Kitabı oku: «Der Fälscher»

Yazı tipi:

Günter Pelzl

Der

Fälscher

Als Forscher im Operativ-

Technischen Sektor des MfS

Autobiografie

edition berolina

Alles, was geschieht,

ist auch das Resultat von Geschehenem.

Für meine Kinder und Enkel

zum Nachlesen und Nachdenken.

Vorbemerkung

Als ich das erste Mal 1982 mit meinen Eltern das Heimat­dorf meines Vaters im tschechoslowakischen Mähren besuchte, war sein Wunsch, einen hohen Berg zu besteigen. Auf der Landkarte stand Praděd, Höhe 1.491 Meter. Der kahle Gipfel mit dem imposanten Fernsehturm war noch verschneit.

Auf einem Foto sehe ich meinen Vater unterhalb der Bergspitze auf einem Parkplatz stehen: aufrecht, die Beine leicht gespreizt und die Arme hinter dem Rücken verschränkt, immer noch die Körperhaltung eines preu­ßischen Feldwebels. Er blickt sich nach mir um, und ich weiß, irgendetwas bewegt ihn stark. Ich habe ihn nie gefragt, was ihm in diesem Moment durch den Kopf ging, damals nicht und später auch nicht. Dieses Versäumnis bereue ich heute zutiefst. Der Berg hatte einst auch einen deutschen Namen: Altvater.

Das vorliegende Buch beinhaltet lediglich eine Sammlung von Erinnerungen, die aus meiner Sicht etwas über mein Leben aussagen.

Eine der wundersamsten Eigenschaften des Menschen ist es, im Rückblick auf seine Vergangenheit die meisten schlechten Erlebnisse zu vergessen und die guten noch zusätzlich so zu kolorieren, dass viele denken, früher war sowieso alles besser und schöner. Ich bin mir deshalb sicher: Meine Geschichten sind nicht vollständig. Auch kann ich nicht beeiden, ob sie sich so und nicht anders zugetragen haben. Es liegt auch nicht in meiner Absicht, irgendjemandem irgendetwas zu beweisen, also habe ich darauf verzichtet, für jede Geschichte Datum und Uhrzeit anzugeben und alle handelnden Personen genau zu benennen. Manche Namen habe ich geändert, manche nicht – den Grund dafür kann man leicht herausfinden. Vielleicht habe ich Details der einen oder anderen Geschichte vergessen oder etwas ausgeschmückt, oder ich habe sie nicht selbst erlebt und andere haben sie mir erzählt. Aber das nehme ich mir als persönliche Freiheit ­heraus. Erfunden jedoch habe ich nichts.

Eigentlich will ich nur erzählen, wie und warum ich so geworden bin, wie ich bin.

1. Kapitel

Beschreibung eines thüringischen

Dorfes • Vater und Mutter • Meine Westoma erbt • Eine chirurgische Bombardierung • Eine Bäuerin rettet Flakhelfer, ein Schuster ­Federbetten • Urgroßmutter Elsa und ihre sechs Kinder • Ein Kind allein im Wald • Dorfspiele und ein achtel Liter Milch

Geboren wurde ich 1948, genauer am 6. Juli, einem Dienstag. Zu einem Sonntagskind hatte es also nicht gereicht. Für mich wäre das aus heutiger Sicht auch nicht erstrebenswert gewesen, und die Zeiten waren ohnehin nicht danach. Meine Mutter erzählte oft, 1948 wäre es mit der Versorgung noch schlimmer gewesen als 1945. Da wäre wenigstens noch etwas übrig gewesen vom »Tausend­jährigen Reich«, aber 1948 waren auch dessen verwert­bare Reste aufgefressen.

In unserem Schuppen lagerten viele Jahre einige Pakete Waschpulver, aufgequollen und nicht mehr zu gebrauchen. Damit hatte es folgende Bewandtnis: Man konnte zwar Geld verdienen, aber dafür gab es oft nichts zu kaufen. Meine Mutter hatte einmal auf Empfehlung einer Nachbarin für ihren ganzen Lohn im angrenzenden Ort Waschmittel gekauft – weil es gerade welches gab –, um damit einen Tauschhandel zu betreiben. Irgendwie klappte das aber nicht, keiner brauchte das Waschpulver, und so verblieb uns eine ansehnliche Menge des nutzlos gehorteten Reinigungsartikels als Mahnung.

Dennoch schafften es meine Eltern, ihre damals zwei Kinder – meine Schwester Martina hatte 1945 das Licht der Welt erblickt – über die Runden zu bringen. Das thüringische Dorf Ammerbach brachte dazu die wesentlichen Voraussetzungen mit. Allerdings war es meinen Eltern nicht gelungen, meine Schwester mit Ziegenmilch aufzuziehen. Im Gegensatz zu heutiger Ziegenmilch roch diese heftig aus der Milchkanne, auch wenn der Deckel fest verschlossen war. Mein Bruder Thomas kam 1953 zu uns auf die Welt, als es mit der Versorgung langsam wieder bergauf ging. Meine Mutter wurde von den Ärzten und Schwestern in der Jenaer Kinderklinik bei der Geburt dieses strammen Jungen, der 3.800 Gramm auf die Waage brachte, bewundert.

Die Bauern des Dorfes nutzten jede Gelegenheit, um ihre Ernährungslage zu verbessern. Niemand besaß mehr eine Jagdflinte, und so nahmen die Wildschweine überhand und verwüsteten die Felder. Ich sehe heute noch den Trupp der Bauern, der auszog, um der Schweinerei ein Ende zu setzen. Es war wie eine Mischung aus der Geschichte von den sieben Schwaben und einem wackeren Fähnlein aus dem Bauernkriege. Das bezog sich nicht nur auf die vom Schmied zu Waffen umgebauten Sensen und Forken, sondern auch auf die Bekleidung der tapferen Gesellen. Vom gesamten Dorf mit Beifall verabschiedet, kehrten sie nach geraumer Zeit zufrieden und stolz mit einem Wildschwein zurück und hofften, den Rest der Rotte ein für alle Mal durch ihren martialischen Auftritt vertrieben zu haben. Das ganze Dorf hatte etwas davon. Es gab Wildschwein am Spieß. Dass nun in ihren Reihen ein Schwein fehlte, hatten die anderen aber offensichtlich nicht bemerkt.

Der fast achthundertjährige Ort Ammerbach liegt in einem malerischen Seitental der Saale in Sichtweite der Universitätsstadt Jena. Er ist schon lange eingemeindet, hat aber sein eigenständiges Bild als Dorf noch weit­gehend bewahrt. Man musste damals mindestens einen Kilometer zu Fuß von der Straßenbahnhaltestelle an der Ringwiese am Bach entlang, der dem Dorf den Namen gegeben hatte, durch die Felder laufen, weiter am Friedhof vorbei, bis man die Kirchturmspitze erblickte. Seine Bewohner waren schon immer Teil der wechselvollen Geschichte Jenas gewesen. Sie bauten Wein und Obst an, brauten Bier und versuchten, sich mit Getreide, Rüben und Kartoffeln auf den kleinen steinigen Äckern über Wasser zu halten. Mit elf Hektar war man hier schon der größte Bauer.

Das Dorf hatte in seiner Tallage eine Winter- und eine Sommerseite. Der Weinbau war schon lange verschwunden, aber in manchen Gärten der Sommerseite fanden sich noch alte Weinreben und die für den Weinbau am Berg typischen Terrassen und Häuschen. Eine für die damalige Zeit große Kirschplantage gab es auch noch. Überdies befand sich auf der Sommerseite eine große Wiese, die wir »Quetschendarre« nannten. Lange wusste ich nicht, was das bedeutete, bis ich herausbekam, dass dort früher die Bauern auf flachen, der Sonne zugeneigten Gestellen aus Holz Zwetschgen dörrten, also trockneten. Später übernahm das dann der Bäcker mit der Restwärme des Backofens. Backpflaumen und Pflaumenmus waren im Winter willkommene Delikatessen. Auf der Sommerseite blühten schon die Veilchen und Leberblümchen, wenn man auf der Winterseite noch Schlitten fahren konnte. Das Brauhaus hatte schon lange seine Funktion gewechselt und diente nun als Spritzenhaus der Freiwilligen Feuerwehr. Wie es so üblich war, hatte man dicht daneben einen hohen Bretterturm errichtet, in dem die langen Feuerwehrschläuche nach ihrem Gebrauch hochgezogen wurden, um sie zu trocknen.

Mein Vater stammte aus dem Sudetenland und war ein Bauernsohn. Er hatte Lehrer werden wollen, aber sein geiziger Vater und der Krieg waren dazwischengekommen. Schon vier Wochen nach dem Einmarsch deutscher Soldaten in die Tschechoslowakei im März 1939 wurde er zu Hitlers Wehrmacht eingezogen. Schließlich verdingte er sich als Berufssoldat bei den neuen Herren. Der Zweite Weltkrieg führte ihn nach Frankreich, Polen, in die Sowjetunion. Er wurde fünfmal verwundet, hatte einen Granatsplitter in der Hand und einen Steckschuss im Kopf. Über den Krieg redete er nur selten, und niemals erzählte er die üblichen Heldengeschichten. Im Krieg hatte er nichts dazugelernt, was man im Frieden gebrauchen konnte, aber der »Bauernsohn« reichte nach 1945 wenigstens als Referenz für eine Stelle als Knecht im Dorf Ammerbach.

Meine Mutter hatte damals schon in der Datenverarbeitung gearbeitet, als man dieses Wort in Deutschland noch nicht kannte. Sie stammte aus Leipzig. Ihr Vater und ihr Großvater hatten in langer Tradition den Beruf des Müllers ausgeübt. Mein Urgroßvater, Heinrich Sändig, war aktiver Gewerkschafter gewesen und hatte den Vorsitz der Müllergewerkschaft in Leipzig inne. Mutter erzählte oft, wie kurz vor der Machtübernahme Hitlers in der Küche ihrer Leipziger Wohnung Kommunisten, Sozial­demokraten, aber auch Mitglieder der Sturmabteilung (SA) zusammensaßen und heftig über Politik stritten. Sie stammten alle aus der gleichen Arbeitersiedlung, waren zusammen in die Schule gegangen. Als dann die Nazis begannen, Razzien und Wohnungsdurchsuchungen zu veranstalten, kam es vor, dass die Einwohner der Siedlung von Polizisten vorher gewarnt wurden. Mein Großvater Hans entging auf eine solche Weise einmal einer drohenden Verhaftung. Bei einer anderen Haussuchung kamen sie nur durch die Umsicht eines Polizisten mit einem blauen Auge davon. Während die SA-Männer die Wohnung durchwühlten, kam Mutters kleine Schwester Inge mit einem Abzeichen der damals schon verbotenen »Eisernen Front«, einer von Sozialdemokraten dominierten Wehrorganisation zur Verteidigung der Weimarer Republik, auf den an der Tür stehenden Polizisten zu und zeigte es ihm. »Stecken Sie das ganz schnell weg, ich habe das nicht gesehen!«, sagte er leise, nahm das Abzeichen mit den drei Pfeilen auf rotem Grund der Kleinen aus der Hand und gab es meiner erschrockenen Großmutter.

Großvater hatte in der Mühle in Rutha bei Jena den Müllerberuf erlernt. Dort verlor er bei einem Arbeits­unfall ein Bein, was ihn seelisch schwer belastete. Schließlich kam es auch zu Spannungen mit meiner Großmutter, die sich einem anderen Partner zugewandt hatte. Er nahm sich das Leben. Meine Mutter, die ihren Vater sehr geliebt hatte, verließ nach einer kurzen Lehre als Kontoristin Leipzig und zog mit sechzehn Jahren zu ihrer Großmutter Elsa nach Thüringen. Später holte sie auch ihre Schwester Inge nach Jena. Mutter meinte immer in übertriebener Manier, ich sei meinem Großvater »wie aus dem Gesicht geschnitten«.

Zu meiner Großmutter entwickelte ich nie eine enge Beziehung, obwohl ich ihr später mehrmals begegnete. Nach dem Tod von Urgroßmutter Elsa kam sie aus dem Westen, um ihr Erbteil abzuholen. Das bestand im Wesent­lichen aus einem Porzellanservice, das sie für besonders wertvoll hielt. Etwas anderes interessierte sie nicht. Der Wäschekorb mit dem verpackten Geschirr stand bei uns einige Tage auf der Treppe. Irgendwann nahm meine Mutter einen großen Kuchenteller mit einem schönen Blumendekor an sich als Andenken an ihre Oma. Dieser Teller steht heute bei mir im Schrank neben einem Buch über die fast vergessene Biologin und Naturforscherin Amalie Dietrich, einer Zeitgenossin Goethes. Das Buch hatte meine Urgroßmutter zur Hochzeit bekommen. ­Später, nach dem Machtantritt der Nazis, verschenkte man lieber Hitlers Mein Kampf an junge Eheleute. Der Amalie-­Dietrich-Band war neben einem »Doktorbuch« wohl das einzige Druckwerk, was sie zeitlebens besessen hatte, die Bibel natürlich ausgenommen.

Bei ihrem Besuch beschuldigte mich meine Westoma, Westgeld von ihr geklaut zu haben. Sie war etwas klamm, denn man hatte ihr an der Grenze das meiste Geld abgenommen. Das hatte sie vorsorglich in ihren Mantel eingenäht, und sie zeigte dem Grenzer auf Nachfrage ein altes geflicktes Portemonnaie mit ein paar Pfennigen darin. Dem Kontrolleur kam das bei dieser eleganten Frau im Pelzmantel merkwürdig vor. Sie wurde gründlich gefilzt. Die neuen Nähte am Saum des Mantels verrieten, wo das Geld steckte, und damit war es weg. Was das angeblich von mir gestohlene Westgeld anbelangt, so erwies sich ihre Anschuldigung als haltlos. Es handelte sich um ein Fünfmarkstück mit dem Bildnis von Kaiser Wilhelm, das ich von einem Freund gegen irgendetwas eingetauscht – wir sagten »geduggelt« – hatte. Später fiel diese Münze ersten chemischen Experimenten zum Opfer, als ich sie in Salpetersäure auflöste, um dann daraus wieder reines Silber zu gewinnen. Dabei ging der Kaiser Wilhelm verloren. Ich weinte nicht um ihn.

Die Firma Carl Zeiss Jena benutzte schon sehr früh das von Herman Hollerith in den USA 1889 erfundene Lochkartensystem zur Lohnabrechnung. Hier begann Mutter, 1940 – mit sechzehn Jahren – als Lehrmädchen zu arbeiten. In diesem Betrieb überstand sie auch den letzten großen Luftangriff amerikanischer und englischer Bomber am 19. März 1945 im Keller der Petroleumschleiferei, der mit bis zum Rand gefüllten Petroleumfässern bis an die Decke vollgestapelt war. Petroleum wurde zusammen mit Eisenoxid zum Präzisionsschleifen der optischen Linsen verwendet. Durch die Präzisionsarbeit der amerikanischen Bomberpiloten gelang ein Kunststück, und nur eine Handvoll Bomben fiel auf das Werksgelände in der Innenstadt und richtete dort keinen großen Schaden an, aber das mittelalterliche Stadtzentrum ging im Feuersturm der Phosphor-, Brand- und Sprengbomben unter. Die amerikanische Hollerith-Technologie hatte meiner Mutter gewissermaßen das Leben gerettet. Achthundert Jenenser waren im Bombenhagel umgekommen. Als Anfang der 1970er Jahre das neue Zeiss-Hochhaus gebaut wurde, welches später in den Besitz der Universität kam, grub man den Keller einer Eckkneipe aus, nur wenige Hundert Meter von dem Gebäude entfernt, in dem meine Mutter das Inferno überlebt hatte. Die in dem Keller aufgefundenen Leichen der Verschütteten saßen noch staubbedeckt auf einer Bank an der Wand zwischen Stapeln von Bierkästen.

Zwischen dem 13. April und dem 1. Juli 1945 nutzten die Amerikaner dann die Gelegenheit, das dank ihrer chirurgischen Bombardierung nahezu unversehrte Werk um alles für sie Nützliche zu erleichtern. Der Maschinen bedurften sie nicht. Sie brauchten Patente, Zeichnungen, Konstruktionsunterlagen und Fachleute. Die Rote Armee fragten sie natürlich nicht um Erlaubnis. Eigentlich gehörte den Sowjets die Kriegsbeute. So hatten sie es gemeinsam im Februar 1945 in Jalta vereinbart. Aber da waren die Interessen noch andere. Eigentlich begann der Kalte Krieg schon am 8. Mai 1945.

Meine Eltern hatten sich im Dezember 1944 in unserer Dorfkirche in Ammerbach das Jawort gegeben. Das war Tradition. Schon Urgroßmutter Elsa und ihr Mann Richard waren 1903 hier getraut worden und Großmutter Martha und Großvater Hans 1923 ebenso.

Vater war nach seinen vier Kriegsverwundungen als Ausbilder in die große Wehrmachtskaserne in Jena-Zwätzen abkommandiert worden. Als Feldwebel machte er mit 1,90 Meter Länge eine stattliche Figur, aber das reichte auch nicht mehr für den Endsieg. Nach einem kurzen Hochzeitsurlaub im Sudetenland, eigentlich in Mähren, bei seinen Eltern, brachte ihm eine Befehlsverweigerung eine Strafversetzung ein. Welchen Befehl er verweigert hatte, habe ich nie erfahren. Jedenfalls schickte man ihn an die Oderfront nach Küstrin.

Es gab nur zwei gestandene Soldaten in der Kompanie – mein Vater und sein Kriegskamerad aus der Kaserne in Zwätzen. Alle anderen waren junge Rekruten. Am 16. April­

eröffnete die Rote Armee mit einem gigantischen Artilleriefeuer auf die deutschen Stellungen den Angriff auf Berlin. Nach einer halben Stunde war von der Kompanie nur noch eine Handvoll Soldaten am Leben. Mein Vater und sein Kamerad schickten die jungen Soldaten nach Hause. Der Krieg sei für sie beendet. Wenn sie dablieben, würde keiner von ihnen die nächste Attacke überleben. Nun waren sie nur noch zu zweit. Als die Truppen der Roten Armee abermals angriffen, zogen auch sie sich zurück. Mein Vater war erneut verwundet worden. Sie liefen buchstäblich um ihr Leben. Als sie eine Landstraße überquerten, sahen sie ihre Jungs wieder. Die SS hatte sie als Deserteure an den Straßenbäumen erhängt. Das hat meinen Vater für den Rest seines Lebens schwer belastet. Er fühlte sich schuldig am Tod der jungen Rekruten.

Sein Kamerad und er gelangten schließlich auf der Flucht vor der Roten Armee von Küstrin an der Oder über ein Lazarett in Berlin-Spandau zu Fuß bis nach Hamburg. Am 4. Mai 1945 geriet mein Vater in Travemünde in britische Gefangenschaft. Als Verwundeter wurde er schließlich im Juli 1945 aus dem Internierungslager Eutin entlassen. Um nach Jena zu kommen, musste mein Vater über die Zonengrenze, damals allerdings von West nach Ost. »Wiedereinreise in die britische Zone unerwünscht«, stand auf seinem Passierschein. Im August 1945 kehrte er endlich zurück nach Ammerbach.

Dem Dorf hatte der Krieg keine sichtbaren materiellen Schäden zugefügt, von einigen zerborstenen Dachziegeln abgesehen, die herabregnende Flaksplitter verursacht hatten. Auf der Coppanzer Höhe oberhalb des Dorfes befanden sich schwere Flakstellungen, die die Aufgabe hatten, die Bombardierung Jenas und der Zeiss-Werke zu verhindern. Besetzt waren sie mit Hitlers letztem Aufgebot: sechzehnjährigen Flakhelfern. Die erste Welle der Bomber kam am 19. März 1945 genau über diese Höhen und pulverisierte in wenigen Minuten diese Stellungen. Eine einzige Bäuerin aus dem Dorf spannte nach dem Luft­angriff auf die Coppanzer Höhen ihre Pferde ein, rumpelte hinauf auf den Berg, holte die jungen Kerle, die überlebt hatten, aus den zerstörten Stellungen und versteckte sie in ihrer Scheune. Später suchten diese dann – von ihr mit Zivilkleidern versorgt – das Weite. Das war ein lebensgefährliches Unterfangen. Irgendwann, als es wieder ruhiger war, machte sich auch der Schuster des Dorfes auf den Weg hinauf. Seine Beute waren blau-weiß karierte Federbetten, ein Spind und zwei Feldtelefone mit Zubehör. Mehr passte nicht auf sein Wägelchen. So zumindest hat es mir meine Mutter später erzählt. Die Frau des Schusters, von allen »die Schustern« genannt, war ihre Großtante.

Die Wälder um Ammerbach waren noch lange unsicher. Bauernjungen aus dem Dorf fanden beim Holzeinfahren im Wald eine Panzerfaust, luden sie kurzerhand auf den Pferdewagen und wollten sie mit hinunter ins Dorf transportieren. Auf der Fahrt explodierte sie und riss einem der Jungen ein Bein ab. Der Krieg war doch schon lange zu Ende!

In dieses Dorf wurde ich also als halber Sachse und halber Sudetendeutscher hineingeboren und – obwohl Thüringen hier evangelisch war – katholisch getauft. Diese Idee hatte wohl mein Vater aus dem katholischen Sudetenland importiert. Meine Schwester Martina war schon evangelisch. Besonders praktisch war das allerdings für mich nicht, weswegen ich auch später meine Zugehörigkeit zur katholischen Kirche auf Eis legte. Vorher legte mich aber der katholische Pfarrer auf dasselbe, nachdem ich in seinem Garten Kirschen für die eigene Ernährung abgezweigt hatte. Mein ständiges Dazwischenfragen, wenn er seine Heiligengeschichten erzählte, hatte ihn ­ohnehin genervt. Folgerichtig musste unser Bruder Thomas, nachdem beide Religionen bereits durch seine Geschwister verbraucht waren, als Heide aufwachsen.

Der eherne Bezugspunkt meiner Familie im Dorf war meine Urgroßmutter Elsa. Ihr Geburtsname war Müller-Deck, und sie stammte aus Lauscha, dem tief im Thüringer Wald gelegenen Ort der Weihnachtsbaumkugeln und Glasaugen. Sie behauptete immer, der Erfinder des Glasauges, Ludwig Müller-Uri, sei mit ihr verwandt gewesen. In ihrer Schatulle bewahrte sie einen Zeitungsausschnitt auf, den sie mir manchmal zeigte und in dem Müller-Uri mit Bild und Text ausgiebig gewürdigt wurde. In Lauscha hießen fast alle Greiner oder Müller, und die Versuche, diese Wirrnis bei Eheschließungen durch Doppelnamen, wie beispielsweise Müller-Deck oder Müller-Uri, aufzulösen, waren nicht sehr erfolgreich. Jeder war eben mit jedem verwandt. Urgroßmutter angelte sich einen Hartmann, wahrscheinlich war es genau andersherum, und so heiratete sie in ein anderes thüringisches Dorf ein. Da es in Ammerbach aber schon seit dem 18. Jahrhundert reichlich »Hartmänner« gab, war das Ergebnis ähnlich wie weiter oben in den Bergen. Auch alle »Hartmänner« waren miteinander verwandt. Auf die Verwendung von Doppelnamen war man hier noch nicht gekommen.

Wir hatten einen Hartmann, der wurde immer »Baron« genannt, er tat aber nur so, als wäre er einer. Eine sehr schöne Kutsche, ein Landauer, komplettierte das. Auch die dazu passenden Pferde besaß er, die eigentlich zum Pflügen zu schade waren. Das machte natürlich andere im Dorf neidisch. Umso mehr freuten sie sich dann, als bei einer schneeweißen Hochzeit in seiner Familie beim Mittagessen der Kachelofen platzte.

Der Sohn eines anderen Hartmanns war mein Freund und Namensvetter Günter. Zusammen mit dessen Nachbarssohn Wolfgang bildeten wir ein passendes Dreigestirn. Wolfgang hatte einen Großvater, der etwas eigenartig war. Uns störte das nicht, aber alle im Dorf nannten ihn »Kuttein«. Sein Steckenpferd waren Nägel: rostige, krumme Nägel. Die sammelte er auf der Straße ein, wenn er unterwegs war, um für seine Karnickel Grünzeug zu holen. Das nannten wir hier »einkutten«. In seinem Kar­nickelstall hatte er ein großes Regal mit Marmeladen­gläsern voller krummer Nägel, natürlich nach der Größe sortiert. Manchmal saß er in der Sonne und kloppte sie gerade. Sein Markenzeichen waren ein kleines Wägelchen, eine große Sense, Gummistiefel oder Gummi­galoschen und – im Sommer – eine grüne Turnhose. Auch im Winter trug er keine Socken. Höllischen Respekt hatte er vor Autos. Er brauchte jedes Mal viele Minuten, um an der Schule die Kreuzung zu überqueren, obwohl kein Auto in Sicht war. Als er das erste Mal zu seiner Schwester in den Westen fuhr, wurde er von einem Auto überfahren.

Wie schon angedeutet, konnte ich die Hartmanns im Dorf und der Umgebung verwandtschaftlich nicht eindeutig zuordnen. Es war auch nicht notwendig. Die Frauen hatten zu Urgroßmutters Zeiten für gewöhnlich viele Kinder zur Welt gebracht. Wichtig schienen jedoch nur die männlichen Nachkommen. Später wurde mir klar, dass das oft mit der Landwirtschaft zu tun hatte. Meine Urgroßmutter Elsa brachte es auf fünf Töchter, ehe ihr erster Sohn Richard geboren wurde. Viele ihrer Kinder blieben in der näheren Umgebung wohnhaft. Da niemand genau wusste, wie man den entsprechenden Grad der Verwandtschaft korrekt titulierte, waren und blieben es eben »die Tanten« und »der Onkel Richard«, der als erster Sohn wie üblich den Namen seines Vaters erhalten hatte, was die Verwirrung natürlich noch größer machte. Aber so waren eben die Sitten.

Elsa – ich nannte sie ebenfalls einfach »Oma« – hatte einen ausgezeichneten Beobachtungsplatz im Dorf. Ihr Haus grenzte direkt an den Kirchhof. Wahlweise konnte sie sowohl die Dorfstraße als auch den auf der anderen Seite der Kirche gelegenen Kastanienplatz von den Fenstern im ersten Stock aus »überwachen«.

Der Kastanienplatz war sicher einmal der zentrale Ort des Dorfes gewesen, als die Autofahrerei noch keine Rolle spielte. Hier war der mit einem hohen Torbogen eingerahmte Eingang zum Kirchhof, der die umschließende Mauer überragte. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich der Hof des »Barons« mit seiner roten Backsteinfront, und auf der rechten Seite lag der Hof der ebenfalls alteingesessenen Ammerbacher Bauernfamilie Gretscher. In unmittelbarer Nähe stand das Spritzenhaus der Freiwilligen Feuerwehr. Zwischen dem Hof des »Barons« und dem Spritzenhaus ging die Waldstraße den Berg hinauf. Sie war gesäumt von Bauernhöfen, deren Alter man oft an den Torbögen der Hofeinfahrten, in Stein gehauen, ablesen konnte.

Richard, Elsas Mann, war Maurer von Beruf und ein ziemlich knorziger Typ. Wenn man ihn auf einem Foto in seiner kaiserlichen Uniform des Ersten Weltkriegs sah, hätte man annehmen können, dieser Krieg wäre bereits gewonnen. Das war bei Richard so falsch wie bei meinem Vater Josef. Als ich später selbst von Zeit zu Zeit eine Uniform anziehen musste, fühlte ich mich darin nicht besonders wohl, aber ich hatte das Glück, damit niemals in einen Krieg ziehen zu müssen. Eines Tages beschloss Richard, im Gärtchen vor dem Haus einen kleinen Gänse­stall zu errichten. Es war keine große Sache. Elsa konnte das Ganze von oben durch ihr kleines Stubenfenster überblicken, und mehr als einen Tag würde der Bau nicht dauern. Als sie zu Mittag den Kopf erneut aus dem Fenster steckte, um Richard zum Essen zu rufen, traute sie ihren Augen nicht: Richard stand im Gänsestall und mauerte sich ein. Mehr als Schulterhöhe brauchte er für die Gänse nicht, und die war bereits erreicht. Eine Öffnung für das Federvieh war auch schon vorhanden. Als Elsa rief, blickte sich Richard um und suchte einen Ausweg. Durch das Gänseloch passte er nicht, und oben hinaus ging’s ohne Flügel auch nicht. Elsa schaute gemütlich zu, wie Richard nach einer Weile fluchend buchstäblich mit dem Kopf durch die Wand ging.

Anfangs hatte ich noch einige Schwierigkeiten mit dem Leben, aber nachdem ich einen doppelseitigen Leistenbruch mit Hilfe der Ärzte überstanden hatte, ging es zügig voran.

Meine frühesten eigenen Erinnerungen stammen aus dem Kindergarten. Der erste Kindergarten des Dorfes wurde im sogenannten Burschenhäuschen eingerichtet. Es besaß nur einen Raum – ein hölzernes Toilettenhäuschen war draußen, es gab keine Küche, kein Wasser –, hatte aber eine wunderschöne Lage oberhalb Ammerbachs, neben einer großen Linde, um deren Stamm eine hölzerne Bank gezimmert worden war. Die Burschengesellschaft »Weimarania«, gegründet von Bauernsöhnen des Dorfes, hatte es um 1920 für ihre Versammlungen und Feste errichtet. Offensichtlich spielten dabei die Burschenschaften der Studenten eine Vorbildrolle. Burschenschaften gab es in der Universitätsstadt Jena wie Sand am Meer, und Ammerbach war ein bevorzugter Ausflugsort. Denn hier war ein sogenannter Paukboden vorhanden, ein Tanzsaal, in dem die strammen Burschen sich gegenseitig die Visagen zersäbelten, wenn darin nicht gerade gefeiert wurde. Die Mitglieder der »Weimarania« fuchtelten natürlich nicht mit dem Säbel herum, sondern hatten sich vorgenommen, etwas zur Vertiefung der Bildung zu tun, indem sie gute Bücher lesen wollten. Das war wohl aller Ehren wert, aber die Bildung kam leider nicht im Wahlspruch der »Weimarania« vor, welcher lautete: »Recht – Ehre – Einigkeit«. Das war markig und entsprach genau dem Zeitgeist. Bildung hätte da nur gestört.

Ich erinnere mich an ein wunderschönes Osterfest. Die Osternester hatten wir selbst aus Papier gebastelt und mit grün gefärbter Holzwolle gefüllt. Die »Osterhäsinnen«, das heißt unsere Kindergärtnerinnen, legten gekochte Eier hinein, versteckten alles im Wald, und wir zogen gemeinsam fröhlich mit einem kleinen Wagen aus, um sie wiederzufinden. Es war wirklich ein Fest. Dass jedes Kind nur ein Ei bekam, spielte keine Rolle. Die Wanderung den Berg hinauf in den Wald hinein mit Wagen und Gesang bildete den eigentlichen Höhepunkt.

Relativ schnell erkannte man im Dorf, dass eine schöne Lage allein für die Kinderbetreuung nicht ausreichte, und die Ammerbacher Frauen sorgten bei der neuen Obrigkeit für einen anderen Kindergarten. Es handelte sich um eine Baracke, in der bis 1945 Zwangsarbeiter gehaust hatten. Sie wurde zerlegt und an einem neuen Standort mit einer in die Zukunft weisenden neuen Bestimmung wiederaufgebaut. Der »alte« Thüringer Pädagoge Friedrich Fröbel (1782 –1852) hätte an diesem Kindergarten seine helle Freude gehabt. Es war in der Tat ein Garten für Kinder mit freundlichen, liebevollen Kindergärtne­rinnen, die von uns ebenfalls »Tanten« genannt wurden. Wir besaßen einen besonderen Schatz: eine riesige Kiste mit Holzbausteinen. Ein Tischler aus dem Dorf hatte sie aus Holzabfällen zurechtgesägt, und manchmal gab es Nachschub. Der große Spielraum war ständig mit Bauten aus diesen Steinen belegt.

Ich kann mich nicht erinnern, hier irgendwann einmal eine schlechte Erfahrung gemacht zu haben. Und doch startete ich unter diesen Bedingungen meine erste Ein-Personen-Unternehmung. Ich ging einfach nicht mehr in den Kindergarten. Ich bog morgens, von meiner Mutter mit einer gefüllten Brottasche gut ausgerüstet, an der riesigen Dorflinde nicht nach links über die alte Brücke zum Kindergarten ab, sondern lief nach rechts den Berg hinauf zum Burschenhäuschen, daran vorbei, noch um einen Garten herum, zu meinem neuen Spielplatz: einer romantisch gelegenen Steinbank zwischen Birken und Haselnusssträuchern. Von dort aus konnte ich die große Kirchturmuhr sehen. Ich wusste genau, wie die Zeiger stehen mussten, damit ich pünktlich um drei wieder zu Hause war. Genauso pünktlich nach der Uhr aß ich mein Frühstück; nur auf das Mittagessen verzichtete ich. Das war Anfang der 1950er Jahre sowieso keine besonders schmackhafte Angelegenheit. Wer kennt heute noch Graupensuppe? Und auch die später von meinen Kindern geliebten Nudeln mit Tomatensoße waren kein Gaumenschmaus. Die Farbe der Tomatensoße ähnelte dem ausgeblichenen Rot unserer Federbetten, wenn Mutter die Bezüge wechselte. Wir hatten die mit selbst gerupften Gänsefedern gefüllten Betten von Elsa bekommen. Mit mir selbst völlig im Reinen, konnte ich so tagelang nur mit mir und der Natur spielen. Das Wetter war schön, es war Sommer, und keinem fiel etwas auf, bis nach einigen Tagen eine Kindergärtnerin meine Mutter zufällig fragte, ob ich krank sei. Nun kam mein Alleingang ans Licht, und ich wunderte mich, dass sich alle so aufregten. Es war doch gar nichts passiert!

Eines Tages war meine Schwester verschwunden. Eben hatte man sie noch mit ihrer Freundin auf dem Bauernhof des »Barons« spielen gesehen, und nun waren beide nicht aufzufinden. Nach fast einem Tag hatte die Suche schon Ausmaße erreicht, die Schreckliches erahnen ließen. Aber dann entdeckte man die Mädchen doch noch rechtzeitig. Sie lagen in einer Scheune im Heu und schliefen. Anhand der umherliegenden Pillenschachteln erkannte man auch, was sie gespielt hatten. Diese Episode fand glücklicherweise mit einem mehrtägigen Dauerschlaf unter ärztlicher Aufsicht ein glimpfliches Ende.

Die Kinder im Dorf spielten grundsätzlich alle miteinander. Es gab keine altersbedingten Gruppen oder Ausgrenzungen aufgrund von Streitigkeiten. Keiner hatte Spielzeug, jedenfalls keines, was nach heutigen Kriterien diesen Namen verdient hätte, also gab es auch kaum Anlass für Streit. Auch die Spielplätze wurden gemeinsam gewählt: die Linde, der Kastanienplatz mit der Milchrampe, die Brücke, die Kirchhofsmauer. Auf der Milchrampe, die einem großen, sehr stabilen Tisch ähnelte, stellten die Bauern ihre vollen Milchkannen aus Aluminium ab, die dann das Milchauto in die Molkerei nach Jena brachte. Auf der Rampe und der Mauer spielten wir »Haschen«, das heißt Fangen, sehr zum Leidwesen von Elsa und Tante Trude, die das Terrain gut einsehen konnten und offensichtlich den Lärm, den wir machten, nicht ertragen wollten. Die Glasscherben auf der Mauer hatten wir längst mit Steinen »entschärft«. Ihr Sinn war uns ohnehin verborgen geblieben. Die Toten waren tot und wollten auch nachts um zwölf nicht über die Mauer, und auf dem Kirchhof gab es nichts zu stehlen. Als unser Schulhof vergrößert wurde, musste auch ein Teil des ehemaligen Kirchhofs abgetragen werden, auf dem schon lange keiner mehr beerdigt wurde. Grabsteine standen nur noch zwei oder drei herum, und es war nicht mehr lesbar, wer dort begraben worden war. Trotzdem fand man Gräber, in denen die Toten in noch fast intakten Särgen lagen. Manche von ihnen trugen ein Kopftuch um den jetzt kahlen Schädel.

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