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Kitabı oku: «Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild», sayfa 10

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So schnell sich der junge Bräutigam auch entschlossen hatte, so sorgsam hatte er doch gewählt. Ida von Bodelschwingh war von klein auf ein zurückhaltendes Kind gewesen. In dem großen Kreise von zehn Geschwistern war sie vielleicht die Stillste. Früh war sie von dem Strom ernsten religiösen Lebens erfaßt worden, der in der Zeit Friedrich Wilhelms IV. auch die vornehmsten Kreise ergriff. Aber die Auswüchse einer gekünstelten, wortreichen Frömmigkeit waren ihr fern geblieben. Sie hörte die treusten, entschiedensten Prediger, aber geschwärmt hat sie nie für einen von ihnen, sondern führte einen selbständigen Christenstand. Es war ihr schwer, die Bälle und Hoffeste mitzumachen, die sich nach der Stellung ihres Vaters als Finanzminister nach der Meinung der Eltern nicht umgehen ließen, und sie bat wohl mit Tränen, sie davon zu befreien, fügte sich aber ohne Auflehnung, als der Vater fest blieb.

Sie hatte eine sehr sorgfältige Erziehung genossen. Curtius und Wiese, die auch ihres späteren Verlobten Lehrer aus dem Joachimstalschen Gymnasium gewesen waren, hatten ihr zusammen mit ihrer älteren Schwester Luise und einem kleinen Kreise von Freundinnen Unterricht gegeben. Für die Ausbildung in der Musik stellte der Vater ungewöhnliche Anforderungen. Schon früh um sechs begann für sie das Üben auf dem Klavier, damit die drei bis vier täglichen Übungsstunden durchgehalten werden konnten. Die Mutter, sparsam und einfach, wie die damalige Zeit es war, hielt im Hause auf große Pünktlichkeit und Ordnung und legte gerade so die sichere Grundlage für die Heiterkeit und Sorglosigkeit des Hauses.

„Wer als Gast ins Finanzministerium kam,” so erzählt ihre nächste Freundin, Frau von Zacha geb. von Löwenfeld, „fühlte sich von großer Behaglichkeit und Fröhlichkeit umweht. Und im Grunde war Ida von allen ihren Geschwistern die Heiterste. Gerade weil sie von Jugend auf je und dann im Kampf mit der Schwermut lag, hatte sie, sobald der Angriff wieder überwunden war, etwas Befreites und Befreiendes. Da sie selbst viel gelitten hatte, sah sie schnell, wenn andere litten, und auch die Schwächen anderer entgingen ihr nicht. Aber je schärfer sie sah, je tiefer fühlte sie mit Gesunden und Kranken, und das hingebende, selbstverständliche Mitleid, das sich nicht in Zärtlichkeit, sondern in Fürsorge äußerte, machte sie schon damals zur Wohltäterin für jeden, mit dem sie zusammentraf.

Dabei machte sie niemals irgend einen Unterschied des Standes. Sie war gegen jeden gleichmäßig gütig. Hoheit blendete sie nicht, und Niedrigkeit schreckte sie nicht. Auch verleitete sie ihr scharfes Auge nie dazu, andern weh zu tun. So hat sie mir während unserer fünfzigjährigen Freundschaft immer die Wahrheit ins Gesicht gesagt, oft mit verblüffender Schärfe, aber ohne mich jemals zu verletzen. Das ging auch Fernerstehenden so. Die Ehrlichkeit ihrer Liebe, auch wenn sie scharf war, tat nicht weh, sondern überaus wohl.

Und ehrlich wie im Wesen war sie auch im Wort. Sie beschönigte nichts; sie stellte die Dinge dar, wie sie waren. Nie hörte man von ihr irgend eine Unwahrheit. Darum war auch ihr Urteil klar und schnell gefaßt. Wenn andere sich zergrübelten, sagte sie: „Was quält ihr euch? Die Sache liegt doch so einfach.” So sah sie auch ihren eigenen Weg klar vor sich. Sie zersplitterte und zerstreute sich nicht, sie ließ sich nicht verwirren von dem, was andere taten und trieben, und wenn es ihre Nächsten und Liebsten waren. Sie war nicht für das Weite und Große veranlagt; darum trachtete sie auch nicht danach. Aber in ihrem Kreise war sie von unvergleichlicher Treue und Hingabe.”

Im April 1861 wurde die Hochzeit in Haus Heide gefeiert. Die Hochzeitsreise führte besonders zu den Freunden ins Minden-Ravensberger Land. Volkening in Jöllenbeck segnete sie zu ihrer gemeinsamen Arbeit in Paris. „Sie gehen unter die Löwen und Bären”, sagte er der jungen Frau.

In Paris wartete das Londoner Holzhaus auf sie. Achtmal acht Meter hatte es im Geviert. Unten wohnten Lehrer Witt mit Frau und Kindern und Witwe Schnepp mit ihrem Sohn, die beiden Familien als Magd diente. Darüber war die Pfarrwohnung. In den engen kleinen Stübchen hatten natürlich nur die kleinsten Möbel Platz. Und es war gut, daß die damalige Möbelmode von Paris Gelegenheit gab, solche kleinste Möbel zu erwerben. Das Klavier konnte nur durch das Fenster hinaufgeschafft werden.

Die ungewohnten und unbehaglichen äußeren Verhältnisse, zu denen namentlich auch das harte Regiment von Frau Schnepp gehörte, wurden tapfer ertragen. Pastor und Pastorin, die ja ihrer äußeren Herkunft nach die Vornehmsten innerhalb der Gemeinde und des Mitarbeiterkreises waren, sahen darin desto mehr Verpflichtung, sich selbst und ihr Haus allen zu Dienst zu stellen. So wurde der kleine stille Hügel mit seiner Pfarrwohnung in den Sommermonaten für die Familien der Mitarbeiter in der Stadt und den Vorstädten zu einem Ausflugsort, wo man gern für einige Stunden aufatmete. Im Winter freilich, solange die Eisenbahn noch nicht bis La Villette durchgeführt war, waren die Wege fast unergründlich, und für die Verwandten, die aus Deutschland zu Besuch kamen, blieb als einziger Spazierweg nur der kleine Pfad übrig, der rings um den Hügel durch die Gebüsche geschlagen worden war.

Noch im Laufe des Jahres 1861 konnte der Hügel endgültig käuflich erworben werden. Nun war es auch möglich, Kirche und Schule aus festem Material zu bauen. Beide wurden unter einem Dach errichtet, und auch den französischen Gemeinden, die sich allmählich unter der Arbeit französischer Pastoren in den jungen Stadtteilen gebildet hatten, wurde Gastrecht in der von deutschen Mitteln erstehenden Kirche gewährt. Unten waren die Schulräume, sowohl für die Kinder deutscher wie französischer Zunge, oben die Kirche. Für den französisch sprechenden Teil wurde ein besonderer Pastor angestellt, der am Vormittag den Gottesdienst hielt, während der Nachmittag nach wie vor den Deutschen vorbehalten blieb.

Aus dem verkauften Schmuck der Pastorin und andern Gaben erhielt die Kirche eine Orgel, auf der die Pastorin statt des bisherigen eintönigen Gesanges die rhythmischen Lieder mit der Gemeinde einübte. Ein neues Gesangbuch und eine neue Gottesdienstordnung wurden eingeführt, und die Haupt- und Nebengottesdienste wurden liturgisch ausgestaltet. Da die Massenbegräbnisse auf den Pariser Friedhöfen, wo Sarg auf Sarg in unaufhörlicher Reihenfolge versenkt wurde, keine Stille aufkommen ließen, so wurde jeder Sarg der Hügelgemeinde zunächst vom Trauerhause in die Kirche getragen und hier in aller Sammlung die Trauerfeier gehalten, ehe der gemeinsame Weg zum Friedhof angetreten wurde. Nicht nur den Erwachsenen, sondern auch den Kindern der Gemeinde wurde diese letzte Ehre erwiesen.

Das alte kleine Blockhaus wurde Kleinkinderschule, und zwei Nonnenweierer Schwestern übernahmen die Arbeit darin. Zur festeren Verbindung der Gemeindeglieder untereinander, namentlich auch derer, die Sonntags nicht kommen konnten, schrieb Bodelschwingh „Das Schifflein Christi”, ein kleines Monatsblatt, das zugleich die Freunde in Frankreich und in der deutschen Heimat wach und warm erhielt für die Aufgaben an den Deutschen in Paris.

Die Feder seiner Frau kam Bodelschwingh bei allen seinen schriftlichen Arbeiten sehr zu Hilfe. Wenn es auch innerhalb des Kollegiums der deutschen und französischen Pastoren Augsburgischer Konfession Brauch war, alles Schreibwesen möglichst zu unterlassen und statt dessen in den vierwöchentlichen Zusammenkünften die schwebenden Fragen mündlich zu erledigen, so blieb doch für den Schreibtisch immer noch eine Fülle von Arbeit übrig. Namentlich besorgte Eltern und Verwandte, die ihre Angehörigen in Paris hatten oder nach Paris reisen lassen mußten, baten um Rat, Auskunft und Hilfe.

Aber viel mehr Zeit und Kraft nahmen die Besucher selbst in Anspruch. Das Gastzimmer oben im Giebel wurde zu einer Herberge zur Heimat, in der es von seltsamsten Gästen aus- und einging. Schon vor seiner Verheiratung hatte Bodelschwingh einmal eine ganze Karawane von 23 Missionsfrauen und – kindern, die aus Indien kamen und in die Schweiz weiterreisten, in geborgten Betten quartiert. Jetzt wurden er und seine Frau vollends zu Herbergsleuten für allerlei Volk. Mehrmals waren es Angehörige vornehmer deutscher Familien, die sich nach Paris geflüchtet hatten, um dort sich selbst und ihre Vergangenheit zu vergessen, die aber doch schließlich durch die Not gezwungen wurden, nachdem sie alle andere Hilfe durchprobiert hatten, an die kleine Tür des Hügelpastors zu klopfen.

Mancher von ihnen hat ihn belogen, betrogen oder auch bestohlen, und oft war es für die Pastorin nicht leicht, wenn ihr Mann bis spät in die Nacht hinein auf den Außenstationen der Gemeinde war, mit irgend einem ungewissen Herbergsgast allein gelassen zu sein. Aber daß beide sich belügen, betrügen und bestehlen ließen, ohne verbittert zu werden; daß sie wohl vorsichtiger wurden, aber doch ihre Herberge nicht schlossen, sondern fortfuhren, den Verlorenen und Versinkenden zu dienen, segnete Gott. Bisweilen gelang es, verlorene Söhne, die aus der Heimat nach Paris geflüchtet waren, zu bewegen, sich den deutschen Gerichten zu stellen, die erwirkte Strafe willig zu ertragen und so den ersten Schritt zu einem neuen Anfang in der Heimat zu machen. Und einige Male kamen aus deutschen Gefängnissen rührende Beweise des Vertrauens und des Dankes von solchen, die nicht umsonst in dem Hügelpfarrhaus eingekehrt waren. Aber es waren nicht nur solche gefährdete Existenzen, die die Herberge benutzten. Angehende Mitarbeiter in dem deutschen Missionswerk in Paris, alte und neue Freunde, Bekannte und Verwandte stellten sich ein, und manche dauernde Freundschaft wurde geschlossen, die zugleich unmittelbar dem weiteren Ausbau der Hügelgemeinde diente.

Aber der helle Sonnenschein, der über dem Hügel lag, wurde von ernsten Schatten abgelöst. Acht Tage nach der Geburt des ersten Söhnchens erkrankte Ida von Bodelschwingh. Die Freude nach der überstandenen Angst war zu groß für ihr zartes Gemüt und schlug bald in desto schwereren Gemütsdruck um. Der treue Arzt, der Bruder Adolf Monods, riet zur Reise in die Heimat. Der Pariser Rothschild stellte seinen Salonwagen zur Verfügung. Für drei Monate wurde die kleine Familie auseinandergerissen. Das Kind kam zur alten Großmutter, die Mutter in die Pflege eines treuen befreundeten Arztes, und Bodelschwingh kehrte allein in sein verödetes Heim zurück.

Aber die Arbeit litt unter seinem Schmerz nicht, und seine eigene Seele versenkte er desto tiefer in die kräftigen Tröstungen Gottes. Wenn er abends von seinen fernen Außenstationen nach dem Hügel zurückkehrte, oft so spät, daß er keinen Omnibus mehr benutzen konnte, dann lernte er, von Laternenpfahl zu Laternenpfahl wandernd und im Schein des Laternenlichtes sich den Inhalt des Verses einprägend, ein Kirchenlied nach dem andern auswendig. Seine Predigten, die er für gewöhnlich frei gehalten hatte, schrieb er eine Zeitlang wieder auf, um sie seiner Frau zu schicken, sobald es ihr Zustand erlaubte.

Aber ehe er im Mai Frau und Kind wieder zurückholen konnte, traf ihn und die ganze Familie ein neuer schwerer Schlag. Sein jüngster Bruder Ernst, der Liebling der ganzen Familie, der jetzt als Jägeroffizier in Cleve stand, wurde durch einen Hitzschlag seiner Frau und seinen zwei kleinen Söhnchen entrissen. Bei großer soldatischer Tüchtigkeit hatte er sein bewußtes Christenleben durchgeführt, aber ohne irgendwie sich aufzudrängen, und sein Freund, der spätere General von Oidtmann, rühmte es ihm nach, daß Ernst von Bodelschwingh wohl regelmäßig mit ihm die Bibel läse, aber ohne je auch nur den leisesten Versuch zu machen, ihn aus der katholischen Kirche herauszuziehen. Gerade das bewog dann Oidtmann zum Übertritt. So dunkel das Sterben dieses Bruders war, es kam kein Ton der Klage in der Familie auf, und Bodelschwingh, der seinen Bruder in Velmede beerdigte, schrieb an seine Frau:

Meine teure Ida!

Unser lieber Bruder ist genesen, genesen für die Ewigkeit. Träumend hat ihn der Herr durch des Todes Türen geführt, ohne ihn seine Bitterkeit kosten zu lassen. Die arme Elise ist ganz wunderbar gestärkt, so auch unser Mutterchen. Sie hat noch am Abend vor seinem Tode sagen können: „Halleluja! Willst du ihn erlösen, so will ich dir danken.” – Sie ist nicht hier, aber wir drei Geschwister sind beisammen, Franz, Friedchen und ich. Morgen, nachdem ich auf der Geschwister Bitte dem geliebten Bruder einige Worte des ewigen Lebens habe nachrufen dürfen, eile ich mit den Geschwistern zur lieben Mutter. Die Leiche nehmen wir mit, sie nach dem Wunsche des Seligen an des Vaters Seite zu bestatten.

Sei ganz getrost um mich, mein liebes Weib. Solch einen Bruder darf man ja getrosten Mutes in die Ewigkeit ziehen sehen. War doch seines Jesu Kreuz seit langem sein einziger Ruhm.

Der Friede des Herrn sei mit dir!

Dein Friedrich.

Ende Mai zog dann die kleine Familie wieder auf dem Hügel ein. Die Krankheitszeit über war aus der Gemeinde heraus, namentlich auch von den Kindern gebetet worden, daß Mutter und Kind dem Hügelpastor erhalten bleiben möchten. Darum war der Tag der Rückkehr für die ganze Gemeinde ein großer Freuden- und Danktag. Auf ihn folgte noch fast ein Jahr neuer gemeinsamer Arbeit an den Aufgaben im unruhvollen Paris. Nur der Sonnabend bildete einen Ruhepunkt. Wenn irgend möglich, zogen dann die Eltern Bodelschwingh mit ihrem kleinen Ernst zur stillen Vorbereitung auf den Sonntag hinaus in den Bois de Boulogne mit seinen einsamen Inseln und schattigen Plätzen, wo die Nachtigallen sangen und die stillen Schwäne dahinzogen.

Aber die Krankheit seiner Frau hatte Bodelschwingh doch die Frage aufs Gewissen gelegt, ob er ihr auf die Dauer das unruhige Leben in Paris zumuten dürfte. Als sich ihm in dem jungen Württemberger Vikar C. Berg (dem späteren württembergischen Prälaten) ein Nachfolger zeigte, dem er mit größtem Vertrauen das begonnene Werk übergeben konnte, und als sich ihm in der Heimat ein Arbeitsfeld bot, das ihm Raum genug ließ, in Deutschland für das Missionswerk in Paris weiter zu werben, war sein Entschluß gefaßt.

Dellwig. 1864 – 1872

Wer das Tal der Ruhr hinaufwandert, läßt bei Schwerte die dunklen Schornsteine und rauchgeschwärzten Häuser des westfälischen Industriegebietes hinter sich und sieht, wenn er zwei Stunden durch die lieblichen Weiden mit ihren schwarzbunten Herden flußaufwärts gelangt ist, zu seiner Linken einen spitzen, hohen Kirchturm ragen: das ist Dellwig, eines der ältesten Kirchdörfer der Grafschaft Mark.

Sein Turm hat schon seit 900 Jahren die Ruhr hinauf- und hinuntergesehen, und all’ die Geschlechter dieser 900 Jahre liegen zu seinen Füßen begraben, sodaß der Kirchhof allmählich immer höher wurde und man jetzt auf mehreren Stufen in die Kirche hinabsteigt. Die Familie Neuschmidt aber, die am Rande des Kirchplatzes im Schulhause wohnte, hat der Gemeinde vier Jahrhunderte hindurch die Lehrer gestellt, indem immer der Sohn auf den Vater folgte. Es muß ein zähes Geschlecht sein, das von einer solchen Lehrerfamilie 400 Jahre hintereinander unterrichtet und erzogen wurde; und es ist es auch.

Wer aber den tief ausgewaschenen Talweg hinaufsteigt, bis er die Wasserscheide des Haarstrangs erreicht, hat oben von der Wilhelmshöhe einen weiten Rundblick. Jenseits der Ruhr nach Süden zu liegen die stillen Wälder des Sauerlandes, altes kurkölnisches Gebiet. Nach Norden geht der Blick in die Gegend der Lippe und bis in die fruchtbare Soester Börde hinein. Der Westen ist verschleiert durch den Dunst der Hochöfen von Dortmund. Hart am Fuße des Berges aber, nach Nordosten zu, liegt das alte Städtchen Unna, wo Philipp Nicolai zur Zeit der Pest seinen „Freudenspiegel des ewigen Lebens” schrieb und der Christenheit den König und die Königin ihrer Choräle schenkte: „Wachet auf! ruft uns die Stimme” und „Wie schön leuchtet der Morgenstern”.

Dellwig hatte bis zu Anfang des vorigen Jahrhunderts zwei Pfarrer gehabt. Nachdem aber in der napoleonischen Zeit die Seelenzahl auf 1300 heruntergegangen war, beschloß man, die zweite Pfarrstelle eingehen zu lassen. Der übriggebliebene Pfarrer war ein gemütvoller Mann, der in jenen wirtschaftlich vielfach so schweren Jahren seinen Gemeindegliedern recht und schlecht zur Seite stand. Aber, wie die meisten der damaligen Amtsträger dem Vernunftglauben verfallen, kam er über eine äußere Erledigung seiner Amtsgeschäfte kaum hinaus und predigte meist vor leeren Bänken.

Einmal im Jahre hatte er sämtliche Gemeindeglieder der sechs nach Dellwig eingepfarrten Ortschaften zu besuchen. Das tat er treulich zu Anfang jeden Jahres. Er sammelte bei dieser Gelegenheit die Abgaben ein, aus denen ein großer Teil des Pfarreinkommens bestand, und erhandelte die Kühe, die den Sommer über auf den Pfarrwiesen jenseits der Ruhr fettgeweidet wurden. Der Lehrer und Küster Neuschmidt begleitete ihn, und ein Knecht mit einem Wagen und den nötigen Säcken folgte.

In diese gemütlichen, aber für das innerste Leben der Gemeinde doch recht dürren Zeiten kam erst ein Umschwung, als im Herbst 1854 Pastor Philipps in das niedrige alte Pfarrhaus in Dellwig einzog. Er war ein Mann, der in der unsichtbaren Welt zu Hause war und tiefe Einblicke getan hatte in die Geheimnisse der Menschenseele. Mit Entschlossenheit verkündete er den Glauben an den Heiland der Sünder. So fing seit Herbst 1854 ein neuer Luftstrom an, durch die Gemeinde zu wehen.

Zehn Jahre hatte Philipps die Arbeit in Dellwig allein getan. Da begannen seine Kräfte nachzulassen. Denn die Wege nach Billmerich hinauf und nach der andern Seite bis Strickherdecke hinunter waren weit, und Sonntags, wenn, wie es Sitte war, nicht in der Kirche, sondern in den einzelnen Häusern der Gemeinde die Kinder getauft wurden, ging die Arbeit oft über sein Vermögen, und ein ernstes Halsleiden zeigte seine ersten Spuren. So entschloß man sich, die eingegangene zweite Pfarrstelle wieder aufleben zu lassen. Der erste, der für die neu zu besetzende Stelle eine Gastpredigt hielt, war der bisherige Gassenkehrer-Pastor aus Paris. Als er auf die Kanzel kam und, wie das seine Art war, seine klaren, dunklen Augen durch die ganze Kirche wandern ließ, stieß einer von denen, die oben auf der Männer-Prieche saßen, seinen Nachbar an und sagte leise: „Wenn wir den doch zum Pastor bekämen! Den Mann hat man ja lieb, noch ehe er ein Wort gesprochen hat.”

Und so kam es. Im Frühjahr 1864 nahmen Bodelschwinghs, nicht ohne heiße Tränen der ganzen Gemeinde, von ihrem kleinen Hügel in Paris Abschied und zogen mit ihrem Erstgeborenen in das Pfarrwitwenhaus von Dellwig ein. Mit dem Aufhören der zweiten Pfarrstelle war auch eines der beiden Pfarrhäuser, das oben neben der Kirche gelegen hatte, verkauft worden. Das Pfarrwitwenhaus aber, worauf seit langem keine Witwe Anspruch erhoben hatte, war für die Zwischenzeit einem Schweinehändler überlassen gewesen. Seine Fachwerkwände waren zum Teil schon sehr windschief, und der Lehm war an manchen Stellen herausgefallen. Aber zum Einzug des neuen Pfarrers wurde das Haus, so gut es nur irgend ging, hergerichtet. Immerhin mochte es damals wohl das bescheidenste Pfarrhaus sein, das in der ganzen Grafschaft Mark zu finden war. Aber gegenüber den engen Stübchen des Pariser Holzhauses bedeutete es doch eine Verbesserung. Nach vorn, wo die Brücke über den Dorfbach auf die Straße und zum Haus von Pastor Philipps führte, lag ein kleines Blumengärtchen, hinter dem Haus aber und zur Seite erstreckte sich ein schöner Obstbaumhof. Dort lag auch die Scheune, wo die Pfarrkuh ihren Platz hatte.

Es war eine köstliche Zeit der Stille, die Bodelschwingh und seine Frau nach der heißen Pariser Arbeitszeit in den ersten Jahren in Dellwig verlebten. Man spürt es den Briefen der Pastorin, die aus der damaligen Zeit erhalten sind, ab, wie sie in dieser ländlichen Zurückgezogenheit aufatmete und wie auch ihr Mann, auf dem die Not der Weltstadt und der tägliche Anlauf bisweilen schwerer gelastet hatten, als er selbst es zugeben wollte, heiterer und mitteilsamer wurde. Er konnte wieder ein wenig studieren, er konnte auch bei seinem lebendigen Teilnehmen an allen Geschehnissen wieder die Kreuzzeitung lesen, und oft saß seine Frau bei ihm auf seinem Zimmer, während ihr Mann ihr vorlas. Sonnabends aber brauchte er nicht, um sich auf den Sonntag vorbereiten zu können, auf die unruhigen Straßen von Paris zu flüchten, wo er doch immer noch ungestörter gewesen war als auf seinem überlaufenen Stübchen im Hügelhaus, sondern er konnte in die „Hulmke” gehen, einen schönen stillen Eichenwald, der sich damals noch an der Ruhr entlangzog, und seiner Gewohnheit nach, ohne Feder und Tinte zu Hilfe zu nehmen, seine Predigt meditieren.

Lieblich blühte das Familienleben auf. Zu dem kleinen Ernst gesellte sich noch eine Elisabeth, ein Friedrich und ein Karl. Von Velmede her kam zu Wagen die alte Mutter mit ihrer Tochter, der Tante Frieda, gefahren, und von dem noch näheren Heide stellten sich die Eltern und Geschwister der Pastorin ein, um sich an dem reichen Glück mitzufreuen, das sich in dem Witwenhaus von Dellwig entfaltete. Und als zum ersten Dellwiger Geburtstag der Pastorin als Geschenk ihres Vaters gar ein Paar Ponys vor der steinernen Treppe standen, die ins Haus hineinführte, gab es manche erquickliche Fahrt zu lieben Verwandten und Nachbarn in der Nähe und Ferne. Auch die alten Pariser Freunde und Mitarbeiter stellten sich ein, bald einzeln, bald zu zweien und dreien. Sie freuten sich, in dem stillen Pfarrhause für eine Weile dem Getriebe der Weltstadt entrückt zu sein, und zogen auch wohl mit hinaus in eines der Eichengehölze des Ruhrtales, um an den Rasenabhängen zu lagern, während die Kinder die Abhänge hinunterkullerten und Blumen, Erdbeeren und Brombeeren für Eltern und Gäste sammelten.

Wer aber heute durch die Gemeinde Dellwig wandert und nach den früheren Pastorsleuten fragt, den umfängt nicht nur wie aus weiter Ferne ein Sonnenstrahl jenes glücklichen Familienlebens im kleinen Pfarrhaus, sondern überall umtönen ihn die Erinnerungen an die stille, ernste Arbeit, die alsbald von dem Pastor und der Pastorin in Angriff genommen wurde. Die Verkündigung des Evangeliums war schon in Paris der Mittelpunkt der Arbeit gewesen. So wurde nun auch in Dellwig in Früh- und Hauptgottesdienst, in Christenlehre und wöchentlichen Bibelstunden der Same reichlich ausgestreut.

Noch heute erzählt man sich in Dellwig von den Predigten, die durch Gleichnisse und Erzählungen für das Verständnis so sorgsam zugerichtet waren und durch heiligen Ernst und lockende Liebe tief in Herz und Gewissen griffen. „Ich weiß, wie euch zu Mute ist, ihr lieben Dellwiger, ich habe ja selbst das Säelaken auf dem Rücken gehabt”, sagte der Pastor wohl gelegentlich. Und wie es den Bergleuten, die von Billmerich herunterstiegen, zu Mute war, wußte er auch. Hatte er doch einst wie sie im Schoß der Erde vor Ort gelegen. Die Konfirmanden und Katechumenen aber hatten den ersten Platz in der Kirche; und noch findet sich in Dellwig manch sorgsam geschriebenes Heft, worin die Konfirmanden am Sonntag nachmittag die am Morgen gehörte Predigt eintrugen.

Treu teilten sich die beiden Kollegen in die Arbeit. Aber die Krankheit von Pastor Philipps wuchs, und nach zwei Jahren konnte er eines Sonntags nicht mehr. Sein Hals versagte den Dienst. Er merkte, daß es zum Sterben ging. Unvorbereitet mußte Bodelschwingh statt seiner auf die Kanzel. Er nahm den Text von den Vögeln und Lilien, die nicht sorgen; und manches Auge in der Kirche wurde feucht, als er so kindlich und zuversichtlich von der sieghaften Freudigkeit sprach, mit der der sterbende Pastor dem Tode entgegengehen dürfe, und als er der Gemeinde schon jetzt die Frau und die Kinder ihres Abschied nehmenden Hirten so eindrücklich ans Herz legte.

Fortan bis kurz vor dem Tode des langsam hinsterbenden Kollegen findet sich in den Kirchenbüchern keine Aufzeichnung mehr von Bodelschwinghs Hand. Alle schriftlichen Arbeiten überließ er Pastor Philipps. Er sollte die Freude der Arbeit bis zuletzt genießen. Und wie froh war Bodelschwingh, nun die Feder ruhen lassen zu dürfen! Sie war ja nie seine Freundin gewesen, und manchen herben Tadel des Superintendenten mußte er einstecken für Berichte, die dem Schema der Kirchenordnung nicht entsprachen oder zu spät abgeliefert waren. Freilich mahnte ihn Pastor Philipps wohl in heiterem Ernst, er möchte doch wenigstens für seine Predigt sich an Tinte und Feder gewöhnen, damit er Zeit und Maß besser innehalte. „Du hast recht, lieber Philipps,” war dann wohl die Antwort, „du hast recht. Ich will mir auch Mühe geben. Aber es wird mir so sauer.” Doch schon bei nächster Gelegenheit stand er wieder in der Tür und bat: „Ach, Philipps, laß mich für meine Predigt ein bißchen in deinen Kuhkamp laufen! Ich kann von meiner Pariser Art noch nicht lassen.”

Kaum einen weiteren Weg aber machte er in die Gemeinde, ohne vorher bei seinem kranken Kollegen einzukehren und mit ihm zu überlegen. Auf dem Rückweg sprach er wieder vor, um ihm von seinen Wegen durch die Gemeinde zu berichten. Die Kinder des Philippsschen Hauses aber wissen sich noch zu erinnern, wie sein Rock einmal, als er in ihr Haus kam, ganz mit Holzfasern bestreut war. Während sie ihn abbürsteten, ließen sie ihm keine Ruhe, bis er gestand, woher die Fasern kamen.

Er hatte eine alte Frau getroffen, die sich mühsam mit ihrem Holzbündel schleppte. Da hatte er nicht nachgelassen, bis sie ihm ihr Bündel abgab und er es ihr nach Haus trug. Aber es war ihm schrecklich, wenn aus dergleichen etwas gemacht wurde. Das verstand sich ja für ihn von selbst; und noch heute erzählen die Leute von Dellwig, daß er überall, wo er jemand unter einem Sack oder irgend einer andern Last mühsam dahingehen sah, mit zufaßte und nicht eher nachgab, bis der andere sich helfen ließ.

Aber es gab schwerere Lasten zu tragen als Holzbündel und Mehlsäcke. Der Märker ist aus hartem Holz gemacht. Einer, der ihn kennt, sagt von ihm: „Er schreibt seinen Haß oben in sein Hypothekenbuch, und dieser Haß muß von Kind auf Kindeskind fortgeerbt werden.” Unermüdlich war darum Bodelschwingh bemüht, solchen Haß, wie er ihn in Dellwig reichlich vorfand, im Keime zu ersticken. War der Termin für die streitenden Parteien vor dem Gericht zu Unna schon angesetzt, so kam es öfter vor, daß Bodelschwingh durch einen Brief oder einen persönlichen Weg zum Gericht einen Aufschub erwirkte. Dann benutzte er die Zwischenzeit, um Frieden zu stiften.

Einmal sah man ihn vom Mittag bis zum Abend an der Arbeit, um mit langen Bohnenstangen, an denen weithin sichtbare Papierstreifen flatterten, eine strittige Grenze festzustellen. Aber als der Abend kam, war man sich noch nicht einig, und Bodelschwingh sagte: „Leute, wenn wir uns aufs Recht steifen, kommen wir nicht zum Ziel; wir müssen den gütlichen Weg nehmen.” Und wirklich, die Leute gaben nach und vertrugen sich.

Zwei andere Nachbarn stritten um eine Eiche, die auf der Grenze stand und 30 Taler Wert hatte. Ehe entschieden war, wem der Baum gehöre, ließ der eine, der ein besseres Anrecht zu haben glaubte, die Eiche schlagen. Natürlich war dadurch der Kampf aufs äußerste verschärft. Was tun? Bodelschwingh schickte seinen Wagen und ließ die Eiche auf den Pfarrhof bringen, wo gerade das neue Pfarrhaus im Bau begriffen war. Dann ging er zu den Streitenden und bat sie, jeder von ihnen möchte ihm sein Anrecht an die Eiche zu Gunsten des Pfarrhausbaues abtreten. Die beiden erklärten sich mit dieser höheren Gerechtigkeit einverstanden. Obgleich keiner auch nur einen Pfennig Geld bekam, war doch im Grunde die Eiche noch gut bezahlt, da jeder von beiden nun die weiteren Prozeßkosten gespart hatte.

Auch von der Kanzel griff er in die jeweiligen Zwistigkeiten der Gemeinde ein. Zwei Höfe in Altendorf, die nach Dellwig eingepfarrt waren, lagen in Streit. Die eine Partei des Dorfes stand für diesen Hof, die andere für den andern. Eide über Eide wurden geschworen. Da rief er von der Kanzel herunter, daß es den Leuten noch nach Jahrzehnten in den Ohren klang: „Schämt ihr euch nicht, ihr Altendorfer?” Und auch hier gelang es ihm über Jahr und Tag, dem Haß der streitenden Parteien wenigstens die schärfsten Spitzen abzubrechen. Denn seine Liebe hatte schon damals eine Geduld und eine Glut, denen nur ein ganz verhärteter Sinn auf die Dauer widerstehen konnte.

Diese Glut konnte gelegentlich auch in hellem, heiligem Zorn auflodern. Es war eine sogenannte Gebehochzeit in der Gemeinde gewesen, bei der es, wie immer bei solchen Gelegenheiten, ganz besonders ausgelassen und wüst zugegangen war, weil Eß- und Trinkvorräte als Gaben der einzelnen Festteilnehmer herbeigeschleppt wurden. Bodelschwingh und seine Frau hatten getan, was sie konnten, um das Brautpaar zu bewegen, eine stille Hochzeit zu feiern. Umsonst. Das Fest ging in der gewohnten üppigen Weise vor sich. Auch der Sohn einer Witwe nahm daran teil. Als er am Morgen in jämmerlichem Zustande nach Hause kam, gab es einen heftigen Zusammenstoß zwischen Mutter und Sohn. Der Sohn verließ das Haus und kam nicht wieder. Als er am Abend noch nicht zurück war, machte sich seine Mutter auf, um ihn zu suchen, und fand ihn erhängt im Holze. Die Nachricht eilte durchs Dorf. Bodelschwingh war aufs tiefste erschüttert. Er litt mit der unglücklichen Mutter, als wenn er das Schreckliche an seinem eigenen Kinde erlebt hätte.

Noch stand die Leiche über der Erde, als in der Nähe des Trauerhauses ein Richtfest mit dem üblichen Lärm und Branntweingenuß gefeiert wurde. Bodelschwingh hörte den Lärm, nahm seinen Stock, stürzte, aufs tiefste verwundet, zu der lärmenden Schar und rief: „Während die Witwe über den Tod ihres Sohnes verzweifelt, seid ihr hier am Tollen? Ich schlage jeden nieder, der nicht sofort nach Hause geht.” Die Kinder, die ihren Pastor nie so gesehen hatten, kletterten, so schnell sie konnten, über die Hecke und suchten das Weite. Die jungen Burschen drückten sich still davon, nur einer sagte im Davonschleichen: „Herr Pastor, man lebt doch nur einmal.” Daran knüpfte Bodelschwingh am nächsten Sonntag an: „Man lebt nur einmal, aber – man stirbt auch nur einmal.” Und dann gab es eine Predigt, die bei vielen den Grund der Seele traf und noch durch Jahre nachklang.

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01 ağustos 2017
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