu. Sie erhob sich lächelnd und musterte ihn mit einem schnellen Blick von Kopf bis Fuß. Der erste Blick, der alles und jedes entscheidende erste Blick! Was sagte er? In jedem Ratgeber über Flirten hatte Luis gelesen, dass der erste Blick nicht gespielt, vorgetäuscht oder gefälscht werden konnte, sondern dass im ersten Blick entschieden wurde, ob sich eine Beziehung anbahnen konnte oder nicht. Man musste sich nur auf die diffizile Kunst der Interpretation dieses Blickes verstehen. Hatte er den ersten Blick der Frau Mitte dreißig verstanden? Karin, wie er durch die Korrespondenz wusste, schüttelte ihm die Hand, schenkte ihm ein sehr freundliches Lächeln und setzte sich fast souverän wieder an den Tisch. Enttäuschung.
Das ist es gewesen. Luis wurde sich dessen nicht so recht bewusst, denn er hatte andere Dinge zu tun als nachzudenken und zu analysieren, er hatte jetzt ein Gespräch zu führen, Konversation zu betreiben, sich bekannt und vielleicht sogar vertraut zu machen. Aber sein Unterbewusstsein wusste: Enttäuschung, ihr erster Blick hatte Enttäuschung gezeigt. Ja, auf der Kontaktplattform sah man nur Porträtbilder, und sein Gesicht war männlich apart, sein Haar dicht, und das Foto, das er hochgeladen hatte, zeigte ihn auch vorteilhaft lächelnd, da sah man nicht, dass sein Körper sich sackförmig um die Leibesmitte wölbte, dass seine Fingernägeln abgeknabbert waren, dass sein Gang nicht dynamisch und sportlich wirkte, sondern ein klein wenig an Donald Duck oder noch schlimmer an dessen psychotischen Onkel Dagobert erinnerte. Aber sollte ihn das verunsichern? Eine sechsunddreißigjährige Frau, fachlich erprobte Sachbearbeiterin in einem mittelständischen Dienstleistungsunternehmen, die sich über ein Internetkontaktforum ein Treffen mit einem zweiunddreißigjährigen Mann, selbstständiger IT-Spezialist mit solidem Kundenstock, ausmachte, durfte wohl nicht einen Weltmeister im Abfahrtslauf oder Sieger eines Grand Slam Tennisturniers erwarten. Er hatte ja auch keine glutäugige Popsängerin mit einem Diplom im Ausdruckstanz erwartet. Also er war nicht enttäuscht. War er nie. Bei keinem der solcherart arrangierten Treffen. Vielleicht aber war das sein Problem, vielleicht sollte er daran arbeiten, anspruchsvoller zu sein. Wahrscheinlich war sie hinter der hübsch herausgeputzten Fassade eine Schreckschraube, ein Quälgeist, eine Nervensäge. Warum er sich das überhaupt antat, sich mit einer älteren Frau zu treffen? Die Frauen Mitte dreißig, die noch keinen Mann gefunden hatten, waren doch verdächtig. Hatte zumindest seine Mutter gesagt, immer wieder hatte sie derartiges über alleinstehende Frauen gesagt. Mit der könne doch irgendetwas nicht stimmen, da liege doch etwas im Argen, da passe manches nicht zusammen. Nun, seine Mutter hatte sich Mitte zwanzig einen Mann geangelt, der wirklich etwas hergemacht hatte. Zumindest im sozialen Sinn, rein äußerlich nicht unbedingt so, aber ihr Mann war sehr wohlhabend, im Geschäftsleben erfolgreich und von der um achtzehn Jahre jüngeren, sehr attraktiven Frau ganz hingerissen, ihr vielleicht sogar eine Zeit lang wirklich hörig gewesen.
Fort jetzt, ermahnte sich Luis streng, fort jetzt mit den im Hintergrund laufenden Subroutinen seines Betriebssystems, diese ihn unsicher machenden Prozesse mussten beendet werden, das führte zu nichts, zumal das Gespräch einen günstigen Verlauf nahm. Ja, vielleicht würde sich alles zum Guten wenden.
/ / /
„Also, Frau Schwendter, hier sind Ihre Papiere und Ihre persönlichen Gegenstände. Da kriege ich noch eine Unterschrift. Ja, genau da.“
Mona setzte ihre Signatur auf das Papier. Damit war der Kuhhandel abgeschlossen. Sie erklärte, dass sie sich bei der Hausräumung durch Unachtsamkeit selbst an einem Türstock gestoßen hatte, weswegen den Polizeibeamten überhaupt gar nicht aufgefallen war, dass sich hier eine junge Frau tätlich gegen eine Amtshandlung gewehrt hatte. Damit war Mona zufrieden. Je weniger sie mit der Polizei zu tun hatte, desto besser. Auf einen Prozess und eine langatmige Verhandlung um Schmerzensgeld konnte sie getrost verzichten, nicht zuletzt, und das war durch eine Untersuchung jetzt amtsbekannt, hatte sie zum Zeitpunkt der Räumung 1,3 Promille Alkohol im Blut gehabt. Jean-Claude mit seinem billigen Fusel. Dieser Säufer.
Mona schob das unterzeichnete Papier über den Tresen. Kein Gefängnis, das war auch ein Wert an sich. Sie stopfte ihre Sachen in ihre selbstgenähte Tasche.
„Wisst ihr, was ihr seid?“, fauchte sie die zwei Beamten in der Wachstube an.
Der Mann hinter dem Tresen legte seinen Kopf ein klein wenig schief, setzte eine in vielen Dienstjahren erprobt grantige, jedoch völlig unbeteiligte Miene auf und stützte seine Hände auf den Tresen. Er wartete.
„Nazischweine!“
Mona zog ihren Gürtel enger.
„Chauvinistensäcke!“
Mona schlüpfte in ihre selbstgefertigten Handschuhe.
„Korrupte Machoärsche!“
Mona warf den Gurt der Tasche über ihre Schulter.
„Sind wir jetzt fertig, Frau Schwendter?“, fragte der Polizist kaum genervt. „Na dann, dort ist die Tür und hinter der Tür gibt es ganz viel frische Luft. Auf Wiederschauen!“
Mona stiefelte durch das Wachzimmer, riss die Tür auf und sprang über die Stufen hinab auf das Trottoir.
Es war dunkel geworden. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, sie hätte gar nicht sagen können, wie lange sie sich im Wachzimmer aufgehalten hatte. Was sollte sie nun tun? Sie hatte keine Lust zu den anderen zu gehen. Wo sie sich trafen, wusste sie ja, immerhin zog sie schon ein halbes Jahr mit den Autonomen umher, also praktisch eine ganze Ewigkeit. Nein, sie hatte heute keine Lust auf Menschen und deren Probleme. Sie hatte selbst genug Probleme. Eigentlich wollte sie nur alleine sein. Zum Donaukanal, das war die Idee für diesen angebrochenen Abend. Am Flussufer zu sitzen und den vorbei strömenden Wassermassen einfach nur zuzusehen, hatte sie immer schon als entspannend, ja als meditativ und beglückend empfunden. Warum sollte es heute anders sein?
Flott marschierte sie los. Die Wange war geschwollen. Der Zahn schmerzte nach wie vor. Scheiße auch.
/ / /
Der alte Mann hob die Schnapsflasche gegen das Licht. Aufgrund des Füllungsgrades schloss er, heute nicht betrunken zu sein. Konnte gar nicht sein, nicht bei diesen Mengen, für ein Besäufnis fehlte in der Flasche entschieden das entsprechende Luftvolumen.
Er hob den Blick. Stimmen. Ein bedrohlicher Klang lag in ihnen.
Schnell raffte er seine Siebensachen, packte die Decke, mit der er sich auf der Parkbank am Ufer des Donaukanals zugedeckt hatte, in den dafür vorgesehenen Plastiksack. Nur weg hier.
Zu spät. Die vier Schatten hatten ihn schon erreicht.
„He, Alter, was geht ab? Das ist hier unser Reich.“
Die Jugend sah eindeutig zu viel fern. Die alte Sprache der Gassenbuben, von denen er seinerzeit als schmächtiger Gymnasiast Kopfnüsse, Nasenstüber und Ohrenreiber verpasst bekommen hatte, war scheinbar einem evolutionären Schicksal erlegen, sie war ausgestorben, oder befand sich knapp davor. Die aktuelle Generation von Rotzbuben hatte vielleicht von alten Leuten, wie er selbst einer war, von dieser Sprache noch etwas gehört, konnte aber den Klang nicht einmal angemessen imitieren, geschweige denn artikulieren. Und die nächste Generation wird von dieser Sprache niemals etwas gehört haben.
„Burschen, ich gehe schon.“
„Penner, verpiss dich, sonst setzt’s was!“
„Entschuldigung, ich habe nicht gewusst, dass das hier euer Territorium ist. Eure Kennzeichnungen dieses suburbanen Raums habe ich nicht entdeckt. Ich war einfach nur ermattet und habe mich ein bisschen von den Strapazen eines langes Tages ausgeruht.“
Einer der Burschen sprang federnd auf ihn zu. Seine Fäuste waren geballt.
„He, Alter, was redest du für Scheiß? Was ist los mit dir? Willst du mich verarschen? Soll ich dir die Fresse polieren?“
Der alte Mann raffte sein Gepäck, trippelte verlegen nach rückwärts davon, sich mehrmals devot verbeugend. Er fluchte in sich hinein. Was für ein hirnverbrannter Fehler, wie dumm er war, gefährlich dumm. Nichts brachte junge Kerle mit lockeren Fäusten, deren Migrationshintergrund sie nicht davor feite, ganz normale Arschlöcher zu sein, nachts schneller auf die Palme, als ein ihnen rhetorisch überlegener Sandler. Sehr schnell war ein Nasenbein gebrochen, eine Rippe angeknackst, eine Milz gerissen. Der alte Mann wusste, auch diesmal hatte ihn nur sein ekelhafter Gestank vor den Hieben der nach massenindustriell erzeugten Duschgels duftenden Gassenbuben gerettet.
„Bin schon fort, bin schon fort, bin schon fort.“
/ / /
„Und dann hat sich herausgestellt, dass mein Vater gar nicht mein Vater ist. Hahaha. Nicht im biologischen Sinn. Witzig, nicht wahr?“ Luis versuchte, die einschneidende Tragödie seines Lebens in Form einer luftig geknoteten Anekdotenserie zum Besten zu geben. Ein Unterfangen, an dem er jedes Mal kläglich daran gescheitert war, ohne dass ihm dies aufgefallen wäre. Auch jetzt hatte er sich fabelhaft in Schwung geredet, hatte nach und nach so viel Sicherheit gewonnen, dass er nun aus dem Nähkästchen plauderte.
Ganz falsch. Eine sichere Bank auf ein kaltes Bett und ein Frühstück vor dem Computer, nicht in der begehrten Nähe einer nach trauter Wärme duftenden Frau. Obwohl sie ihn nach wie vor anschaute und offensichtlich seiner Fabel lauschte, hätte Luis bei intaktem Aufnahmevermögen bemerken können, wie Karins Blicke sich kaum mehr an seiner Oberfläche verfingen, sondern ihn röntgenisierten, nicht, um sein Innerstes in Augenschein zu nehmen, sondern um durch seinen Körper hindurch im Lokal nach den wirklich interessanten Männern Ausschau zu halten, die Topfpflanzen zu zählen oder um den Einschlag des hoffentlich bald herabstürzenden Meteoriten zu verfolgen, der das Possentheater hier endlich beenden würde, verdammt noch mal.
„Nicht im biologischen Sinn?“, stellte Karin gerade noch rechtzeitig die rhetorische Frage, die Luis’ Redefluss liquide hielt.
„Du musst wissen, mein Vater, ich nenne ihn halt so, war eine ziemlich große Nummer im Import-Export-Geschäft. Natürlich war er laufend irgendwo unterwegs und hat Geschäfte abgeschlossen. Ich bin in einer Villa in Hietzing aufgewachsen, Hausmädchen und Gärtner, Chauffeur und solche Sachen, nicht jetzt auf ekelhaft großkotzig, aber ziemlich wohlhabend, das schon. Mein älterer Bruder, also eigentlich Halbbruder, hat die ganzen Besitztümer geerbt, eh klar, er war der leibliche Sohn meines Vaters, nenne ich halt jetzt so. Und bis zu meinem neunten Lebensjahr war ich ja auch der leibliche Sohn, also rein theoretisch sozusagen, halt der jüngere Sohn des Wirtschaftskapitäns. Ich weiß gar nicht warum, wie und was, ich war ja noch ein Volksschüler, in jedem Fall hat mein Vater heimlich DNA-Analysen machen lassen. War damals eine total neue Technik und hat ein Schweinegeld gekostet. Ergebnis war, dass Jakob und ich nicht Brüder, sondern eben nur Halbbrüder sind, und mein Vater nicht mein Vater im biologischen Sinn war. Na ja, war dann nicht so toll, von einem Tag auf den anderen als Kuckucksei zu gelten. Anfangs hat mich mein Vater, eh schon wissen, so genannt, das Kuckucksei. Nach drei Wochen Psychoterror hat meine Mutter zugegeben, mit dem damaligen Chauffeur ein Verhältnis gehabt zu haben.“
Luis’ Wangen röteten sich nach wie vor bei der Erzählung dieser Geschichte, er zauste sein Haar und knabberte wieder an den Fingernägeln. Karin stützte ihr Kinn in die Hand und lauschte geduldig weiter. „Komischerweise haben mein Vater, sag ich noch immer so, und ich uns früher total gut verstanden. Er hat mich besser leiden können als den Jakob. Der Jakob war immer urfies, zu mir, zu den Katzen im Garten, zu allen eigentlich. Charaktermäßig mehr so wie meine Mutter. Ich war eher mehr das anhängliche Kind, das hat meinem Vater, nicht dem echten, den habe ich nie kennengelernt, kann mir auch gestohlen bleiben, das hat also meinem damaligen Vater getaugt. Mir auch. Ich habe mich immer irrsinnig gefreut, wenn er von einer längeren Reise zurückgekommen ist, und er hat sich auch gefreut. An den wenigen freien Wochenenden hat er mit mir Fußball gespielt oder mich ins Naturhistorische Museum und danach in ein Innenstadtkaffeehaus ausgeführt. Die blöde Analyse hat alles zerstört. Tja, aber ich muss sagen, er war nach der ersten Enttäuschung dann eigentlich eh voll in Ordnung zu mir. Dafür, dass ich ein Bankert der Frau Gemahlin war. Er hat sich ja nicht scheiden lassen und mich hat er auch nicht verstoßen. Nach seinem Tod vor vier Jahren habe ich eine wirklich ordentliche Erbschaft erhalten. Also wenn ich jetzt nicht ins Casino von Monte Carlo gehe, brauche ich mir bis an mein Lebensende finanziell eher keine Sorgen mehr zu machen. Also rein theoretisch, meine ich. Das wirkliche Vermögen hat natürlich Jakob gekriegt. Voller Arsch übrigens, wirklich nur ekelhaft, hat Karriere gemacht und ist jetzt ein hohes Tier. Eh normal für Ungustln.“
Luis starrte für eine Weile sinnierend in eine Ecke. Erst als sein Gegenüber nach der Handtasche griff und ein Handy herauszog, um darauf die Uhrzeit abzulesen, tauchte er aus seinem sorgsam gepflegten Selbstmitleid hoch und vergegenwärtigte sich schlagartig des Umstandes, auch heute wieder alleine die Zähne putzen zu müssen. Welche Frau ließ sich schon mit einem Jammerlappen wie ihn ein, hatte er ja gleich gewusst, war ohnedies klar. Warum er bloß hergekommen war? Um wieder einer an seinem Elend unschuldigen Frau die Ohren vollzuheulen? Um sich die Kosten einer Therapie zu ersparen?
„Und, willst du noch etwas trinken?“, fragte Luis.
Karins Antwort kam sehr ehrlich, sehr schnell und vollkommen unmissverständlich.
„Nein danke, für heute hab ich genug.“
/ / /
Mona zog den Nasenstecker langsam heraus. In Wahrheit hasste sie Piercings. Kompletter Schwachsinn, sich mit irgendwelchen Metallteilen das Gesicht oder sonstige Teile der Körperoberfläche zu perforieren. Auch Tätowierungen gingen ihr auf den Geist. Zum Glück hatte sie sich bislang neben den Löchern in den Ohren, die sie schon seit der Kindheit hatte, nur dieses eine Loch in der Nase stechen lassen, und auch alle Angebote für supertolle Tätowierungen ausgeschlagen. Nur das kleine Tintenbild einer Friedenstaube über einer geballten Faust prangte auf ihrer linken Schulter. Das ging noch, mehr wollte sie gar nicht. In jedem Fall hatte das Piercing in der Nase bisher pausenlos Probleme gemacht. Andauernd war die Nase entzündet und schmerzte, und beim Schnäuzen war das Piercing total unpraktisch. Mona wog kurz den kleinen Metallteil in der Hand, dann warf sie ihn schwungvoll in das träge dahinströmende Wasser des Donaukanals. Sie betastete ihre Wange und Nase. Alles schmerzte. Vielleicht hätte sie doch Schmerzensgeld verlangen sollen. Der Scheißzahn wackelte noch immer, oder sogar noch mehr als am Nachmittag.
Kalt war es geworden. Der Oktober war bislang trocken verlaufen, zumindest so viel sie wusste. Wer sich in der Regel gegen vier Uhr früh in einem besetzen Haus zur Nachtruhe begab, bekam nicht so viel vom Wetter und den Jahreszeiten mit. Nur die Nachtkälte bemerkte man in ungeheizten Räumen, aber mit ausreichend Kleidung war das letztlich auch kein Problem. Und Mona hatte genug Kleidung bei sich.
Immer. Sie wühlte aus ihrer unförmigen Tasche eine schwarze Weste hervor und zog sie einfach über ihre Jacke.
Sie hörte die vier Jungs schon von weitem.
Eine Welle der Angst schoss durch sie hindurch. Kurz nur. Mona setzte sich auf die Bank am Ufer des Donaukanals, verschränkte die Arme und wartete.
„He, was geht ab? Wer bist du?“
Mona antwortete nicht, sondern maß die vier Burschen in ihrem Alter von ihrem Sitzplatz aus. Würden sie grob werden? Sie antwortete nicht. Speed, die Jungs haben Speed eingeworfen, und nicht knapp, so viel war Mona gleich mal klar. Sah man ja, die fahrigen Bewegungen, das hektische Herumgetripple, alle zehn Sekunden spuckte sich einer der vier auf die eigenen Schuhe. Speed war Scheiße. Einmal hatte Mona zwei Tabletten geschluckt. Nie wieder. War nicht ihres.
„He, was machst du da in unserem Revier? Gib Antwort, aber rasch!
Sonst werde ich ungemütlich!“
Mona langte langsam in die Oberschenkeltasche ihrer mehrmals geflickten Hose und zog das Springmesser heraus. Klackend rastete die Klinge ein.
„Sportsfreund, wenn hier jemand ungemütlich wird, dann ganz sicher ich.“
Das Herumgetripple der vier war fast nicht mehr zum Aushalten. Wurde man ja ganz irre davon. Der Rädelsführer schaute sich sorgsam in der Gegend um. Offenbar war er kein Trottel und kalkulierte, dass sie nicht alleine unterwegs war.
„Wo sind deine Freunde, Mädchen? Wo?“
Mona klappte das Messer wieder ein und schob es demonstrativ langsam in die Tasche zurück.
„In der Nähe. Ganz in der Nähe.“
Der Rädelsführer federte vor ihr herum und gestikulierte, wie er es von den Rappern in den Musikvideos gelernte hatte.
„Wenn ihr Stress haben wollt, wenn ihr Krieg haben wollt, dann kommt nur. Wir haben keinen Schiss vor euch! Wir nicht! Und wir können superschnell hundert Mann bringen! Dann habt ihr den Krieg!“
Mona zuckte mit den Schultern und langte nach dem zerknautschten Zigarettenpäckchen in ihrer Tasche. Sie warf es dem Rädelsführer zu. „Kein Krieg. Friedenspfeife. Ich habe einen Scheißtag mit den Kieberern gehabt, von denen eine aufs Maul bekommen und will nur meine Ruhe. Klar?“