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Kitabı oku: «Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild», sayfa 31

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Ebenso ging es ihm in den Ministerien. Wenn er sich telephonisch angemeldet hatte, standen oft schon die Portiers draußen vor der Tür und sahen die Straße entlang, um ihn gleich in Empfang zu nehmen und ihm die Wege zu weisen. Dabei kam es ihm natürlich zustatten, daß er sich von seiner Jugendzeit her, wo seine Eltern in drei verschiedenen Ministerien gewohnt hatten, dort wie zu Hause fühlte. Als wir einmal bei einem Geheimrat im Kultusministerium zu einer Besprechung zusammensaßen und es draußen klopfte, rief nicht der Geheimrat, sondern Vater: „Herein!”, ohne daß der Geheimrat das als einen Eingriff in seine Rechte empfand. Man beugte sich eben unwillkürlich unter die bezaubernde Gewalt dieser harmlosen kindlichen Überlegenheit.

Um die Zeit auszunutzen, diktierte er uns oder auch seinem Sekretär in den Vorzimmern der Minister seine Briefe, bestellte dorthin auch die, die er an seinem Teile zu sprechen wünschte.

Mehr als fünfzigmal während der fünfjährigen Legislaturperiode reiste Vater zwischen Bielefeld und Berlin hin und her. Im St. Michael-Hospiz in der Wilhelmstraße hatte er sein ständiges Quartier, wo ihm und seinen treuen Pflegern und Sekretären, erst Meier und dann Balduf, sooft sie kamen, die beiden Zimmer eingeräumt wurden, die unmittelbar über dem Quartier des Forstmeisters von Rothkirch lagen. Die Fürsorge des alten Fräulein Kreysern und Rothkirchs übersprudelnde Herzlichkeit durchwehten das ganze Haus, und Vater fühlte sich hier inmitten der aus- und einziehenden Gäste und ständigen Bewohner überaus wohl. Mit vielen, die kamen, verband ihn alte Freundschaft, mit andern wurden neue enge Beziehungen geknüpft. Genannt seien Graf Zedlitz, der frühere Kultusminister und damalige Oberpräsident von Schlesien, General von Viebahn, der Freund und Seelsorger der Soldaten und Offiziere, Graf E. von Pückler, der Gründer der St. Michaels-Vereinigungen, Amtsgerichtsrat Kölle, der aufrechte Vertreter und Anwalt aller Unterdrückten, der namentlich in der Wanderarmensache Vater eingehend beriet und unterstützte, und schließlich die eigenartigste und bedeutsamste Erscheinung unter den Gästen des Hospizes, Baurat Schmidt, der bekannte „Heißdampf-Schmidt”, mit dem Vater später noch im Stöckerschen Hospiz bei Partenkirchen zusammentraf und eng verbunden wurde, der Mann, wie er sagte, „der modernen Lokomotiven, der vor allem für geistliche Lokomotiven Herz und Verstand hat”.

Köstlich war und blieb die Unbefangenheit, mit der sich Vater unter den vielen fremden und oft vornehmen Gästen bewegte. So stellte sich ihm ein alter Herr v. N. vor. „Herr v. N.?” sagte Vater. „In Paris suchte mich mal ein Herr v. N. auf, der taugte freilich nicht viel. Sind Sie das vielleicht?” Den Zylinder seines Freundes Rothkirch borgte er sich zu einem Besuch bei dem Prinzen Friedrich Heinrich, dem Sohn des Prinzen Albrecht, dessen Palais nur hundert Schritt weiter aufwärts in der Wilhelmstraße lag. Da der Zylinder zu klein war, trug ich ihn Vater nach über die Straße hinüber, und erst im Augenblick, wo er das Palais betrat, zwängte er ihn sich auf. Der Besuch führte zu einem herzlichen Verstehen zwischen beiden, das auch anhielt, nachdem der Prinz längst in große Einsamkeit und Stille untergetaucht war, und das sich durch immer erneute Liebeszeichen und Zuwendungen kundtat, mit denen der Prinz sein Interesse an Vaters Aufgaben bezeugte. In dem wunderschönen Garten des prinzlichen Palais konnte Vater einige Male nach Tagen ernster Krankheit die erste Erholungszeit erleben.

Als die Legislaturperiode abgelaufen war, stand Vater im 78. Jahr. Der Zweck, zu dem er vor fünf Jahren die Kandidatur angenommen hatte, war erreicht, indem die Beziehungen zwischen Konservativen und Christlich-Sozialen in der Tat sich nach und nach weiter gefestigt hatten. So lehnte er im Blick auf sein hohes Alter eine neue Kandidatur ab.

Der wichtigste Ertrag seiner Zeit als Abgeordneter aber lag einmal auf dem Gebiet der arbeitslosen versinkenden Massen Berlins und dann in der gesetzlichen Regelung der Wanderarmenfürsorge des ganzen Vaterlandes.

Das Wanderarbeitsstättengesetz

Nach Eröffnung von Wilhelmsdorf waren namentlich in Westfalen die Verpflegungsstationen in Verbindung mit den Herbergen zur Heimat rasch emporgeblüht, sodaß das Betteln nahezu erstorben war, da alle mittellosen Wanderer von der Bevölkerung den Verpflegungsstationen und Herbergen zugewiesen wurden.

Aber die Begeisterung, unter der die ersten Verpflegungsstationen entstanden waren, wurde allmählich gedämpft. Es sprach sich bald unter den Wanderern herum, wo die beste und wo die geringere Verpflegung geleistet wurde. Dadurch wurden manche Stationen überlastet. Wer sollte die Kosten decken? Die einzelne Gemeinde, in der die Verpflegungsstation lag, konnte es nicht. So trat der Kreis ein. Aber auch hier stellte es sich nun wieder heraus, daß die Kreise, die am besten sorgten, auch wieder am stärksten belastet waren. Auch zwischen den katholischen und evangelischen Gegenden zeigten sich Unterschiede. Im ganzen wurde in den evangelischen Gegenden kräftiger gegen den Bettel vorgeschritten als in den katholischen, wo das Almosengeben als solches in Gefahr stand, als gutes Werk angesehen zu werden, ohne Rücksicht darauf, ob der Almosenempfänger selbst wirklich unterstützt oder nicht vielmehr durch das Almosen entehrt und auf dem erniedrigenden Wege des Betteln bestärkt würde.

Es ergab sich also von einem Jahre zum andern in zunehmendem Maße eine ungleiche Verteilung der Lasten, die im Interesse der Wanderarmen von Gemeinde, Kreis und Bewohnern des Landes zu tragen waren. Wohl bestand ein Paragraph, der grundsätzlich die Verteilung der Lasten regelte. Es war der Paragraph 28 des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz, dahin lautend, daß jeder Mittellose, an welchem Ort er auch mittellos würde, von der Gemeinde, in der die Hilfsbedürftigkeit eintrat, vorläufig unterstützt werden müsse. Der Paragraph 28 aber war in einer Zeit (1870) entstanden, wo es zu den Ausnahmen gehörte, daß ein Mensch außerhalb seiner Gemeinde unterstützungsbedürftig wurde.

Inzwischen hatten sich alle Verhältnisse geändert. Viele hatten ihr kleines Dorf verlassen, um in den Städten und Industriegegenden Arbeit zu suchen. Ebbte der Arbeitsmarkt ab, so wurden aber gerade die zuletzt Zugewanderten auch zuerst wieder aus der Arbeit entlassen. Nach kurzer Zeit waren die Ersparnisse verzehrt. Mittellos standen sie da. Der Paragraph berechtigte sie, sich als unterstützungsbedürftig zu melden. Aber keiner Polizeibehörde fiel es ein, den Paragraphen anzuwenden. Es war ja auch ein Ding der Unmöglichkeit für sie, die Unterstützungsbedürftigen so lange zu verpflegen, bis die Heimatbehörde die Unterstützung bewilligt haben würde. Wieviel Schreiberei, wieviel Zeit wäre dazu nötig gewesen!

Aber auch die Heimatbehörde lehnte die Anwendung des Paragraphen 28, wenn irgend möglich, ab. Was hätte auch aus irgend einer kleinen Gemeinde auf dem Westerwald werden sollen, wenn sie jedes ihrer Gemeindeglieder, das in der Ferne und im Dienst einer fremden Industrie unterstützungsbedürftig geworden war, hätte versorgen sollen? Sie hätte sich einfach daran arm gegeben.

An diesem Paragraphen 28 setzte nun Vaters Arbeit nachdrücklich ein. Ihn galt es sinngemäß zu ergänzen und die Last, die er der einzelnen Gemeinde zuschob, auf die breiteren Schultern des Reichs oder der einzelnen Landes- und Provinzialregierungen abzuwälzen. Es durfte nicht dem guten Willen der einzelnen Gemeinde und ihrer verantwortlichen Organe, auch nicht den einzelnen Kreisen überlassen bleiben, ob und wie sie für die einzelnen Wanderarmen sorgen wollten, sondern es mußte ein festes Verpflegungsstationsnetz geschaffen werden und zwar durch gesetzliche Regelungen, die ganze Gebiete umfaßten.

Auserlesene Kräfte aus allen Ständen und Teilen des Vaterlandes stellten sich Vater zur Lösung dieser schwierigen Aufgabe zur Verfügung. Keiner von ihnen, auch Vater nicht, ahnte, was es kosten würde, im Dienste der untersten Klasse, im Interesse des fünften Standes, der aus seinen Reihen keine Wortführer stellte, sondern stumm und vielfach stumpf seine Straße zog, die gesetzgebenden Körper zu einer barmherzigen Tat zusammenzuschließen.

Vor allem war es der Graf Botho zu Eulenburg, der frühere preußische Minister des Innern, der seine ganzen Kenntnisse und Erfahrungen in den Dienst der Sache stellte und einen Gesetzentwurf ausarbeitete, der zum Ziele zu führen schien. Vater hingegen übernahm es, die einzelnen maßgebenden Persönlichkeiten für den Entwurf zu gewinnen. Aber die Sache fand noch keine Mehrheit, und der Entwurf wurde vom Abgeordnetenhause abgelehnt. Das war schon im Jahre 1895.

Eine Zeitlang wandte sich Vater dem Reichstage zu, dann, als es gelungen war, in Westfalen eine vorbildliche Wanderarbeitsstättenordnung durchzuführen, aufs neue dem preußischen Abgeordnetenhause.

Es ist unmöglich, die Last von Enttäuschungen, Demütigungen, Mühsalen, schlaflosen Nächten, immer erneuten schriftlichen und mündlichen Bitten auszudenken, die Vater im Dienste seiner Brüder von der Landstraße auf sich nahm. Unaufhörlich standen ihm diese armen Menschen vor der Seele, die mittellos auf die Landstraße geworfen, zum Betteln gezwungen, von der Polizei wegen Bettelns aufgegriffen, in elendem Polizeigewahrsam untergebracht, von den Richtern verurteilt und nun im Gefängnis in den Sumpf der gewohnheitsmäßigen Bummler und Verbrecher hinuntergestoßen wurden.

 
„Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein;
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.”
 

Oft hatte Vater im Gedanken an die Gleichgültigkeit und Herzlosigkeit der gesetzgebenden Körper mit tiefster Erbitterung zu kämpfen. Als wir eines Abends in jener Zeit, wo er selbst noch nicht Abgeordneter war, am Abgeordnetenhaus vorbeikamen, sagte er mit unterdrückter Stimme: „Ich möchte mir am liebsten jetzt einen Stein suchen und den Herren im Abgeordnetenhause die Fenster einschmeißen. Dann hätten sie doch die Genugtuung, einmal einen Schuldigen ins Gefängnis zu stecken, statt daß sie jetzt immer wieder arme schuldlose Leute abführen lassen.”

Nach einer fruchtlosen Auseinandersetzung mit Miquel, der als Finanzminister natürlich ein entscheidendes Wort zu sprechen hatte, bekam er unterwegs in der Droschke vor innerer Erregung eine Blutung, die ihn dem Tode nahe brachte.

Doch keine Niederlage, keine Abweisung, keine Gleichgültigkeit stumpfte ihn ab. Solange er für das Ganze keine Regelung erreichen konnte, setzte er doch, wo er nur konnte, die Lösung der Frage im einzelnen durch. Zunächst wurde, wie gesagt, in Westfalen ein großmaschiges Netz, das den dringendsten Bedürfnissen genügte, geschaffen. Für diejenigen Wanderarmen, die sich ohne geordnete Papiere obdachlos meldeten, wurden besondere Steinklopfbuden errichtet, in denen sie die Steine für die Chausseebauten zurüsteten und sich so Kost, Schlafgeld und Wanderschein erwarben. Mit dem kurzen Stahlhammer in den Händen, stand Vater unter den Steinklopfenden, um selbst auszuprobieren, ob auch eine ungeübte Hand die Arbeit leisten könne.

Den Schein über die geleistete Arbeit ließ er in seiner eigenen Schreibstube ausstellen, um so jede Gelegenheit zu benutzen, mit den Brüdern von der Landstraße in persönliche Berührung zu kommen und ihre Verhältnisse genau kennen zu lernen.

Seine Wahl in den Landtag im Jahre 1903 bedeutete dann einen wesentlichen Fortschritt in der Sache. Jetzt hatte er regelmäßig Gelegenheit, die Angelegenheit zu betreiben und sie nach allen Seiten hin sicher zu fundamentieren. Kurz vor seinem Tode war der Sieg erfochten. Sein Freund Pappenheim, der Führer der Konservativen, telegraphierte: „Gesetzentwurf angenommen.” Damit war das Wanderarbeitsstättengesetz für Preußen geschaffen, das jeder Provinz, die von sich aus die Regelung der Wanderarmen in die Hand nahm, eine Unterstützung aus dem preußischen Dotationsfonds zusicherte und so jeder Provinzialregierung, die guten Willens war, die Möglichkeit gab, nach dem Vorbilde von Westfalen und Württemberg eine feste Wanderordnung zu schaffen und dem willkürlichen Bettel das Handwerk zu legen. Zwischen den kürzeren Strecken wurden die alten Wanderstraßen festgehalten. Bei größeren Entfernungen aber sollten die Arbeitslosen durch die Bahn von einer Wanderarbeitsstätte und dem damit verbundenen Arbeitsnachweis zur andern befördert werden. Sie konnten sich dann an jedem neuen Arbeitsplatze nach Arbeit umsehen oder von einer Wanderarbeitsstätte zur andern sei es die Hauptzentren der Arbeitsgelegenheit, sei es die in Betracht kommende Arbeiterkolonie zu erreichen suchen.

Man sagt von den Westfalen, daß sie die dicksten Schädel der Welt hätten und unter allen deutschen Stämmen die Trotzigsten wären. Ein zäher Trotz hatte dazu gehört, um durch Jahrzehnte hindurch in diesem Kampf nicht zu ermüden. Aber Trotz allein hätte es nicht ausgerichtet. Es kam das zerbrochene Herz dazu, das sich jede Demütigung gefallen ließ und das mit magnetischer Gewalt die göttlichen Kräfte der Liebe an sich zog. Ein harter Schädel und ein zerbrochenes Herz und selbstlose Liebe, die drei im Bunde tun noch heute Wunder.

Hoffnungstal

Es war an einem Winterabend im Jahre 1905. Vater hatte für diesen Abend mit dem Berliner Stadtrat Münsterberg, der ihm seit vielen Jahren durch gemeinsame Arbeit nahe stand, einen Besuch in dem städtischen Asyl für Obdachlose verabredet. Da er leidend war, war ich ihm nachgereist, um ein wenig für ihn zu sorgen. So kam es, daß ich das Nachfolgende miterlebte.

Es war eine lange Fahrt aus dem Südwesten der Stadt durch das Zentrum hindurch in den fernen Norden. Je weiter wir kamen, desto spärlicher fiel das Licht der Laternen auf die Schilder der Straßen, durch die wir fuhren. Endlich tauchte das Schild auf, das den Namen „Fröbelstraße” trug. Damit waren wir dicht vor dem Ende unserer Fahrt angelangt. Die Gestalten, die wir überholten, hatten alle das gleiche Ziel wie wir. Mit unsicheren Schritten, wie sie der Alkohol seinen Opfern gibt, schlichen die meisten von ihnen durch den Winternebel die düstere Straße entlang. Jetzt hielt unser Wagen vor dem stattlichen Gebäude, durch dessen Tür vor uns und hinter uns die Gestalten des Elends schwankten. Als wir in den Aufnahmeraum traten, stand gerade ein Haufen von siebzig bis achtzig jungen und alten Männern bereit, um in einen der großen Schlafsäle, deren das Asyl etwa vierzig bis fünfzig enthält, geführt zu werden. Es waren noch manche frische Gesichter darunter, doch die meisten zeigten die Spuren der äußeren Not und des inneren Elends. Der ganze Raum war erfüllt von dem Dunst des Alkohols, der den Tag über in Pfennigen und Groschen an den Türen der Berliner Bürger zusammengebettelt war.

Wie ein Krieger, der in eine Schar von Feinden eine Bresche schlagen will, so sprang Vater zwischen den Haufen und rief: „Wer von euch will Arbeit haben? Ich habe Arbeit: Hand in die Höhe!” – Alle blieben stumm, und keine Hand rührte sich. Es war, als wenn alle von dem ungewohnten Ruf überrascht wären und sich erst eine Weile sammeln müßten. Jetzt rief Vater zum zweitenmal: „Hand in die Höhe! Wer von euch will Arbeit haben?” Da reckte sich schüchtern die erste Hand empor, dann die zweite, die dritte, bis fünf oder sechs Hände in der Luft schwankten. „Sehen Sie, Herr Stadtrat, sehen Sie diese Hände! Es heißt immer, im Asyl für Obdachlose will keiner mehr Arbeit haben. Hier sind aber noch Leute, die arbeiten wollen, und wir müssen ihnen Arbeit geben.”

Dann ließ sich Vater mit den einzelnen ins Gespräch ein, fragte nach Heimat, Stand und Alter und setzte der ganzen Schar, die anfing, immer aufmerksamer zuzuhören, auseinander, daß er daran gehen wolle, für alle, die wirklich noch einmal in die Arbeit und damit in ein neues Leben zurück wollten, draußen vor den Toren der Stadt Arbeitsgelegenheit zu schaffen. Dann sagte er, zu der ganzen Schar gewandt: „Ich brauche aber dazu auch Geld! Wer von euch kann mir Geld borgen?” Wiederum blieb alles stumm. „Wer von euch kann mir Geld borgen?” Aber keine Hand ging in die Höhe. Nun fragte Vater den Nächststehenden: „Können Sie mir kein Geld borgen?” Der Mann schüttelte mit dem Kopfe. „Wie alt sind Sie?” – „Achtzehn Jahre.” Da schlug ihm Vater mit seinen flachen Händen auf die beiden Schultern, daß es durch den ganzen Mann schütterte: „Dann könntest du mir 500 Mark borgen! Wo hast du sie gelassen?” – Keine Antwort, aber auch kein Widersetzen. Der junge Mensch spürte nicht nur die Glut des Zorns, sondern auch die Glut des Erbarmens, die hinter dieser Frage und hinter diesen Schlägen loderte.

Immer aufmerksamer und immer nüchterner hörte die ganze Schar zu, während Vater die Reihen entlang fragte. Jetzt kam er an einen alten Mann mit triefenden Augen und zerrissenen Kleidern. Es stellte sich heraus, daß er früher Kutscher beim alten Kaiser Wilhelm gewesen war. Vater fragte ihn: „Nun sagen Sie mal, wie ist es denn so weit mit Ihnen gekommen?” Da stieß der Alte bitter zwischen den Zähnen hervor: „Ich hab’s gewollt.” Vater faßte ihn mit seiner zarten Hand, drehte ihn der ganzen Gesellschaft zu und sagte: „Guckt ihn euch einmal an, unseren armen alten Freund! Wollt ihr auch einmal so aussehen?” Schon fingen die Wärter an, den Haufen leise vorwärts zu drängen, da der Aufnahmeraum neuen Scharen Platz machen mußte. Aus der hintersten Reihe aber kam eine zitternde Hand, die sich über die Köpfe hinweg auf den Vater zustreckte. Vater sah sie und griff nach ihr. „Was wollten Sie denn, mein alter lieber Bruder?” „Ach,” sagte der Mann, „ich wollte Ihnen bloß mal die Hand geben und Ihnen danken für die guten Worte.” – Nun schoben die Wärter immer dringender, aber nur langsam und zögernd bewegte sich der Haufe vorwärts. Alle hatten den Blick rückwärts auf Vater geheftet, als wollten sie ihm, wenn auch stumm, noch einmal danken für die guten Worte.

Dann ging Vater durch die einzelnen eng gefüllten Säle. Der energische, freundliche Direktor des Asyls begleitete uns. Hie und da hatten sich schon die Obdachlosen auf ihre Pritsche ausgestreckt, von denen eine eng neben die andere gerückt war. Aber jetzt rappelten sich die meisten wieder in die Höhe und standen jeder stramm vor seiner Lagerstatt. Wenn Vater oben in einer Reihe anfing, jedem die Hand zu geben und einige Fragen an ihn zu richten, sah die ganze lange Linie ihm entgegen. Unwillkürlich lenkte er aller Augen zu sich hin. Und wenn er weitergegangen war, sahen ihm dieselben Augen nach, bis er verschwand. Es war wie eine Heerschau, die ein General über seine Armee abhielt – eine Armee von Bettlern.

Draußen auf dem Flur kosteten wir die Mehlsuppe, die aus großen Gefäßen in das blecherne Geschirr geschöpft wurde, das jeder in seiner Hand hielt. Auch in die Badestube mit ihren sauberen Duschapparaten gingen wir und auch in die Kammer, wo die mit Ungeziefer behafteten Kleider gereinigt wurden. Schließlich kamen wir in einen der Säle, die für die obdachlosen Frauen und Mädchen bestimmt waren. Aber während Vater in den Sälen der Männer lange verweilt hatte – in diesem Frauensaale sagte er nichts. Stumm ging er an einem Ende hinein und am andern wieder hinaus. Das Bild war für ihn zu schrecklich. Denn fast alle Insassen dieses Saales waren betrunken. So abschreckend der Anblick betrunkener Männer ist – der Anblick dieser durch Trunkenheit und alle Art von Lastern entstellten Frauenangesichte hatte etwas Bestialisches, ja Diabolisches an sich. Darum konnte und mochte Vater nichts sagen.

Dieser Abend im Asyl für Obdachlose aber war der Gründungstag von Hoffnungstal. Von jetzt ab ließ es Vater keine Ruhe mehr. Er bereiste in kurzer Zeit mit unermüdlichem Eifer die ganze Gegend um Berlin. Überall forschte er nach geeignetem Gelände, um für die Obdachlosen Berlins eine Zufluchtsstätte zu schaffen, wo sie nicht nur Obdach und Brot, sondern vor allem Arbeit fänden. Schließlich bot sich ihm im Norden der Stadt an den Grenzen der Berliner Rieselfelder ein geeigneter Platz. Dort besaß die Berliner Stadtverwaltung ein kleines Gut mit angrenzenden weiten Kiefernwaldungen, die sich auch durch die schwachen Kräfte der Berliner Obdachlosen mit Hilfe des leicht zu beschaffenden Düngers der Berliner Pferde- und Kuhställe in Obstanlagen verwandeln ließen.

Während nun Vater den Berliner Magistrat auf der einen Seite sehr scharf angriff, daß er in seinem Asyl Müßiggänger, ja schließlich Verbrecher schlimmster Art großziehe, indem den Obdachlosen wohl Almosen in Gestalt von Quartier und Mahlzeiten, aber keine Arbeit angeboten würde, hatte er gleichzeitig den Mut, denselben Magistrat zu bitten, ihm bei der Anlage der neuen Kolonie behilflich zu sein und ihm das Gut auf achtzehn Jahre zu verpachten. Wirklich ging der Magistrat auf Vaters Wünsche ein. Und bald erklang Vaters fröhliche Bitte: „Wer hilft uns mit zum Bau von Hoffnungstal?” Während er aber diese Bitte hinaussandte und seine Kollektanten in ganz Berlin treppauf, treppab zogen, kehrte Vater zu immer erneuten nächtlichen Besuchen in das städtische Asyl zurück, um mit dem Direktor und den Beamten des Asyls seine Pläne bis ins einzelne zu überlegen. Bei einem solchen Besuche war es, daß einer der ältesten und erfahrensten Aufseher zu ihm sagte: „Herr Pastor, Ihre Arbeit ist vergeblich. Wenn die jungen unverdorbenen Leute, die in unser Asyl kommen, nur ein paar Tage neben den ausgelernten Taugenichtsen liegen, so ist fast kein Unterschied mehr zwischen den beiden. Sie müssen sie trennen, damit die Ansteckung nicht so leicht möglich ist.”

Das Wort schlug tief bei Vater ein. Es war ja immer seine Art gewesen, auf guten Ratschlag anderer zu horchen, wie er sich überhaupt nie etwas auf eigene Gedanken zugute tat, sondern bis an sein Ende an der Überzeugung festhielt, daß er nie, so viel die Leute ihn auch rühmten, eigene neue Wege eingeschlagen hätte, sondern immer nur in die Fußtapfen anderer getreten sei, die ihm mit Rat und Tat vorangingen. So griff er denn auch den Rat des alten treuen Aufsehers im Asyl für Obdachlose auf. Hinfort war es sein Feldgeschrei, das er immer aufs neue laut erhob: „Kein Massenquartier mehr, sondern Einzelquartier!” „Keine Anhäufung dicht gelagerter Menschen, sondern Einzelstübchen!” Und bald war die erste „Heimstätte” in Hoffnungstal fertig. Sie barg keine übereinander gebauten Betten, wie in den Herbergen, in den Arbeiterkolonien und vielfach auch in den Kasernen, sondern für jeden müden heimatlosen Gast der Straße einen stillen kleinen Raum, von drei Wänden umschlossen, mit einem Bett und einem verschließbaren Schrankstuhl möbliert, nach oben in den freien Luftraum geöffnet und nach der vorderen Seite zu durch einen dichten Vorhang verschlossen.

Kaum aber war die erste Heimstätte fertig, so eilte Vater zu seinen Freunden in das Asyl. „Wer will nun kommen? Die Arbeit wartet auf euch und euer Stübchen auch.” Da reckten sich wieder die Hände empor; nicht schüchtern mehr, wie an jenem ersten Abend, sondern nun mit heißem Verlangen: „Herr Prediger! Ick, ick! nehmen Se mir mit, nehmen Se mir ooch mit!” Es waren die Stimmen und Hände Versinkender, die im Begriff waren, in dem Sumpf des großen Berliner Morastes unterzugehen, und die sich nun dem Retter entgegenstreckten.

Darum konnte Vater sich auch an der einen Heimstatt nicht genügen lassen, sondern bald kam die zweite und dritte hinzu, und die vierte, fünfte und sechste folgte, alle mit fünfzig bis achtzig Einzelstübchen eingerichtet.

Zur Einweihung der jungen Kolonie aber kam die Kaiserin mit ihrem zweiten Sohne, dem Prinzen Eitel Friedrich, der das Protektorat übernommen hatte. Tief bezeichnend für den Sinn, mit dem die sonst so schlichte kaiserliche Frau und ihr Sohn die Geringsten des Volkes ehrten, war die kaiserliche Pracht, die sie bei dieser Gelegenheit entfalteten. Sie kamen im Viererzuge mit Spitzenreitern – Reiter und Kutscher im friderizianischen Kostüm mit Dreimastern und langen weißen Zöpfen. Ihren Platz hatte sie sich inmitten der Kolonisten erbeten. Die saßen denn auch während der Feier in dichtem Kranz um sie her und dahinter erst der große Kreis der Festgäste.

Am Abend vorher hatte Vater die Probe abgenommen über das Lied, das die Kolonisten während der Feier singen sollten. Er taktierte selbst mit seinem Krückstock, und nie habe ich ein Konzert gehört, das mir mehr zu Herzen gegangen wäre als der Gesang dieser von Schnaps und Elend abgenutzten Kehlen: „Lobe den Herren, o meine Seele! Ich will ihn loben bis in Tod.” Die Einweihungsrede hatte Vater vorher aufgeschrieben, auswendig gelernt und sie seiner Schwiegertochter aufgesagt. Aber als er dann vor der Versammlung stand, konnte er doch nicht anders sprechen, als es ihm im Augenblick ums Herz war.

Wie viele fröhliche Gesichter hat Vater fortan in Hoffnungstal gesehen! Wer ihn einmal ein paar Stunden durch seine geliebten Einzelstübchen mit ihren Bewohnern begleiten konnte, der erlebte einen Anblick, wie er durch keine Pracht und keine Schaustellung der großen Weltstadt, deren Dunst im Süden von Hoffnungstal über dem Horizont lagerte, ersetzt werden konnte. Wie mancher von diesen gehetzten Leuten hatte hier zum erstenmal in seinem Leben eine Stätte des Friedens gefunden, wo Leib und Seele ausruhen konnten, um sich zu stärken für einen neuen und sieghaften Kampf. Mancher von ihnen hatte nie eine Wand über seinem Haupt gehabt, an der er das Bild seiner Mutter oder seiner Kinder aufhängen konnte. Jetzt endlich hatte er seine bescheidenen, wenn auch nicht vier, so doch drei Wände um sich und konnte sie sich mit den Erinnerungen an seine Lieben schmücken. Und wie ruhte es sich des Abends in dieser Einsamkeit! Da konnten sich unbemerkt und unverspottet die Hände einmal wieder falten wie einst in der Kinderzeit. Und manch einer konnte hier seine Mannesehre und seinen Mannesmut wiederfinden, indem er sich in der Stille seines Kämmerchens beugte vor dem lebendigen Gott und dem Heiland der Sünder. Aus solcher Stille aber ging es doppelt fröhlich hinaus an die gesunde Arbeit im wilden Wald oder bei den fröhlich heranwachsenden Obstbäumchen. Darum konnte es nicht anders sein, als daß Vaters Gestalt, wo sie sich auch nur blicken ließ, verfolgt wurde mit vielen dankbaren Blicken und manchem dankbaren Wort.

Bald stellten sich auch die Besucher ein, geringe und vornehme, von nah und fern. Sie wollten die Stübchen sehen, die sie für Hoffnungstal und Lobetal, Gnadental und Neu-Gnadental gestiftet oder auf manchem mühsamen Wege zusammenkollektiert hatten. Sie freuten sich der dankbaren Pietät, mit der jedes Stübchen und jedes Bäumchen den Namen seines Gebers oder seines Sammlers trug, und freuten sich vor allem seiner glücklichen Bewohner. Unter den zahlreichen Besuchern der Kolonie, die immer wieder aus Berlin kamen, war auch eine jüdische Frau gewesen. Vater begleitete sie durch die ganze Kolonie. Als sie alles gesehen hatte, blieb sie stehen und sagte: „Herr Pastor, warum tun Sie das nur für die Männer von Berlin? Haben es die Frauen und Mädchen nicht noch viel nötiger?”

Wie das Wort des alten Aufsehers im Asyl, so schlug auch dies Wort der menschenfreundlichen Jüdin bei Vater ein. Es war ihm, als wenn er an eine große, lang vergessene Schuld erinnert würde. Der Saal mit den betrunkenen Frauen und Mädchen, den er bei seinem ersten Besuch im Asyl für Obdachlose gesehen hatte, trat vor seine Seele, und es beunruhigte ihn tief, daß er über der Not der Männer seine Augen für die Not der Frauen verschlossen hatte. Nun hieß es: „Wir brauchen auch Heimstätten und Einzelstübchen für die sinkende Frauenwelt der großen Stadt.” Und so erhob Vater noch einmal, kurz ehe ihn das erste Mal der Schlaganfall traf, seine Stimme zur Aufrichtung eines weiblichen Hoffnungstals. Bald hatte er auch diesmal wieder den geeigneten Platz gefunden, und wenn seine Kraft auch nicht mehr ausreichte, persönlich die Stelle zu besuchen, so freute er sich um so mehr an den Nachrichten über das fröhliche Aufblühen des neuen Zufluchtsorts, der unter einem von Liz. Bohn geleiteten Komitee im Osten Berlins bei Erkner auf ähnlichem Gelände wie Hoffnungstal den abgehetzten und abgehärmten Frauen und Mädchen seine Einzelstübchen anbot.

Dann aber setzte der Schlaganfall Vaters Arbeit ein Ende. Er war mehrere Wochen nahezu stumm. Es schien, als sollte es still dem Ende zugehen. Statt dessen aber ließ Gottes Freundlichkeit das glühende Herz noch einmal wieder aufflammen, um fast für ein ganzes Jahr die Herrschaft über den zerbrochenen Leib wiederzugewinnen. Sein ganzes Arbeitsfeld konnte er noch einmal überblicken, um, wo es not tat, für die alten Geleise neue Ziele zu weisen. So trat ihm auch für seine geliebten Einzelstübchen noch ein großes neues Ziel vor die Seele. Es war ihm nicht genug, darauf zu dringen, daß alle deutschen Herbergen und Arbeiterkolonien mit dem System der Massenquartiere brechen müßten, auch nicht nur für alle Diakonissen- und Diakonenhäuser wünschte er die gleiche Wohltat, vielmehr trat es ihm mehr und mehr wie eine große gemeinsame Pflicht des Vaterlandes vor die Seele, daß jedem deutschen Manne, der im Dienste des Vaterlandes für zwei Jahre auf seine Freiheit und Heimat verzichtete, als Ersatz dafür in seiner Kaserne solch eine heimatliche Stätte hergerichtet würde, deren unermeßlichen Wert Vater auf so mannigfache Weise erfahren hatte.

Mit Offizieren und Soldaten saß er manchen Nachmittag zusammen und überlegte hin und her, bis es ihm schließlich völlig gewiß wurde: „Es geht, es geht.” Er lud den Kronprinzen ein, einmal Hoffnungstal zu besuchen, und schrieb an den Kriegsminister folgenden Brief:

„Euer Exzellenz

wollen einem ehemaligen Kaiser-Franzer und späteren Feldprediger von 1866 und 1870 erlauben, sein Herz auszuschütten. Er bittet desto kühnlicher darum, als er vielleicht bald zur oberen Armee weiterziehen muß und es ihm keine Ruhe mehr läßt, vorher noch das Folgende vorgetragen zu haben.

Es ist jetzt dreißig Jahre her, daß ich zum erstenmal einem deutschen Ingenieur den Plan eines lenkbaren Flugschiffes auseinandersetzte, ohne daß ich damit durchdrang. Seitdem habe ich denselben Plan alle die vielen Jahre hindurch vielen Ingenieuren und Offizieren dargelegt, habe mir viel Kopfschütteln als über einen unausführbaren Plan gefallen lassen müssen, habe aber, wenn auch durch wichtigere Aufgaben an praktischer Mitarbeit gehindert, doch schließlich die Eroberung der Lüfte erlebt.

Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
01 ağustos 2017
Hacim:
580 s. 1 illüstrasyon
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