Kitabı oku: «Wunderkind Erjan»

Yazı tipi:


WUNDERKIND ERJAN

Hamid Ismailov

Aus dem Russischen

von Andreas Tretner


Von 1949 bis 1989 wurden auf dem Atomwaffentestgelände von Semipalatinsk insgesamt 468 Kernexplosionen ausgelöst, davon 125 atmosphärische und 343 unterirdische. In der Summe übertraf die Sprengkraft allein der überirdisch in besiedelter Landschaft gezündeten Kernwaffen die der 1945 auf Hiroshima abgeworfenen Bombe um das 2500fache.

Aus einer Anhörung

im Kasachischen Parlament

vom 24. Juni 2005


Inhalt

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Anmerkungen

Die Geschichte nahm einen durchaus prosaischen Anfang. Ich fuhr mit dem Zug durch die endlosen Weiten der kasachischen Steppe. Schon die vierte Nacht klopften Streckenwärter an einsamen Haltestationen mit ihren Hämmern gegen die Räder und fluchten etwas Kasachisches vor sich hin, während ich insgeheim stolz darauf war, diese Sprache zu verstehen. Auch tagsüber schwirrten immer wieder kasachische Frauen- und Kinderstimmen durch die Gänge und Einstiegsbereiche: An jeder Station stiegen neue Händlerinnen zu, die Kamelwolle oder Dörrfisch oder auch Qurt – getrockneten Quark in Kugelform – feilboten.

Das ist übrigens schon eine Weile her, kann sein, dass es heute anders ist, aber ich denke, es ist immer noch so.

Ich stand also im Gang und schaute hinaus in die Steppe, seit vier Tagen der gleiche öde Anblick, da nahte vom anderen Ende des Wagens her ein zehn-, zwölfjähriger Junge mit einer Geige in der Hand – auf der er plötzlich zu spielen anfing, und das so forsch und versiert, dass augenblicklich alle Türen aufgingen und verschlafene Passagiere die Köpfe aus den Abteilen streckten. Und es war keine Zigeunermusik oder sonst etwas Hiesiges, was er zum Besten gab, nein, er spielte einen Ungarischen Tanz von Brahms, er spielte ihn im Gehen, während er langsam durch den Gang auf mich zukam. Dann aber, als der ganze Waggon ihn offenen Mundes anstarrte, brach er sein Spiel unversehens ab, schulterte die Geige wie eine Flinte und brüllte mit satter, ganz und gar unkindlicher Stimme: »Originalgetränk aus der Region – garantiert bio!« Dabei ließ er einen Baumwollbeutel von der anderen Schulter rutschen und zog eine große Plastikflasche Ayran oder Kumys aus ihm hervor. Im Augenblick, noch ohne mir im Klaren zu sein, wozu, eilte ich zu ihm hin.

»Was soll dein Kumys kosten, mein Junge?«

»Erstens ist der Kumys nicht von mir, sondern von der Stute, zweitens ist es kein Kumys, sondern Ayran, und drittens bin ich kein Junge!«, erwiderte der Junge in akzentfreiem Russisch und herausforderndem Tonfall, mit satter, männlicher Stimme.

»Na, ein Mädchen wirst du doch nicht sein?«, versuchte ich die Situation mit einem Scherz zu retten.

»Ich bin kein Weib, sondern ein Mann. Zieh den Arsch blank, wenn du’s nicht glaubst!«, polterte der Knabe, dass der ganze Wagen es hörte.

Ich war unsicher, ob ich mich gegen seine Grobheiten verwahren oder ihn doch lieber besänftigen sollte, um dahinterzukommen, was ihn so fuchsig machte; immerhin war er in dieser Gegend zu Hause und durfte den Ton vorgeben. Ich lenkte also ein:

»Wenn ich dich gekränkt habe, entschuldige bitte! Brahms spielst du jedenfalls wie ein junger Gott …«

»Gekränkt, ach was. Mich kränkst du nicht so leicht. Lieber teile ich aus … Ich bin jedenfalls kein Kind. Vergiss meine Größe, ich bin 27. Kapiert?« Das Letzte raunte er nun schon.

Nun war ich wirklich baff.


So also fing die Geschichte an. Dem Anschein nach ein ganz normaler Junge von zehn, zwölf Jahren, keinerlei Anomalien, die auf Kleinwüchsigkeit hindeuteten – keine auffällig verkürzten Extremitäten, kindlich faltenloses Gesicht, und dann dies:

» … ich bin 27. Kapiert?«

Natürlich glaubte ich ihm erst einmal nicht, was mir wohl anzusehen war.

»Hier, guck dir meinen Ausweis an.« Mit routinierter Bewegung zog er ihn aus der Innentasche.

Während er den verzückten Tanten (»Wo hast du denn so schön spielen gelernt?« – »Kannst du auch ›Schwarze Augen‹ spielen?« – »Und ›Katjuscha‹?«) seinen Ayran verkaufte, glotzte ich wie ein Idiot abwechselnd in das Büchlein und ihm ins Gesicht. Vollkommene Übereinstimmung: Vom Passfoto schaute mich das unschuldige Kindergesicht des Ausweisinhabers an.

»Wie heißen Sie?«, fragte ich konsterniert und hilflos, als die Verkaufsaktion für einen Moment ins Stocken kam.

»Erjan«, erwiderte er lässig und tippte mit dem Zeigefinger in den Ausweis.

»Ja, dann sollte ich vielleicht auch … eine Flasche von deinem … also vom Ayran …«, stammelte ich blöd, es sollte wie eine Entschuldigung klingen. Er steckte den Ausweis wieder ein und hielt mir eine Flasche hin.

»Da, nimm. Die letzte. Sagtest du Brahms?«

Ich ging in mein Abteil, um das Geld zu holen, und weil der Alte in der Koje gegenüber schlief wie ein Bär, bot ich Erjan an, bis zum Aussteigen bei mir Platz zu nehmen: Stehen mache bekanntlich nicht klüger …

»Sondern?«, kam die Erwiderung, bissig wie zuvor; doch schien sie weniger an mich gerichtet als an den durch die Steppe jagenden Zug, an die auf Erden brutzelnde Steppe, an die zwischen Licht und Finsternis dümpelnde Erde, an die Finsternis …

Erster Teil


Anmerkungen zu den mit * markierten Stellen sowie Erläuterungen zu Transkription und Aussprache und zu kasachischen Verwandtschaftsbezeichnungen im Anhang des Buches.

Geboren wurde Erjan auf der Bahnstation Qara-Shaǵan der Ostkasachstanischen Eisenbahn in der Familie seines Großvaters Daulet-Temirjol*, der hier Streckenwärter war – einer von denen, die nachts mit Hämmern Radscheiben und Bremsbacken zum Tönen bringen und am Tage hin und wieder einmal – auf den Anruf des Dispatchers hin – vor die Tür treten, um die Weiche umzustellen, wenn nämlich irgendein müde gelaufener Güterzug auf dem Nebengleis stehen und abwarten muss, dass ein Schnellzug ähnlich dem unseren oder ein Sonderzug die Station wie ein Wirbelwind passiert.

Wiewohl also Erjan behütet in der Familie seines Großvaters zur Welt gekommen war, stand in seiner Geburtsurkunde unter »Vater« ein fetter Strich; verzeichnet war nur die Mutter, Qanyshat, Tochter von Daulet-Temirjol, die gleichfalls im Hause lebte – einem von zwei Eisenbahnerhäusern an dieser Station; neben dem Großvater, Erjan und ihr lebten auch noch Großmutter Ulbarsın und ihr Jüngster, Kepek-Naǵashı hier. In dem anderen wohnte die Familie des zweiten Stellwärters, Nurpeyis, Gott hab ihn selig, der von einem außerplanmäßigen Zug überrollt worden war: seine Frau, Tante Sholpan-Sheshe, sowie deren Sohn Shaken und Schwiegertochter Bayshishek, die Städtische, und beider Tochter Aysulu, die ein Jahr jünger war als Erjan.

Damit war die Bevölkerung von Qara-Shaǵan auch schon komplett – abgesehen von einem halben Hundert Schafen, fünf Kühen, drei Eseln, zwei Kamelen und dem Hengst Ayǵır, sämtlich in Gemeinbesitz. Außerdem war da noch der Hund Qaptı, der sich aber meistenteils bei Aysulu aufhielt, weshalb Erjan ihn nicht mitrechnete, ebenso wenig die Schar staubiger Hühner samt ein paar lärmseligen Hähnen, deren Zahl sich so undurchschaubar schnell vermehrte, wie sie auch wieder abnahm, sodass keiner auf der Station genau wusste, wie viele es gerade waren.

Was die Undurchschaubarkeit der Vermehrung anging, so war auch nicht klar, durch wen und auf welche Weise Erjans Mutter Qanyshat mit ihm schwanger geworden war. Verflucht dafür von ihrem Vater, hatte sie in Gegenwart ihres »in Keuschheit empfangenen« Sohnes kein Wort je darüber verloren. Was Erjan von seiner Großmutter Ulbarsın wusste, war, dass Qanyshat einmal im Alter von sechzehn Jahren in die Steppe gerannt sei, ihrem Seidentuch hinterher, dass der Steppenwind davongetragen habe, wie um sie zu foppen, immer tiefer und tiefer in die Steppe hinein, der untergehenden Sonne entgegen. Und was sich dann zugetragen hatte, klang so märchenhaft, dass Erjan sich keinen Reim darauf machen konnte: Die untergehende Sonne sei plötzlich zurück in den Himmel geschnellt, ein Beben sei vom Horizont her durch die Erde gegangen, der brausende Wind mit einem Mal erstorben und im nächsten Moment in die Gegenrichtung zurückgebraust, ihm auf den Fersen ein schwarzer Taifun, der mit unerhörtem Getöse den Staub der Steppe himmelan getrieben – und als Qanyshat, mehr tot als lebendig, bis aufs Blut zerkratzt und zerschunden, sich im Auge des Taifun, am Grunde einer Schlucht wiedergefunden habe, da sei ein Wesen über sie gestiegen wie von einem anderen Stern, in Helm und außerirdischem Anzug.

Kurzum, bei dieser Gelegenheit sei Qanyshat schwanger geworden, und drei Monate später, als die Schwangerschaft offenkundig war, hat Daulet-Aqa sie furchtbar verprügelt und verflucht, und wären nicht Kepek und Shaken gewesen, die den wutschäumenden Alten von der halbtoten Tochter gerissen und zu Sholpan-Sheshe hinübergezerrt, so hätten wohl weder Qanyshat noch ihr Sohn Erjan diesen Tag überlebt …

Von Stund an aber hatte Qanyshat kein Wort mehr gesprochen.


Kein Wort also von der Mutter, doch die übrigen Frauen, und allen voran Ulbarsın und Sholpan, hielten ihre Zunge nicht im Zaum. Erjan entsann sich an grimmige Winternächte, als es durch alle Ritzen hereinpfiff und er zu Großmutter unter die kamelwollene Decke schlüpfte, damit sie ihm ihre nicht enden wollenden Geschichten erzählte, dabei kratzte sie ihm das von wimmelnden Würmern juckende Poloch.

»Bei Täñgir* im neunten Himmel wächst der heilige Baum Qayıñ, an dem das Qut hängt, als wären es Blätter.«

»Das Qut, was ist das?«, fragte Erjan immer noch fröstelnd; das Wort verwunderte ihn, weil es nach Köt – Arsch – klang.

»Das ist das Glück. Wenn man’s warm hat und satt ist«, erwiderte die Großmutter, und weiter ging ihr unversiegliches Wispern: »Als deine Geburt bevorstand, ist das Qut vom Baum gefallen und durch den Rauchfang in unser Haus geplumpst, ganz wie es dem Täñgir und unserer Großen Mutter Umay gefiel. Das Qut fiel deiner Mutter in den Bauch und nahm in ihrem Schoß die Gestalt eines roten Wurms an …«

»Ist es der, den du mir grad aus dem Po kratzt?«

Die Großmutter prustete und klatschte ihm mit der runzligen Hand – derselben, die ihm eben noch das Löchlein geschabt – zärtlich auf die Wange.

»Schlaf, du kleiner Quatschkopf, sonst zürnt Mutter Umay und nimmt dir noch dein Qut weg!«

Andermal wieder, wenn er bei Tante Sholpan nächtigte – der niedlichen Aysulu wegen, der er schon ins Ohrläppchen gebissen hatte, um sie später einmal zu heiraten – war es an Sholpan-Sheshe, ihm von seiner Geburt zu erzählen, wobei sie das Märchen von Täñgirs Sohn Geser einzuflechten pflegte.

»Täñgir sandte Geser hinab auf die Erde, in ein Steppenreich, das keinen Herrscher hatte.«

»Etwa zu uns?«, fuhr Erjan auf, doch ein Blick der Tante, halb verschmitzt, halb strafend, ließ ihn verstummen.

»Damit ihn niemand erkannte, erschien Geser in Gestalt eines rotznäsigen kleinen Jungen, wie du einer bist«, fuhr Sholpan-Sheshe fort und nutzte die Gelegenheit, ihm in die Nase zu kneifen, worauf Erjan niesen musste, sodass, um die in ihrer Wiege schlummernde Aysulu nicht zu wecken, die Großmutter seine Nase schleunigst fahren ließ und die ihre zärtlich an seiner Stirn rieb, ehe sie die Geschichte wiederaufnahm:

»Einzig Qara-Shotoñ, der sein Onkel war, so wie Kepek-Naǵashı deiner ist, hat erkannt, dass der Junge kein einfaches Kind, sondern göttlicher Abkunft war, und fing an, ihm nachzustellen; er wollte ihm den Garaus machen, bevor er groß und stark würde. Aber Täñgir hat Geser jedes Mal vor den Untaten des Qara-Shotoñ bewahrt. Als Geser zwölf wurde, sandte Täñgir ihm das beste Reitpferd auf Erden, und Geser gewann das große Wettreiten um die schöne Urmay-sulu und eroberte den Thron dieses Steppenreiches.«

»Kasachst…«, lag es Erjan auf der Zunge zu sagen, doch er sah die funkelnden Augen der Sheshe und hielt an sich.

»Doch nicht lange durfte der wackere Geser sein Glück und seine Ruhe genießen, denn vom Norden her drang der furchtbare menschenfressende Dämon Lubsan in sein Reich vor. Zwar geschah es, dass sich des Menschenfressers Weib Tümen Djirǵalañ in Geser verliebte und ihm daher ein Geheimnis ihres Mannes preisgab, welches Geser benutzte, um Lubsan totzuschlagen, doch darauf verabreichte Tümen Djirǵalañ ihm einen Vergessenstrunk, um ihn an sich zu binden. Geser trank den Becher leer, vergaß seine geliebte Urmay-sulu und blieb bei Tümen Djirǵalañ wohnen.

Unterdessen brachen im Steppenreich Revolten aus, und Qara-Shotoñ nahm sich Urmay-sulu gewaltsam zur Frau. Täñgir aber ließ Geser nicht im Stich, er führte ihn ans Tote Meer und befreite ihn von dem Zauber, indem er ihm das Spiegelbild seines Zauberpferdes im Wasser zeigte. Auf diesem Pferd kehrte Geser in sein Steppenreich zurück, schlug Qara-Shotoñ und befreite seine Urmay-sulu …«

Spätestens an dieser Stelle war Erjan, dem an Sholpan-Sheshes Busen ausreichend warm geworden, selig entschlummert; das Ende des Märchens, das ihm sein künftiges Leben voraussagte, träumte er in einem flauschigen Kindertraum.


Die Wege durch die Steppe – und seien es Schienenwege – sind lang und eintönig; verkürzen lassen sie sich nur im Gespräch. Erjan erzählte mir aus seinem Leben. Sein Bericht war dem Schienenstrang ähnlich – ohne viel Biegungen und Schleifen, er floss dahin, so wie die Drähte draußen längs der Strecke, von Mast zu Mast schwingend, dahinflossen, und das Klopfen der Schienenstöße schien der Erzählung Takt um Takt, Takt um Takt den Rhythmus vorzugeben. Seine frühe Kindheit erinnerte er als ein fortwährendes Hin und Her zwischen beiden Häusern, von sich zu Aysulu hinüber – nicht nur der hübschen kleinen Prinzessin zuliebe, die der Sprache noch nicht mächtig war und der er das Ohr angeknabbert hatte zum Zeichen eines frühen Verlöbnisses – nein, vor allem des stahlblitzenden Krimskrams wegen, den Shaken-Köke reichlich vom Dienst mitbrachte, wenn er wieder einmal einen ganzen Monat weg gewesen. Er arbeitete irgendwo in der Steppe, davon wird noch die Rede sein. Wie auch von dem Fernseher, um dessentwillen es Erjan erst recht zu Shaken-Köke hinüberzog, als der dieses Wunder eines Tages aus der Stadt anschleppte; an ihm klebten sie fest und ließen sich verschlucken.


Vorher aber noch das:

»Was die Weiber so zusammenschwatzen!«, pflegte sein Großvater zu sagen, wenn er sich den Jungen an Frühlingstagen mit dem Hüfttuch auf den Rücken band und seinen flinken Apfelschimmel bestieg. Dann galoppierten sie durch die Steppe jenseits der Bahnlinie, deren Beaufsichtigung der Großvater an solchen Tagen seinem Sohn Kepek überließ. Schweigend ritten sie – nur so zum Spaß, wie es schien – durch das schwellende, von Tulpen gesprenkelte Grün, und der Wind, der ihnen noch kalt um die Seiten strich, brannte Erjan die schrundigen Wangen rot.

Einmal kamen sie an eine Schlucht, hinter der ein paar vereinzelte Hügel aufragten, und der Großvater sprach wie beiläufig:

»Hier haben wir dich aufgelesen, Ulım* …«

Und gleich jenseits dieser Schlucht – jetzt im Frühling mit einem rauschenden Flüsschen am Grund, über das eine hölzerne Hängebrücke, Shaytan Köpir*, führte – wuchs in ganzer Breite Stacheldraht aus dem Boden; der Großvater aber, sein hitziges Pferd zügelnd, sprach ein Wort, das Erjan nicht verstand: »Sona*!« – und wie er es sagte, mit einer abwinkenden Geste seiner Reitpeitsche, klang es in den Ohren des Jungen wie eine surrende Fliege oder eher eine Bremse, wie sie an trägen Tagen den Kühen um die Köpfe kreiste, nun trug sie auf einmal den klingenden Namen Sona.

Dies also der Moment, da jenes rätselhafte Flügeltier in Erjans Leben vordrang und über der kindlichen Einbildung zu surren anfing. Zumal als sich herausstellte, dass sein Onkel Shaken an diesem Ort Dienst tat.

Einstweilen aber breitete der Großvater in der Schlucht das Hüfttuch aus, mit dem er sich Erjan auf den Rücken gebunden hatte, nahm seine Dombıra von der Schulter und hob zu singen an, dass es nur so schallte:

Bir jasta, eki jasta besiktamın,

Bes jasta Täñgir bergen nesiptemin,

Altı jasta qayıñnıñ tozındaymın,

Jetti jasta oypon jer bozındaymın,

On jasımda süt ämgän qozıdaymın,

On beste jorǵa oynaǵan laqtaymın.

Bin ich ein Jahr oder zwei,

lieg ich in der Wiege.

Bin ich fünf, bin ich in dem,

was mir Gott beschieden.

Bin ich sechs, so kannst du mich

als Birkenpollen denken.

Bin ich sieben, bin wie Reihergras

ich in einer Senke.

Bin ich zehn, bin ich ein Lamm,

nuckle pausenlos.

Mit fünfzehn dann ein bockig Füllen –

geh pass und wär gern groß.

Ein altes Lied, das Großvater Daulet von wer weiß woher in die Seele gefallen war … Woher hätte Erjan ahnen sollen, dass es von ihm handelte, sein künftiges Leben vorwegnahm?


Und auch wenn der Großvater die Weiber allesamt als Klatschbasen ansah – die Geschichte von Geser hakte sich in Erjans Gemüt nicht weniger fest als des Großvaters Dombıraspiel, und während Großmutter Ulbarsın ihm, bevor sie seine Haare mit Sauermilch wusch, den Kopf nach Läusen absuchte, die den Winter über ordentlich fett geworden waren, fragte Erjan sie aus: woran dieser Geser denn zu erkennen wäre? Und die Großmutter, um den hartnäckigen Fragen des Enkels zu entgehen oder wenigstens so lange Ruhe zu haben, wie sie brauchte, um der Läuse Herr zu werden und überdies noch der Nissen, die sich im üppigen Haarschopf des Kindes versteckten, entgegnete kurzerhand:

»Als Geser noch ein unansehnlicher Rotzjunge war, da hatte er keinen Shoshaq*

Und während die Großmutter die restlichen, in den Nähten seiner Unterhose versteckten Nissen ans Frühlingslicht zupfte, um sie zwischen ihren Fingernägeln zu knacken, rannte Erjan, der sich ihre Worte zu Herzen nahm, zu Aysulu ins Nachbarhaus, wo er gemeinsam mit der Zweijährigen seinen durchaus vorhandenen, wenn auch schrumpeligen Schniedel und zum Vergleich die beneidenswerte Fehlstelle bei der rotznäsigen Aysulu begutachtete.

Genauso eifrig behielt er seinen trägen Onkel Kepek-Naǵashı im Blick, ob der ihm womöglich den Garaus machen wollte – doch stattdessen sielte sich Kepek die meiste Zeit des Tages auf der einzigen eisernen Bettstatt im Hause herum, da er nach Einbruch der Dunkelheit seinen alten Vater an der Weiche oder beim Kontrollgang mit dem ererbten Hammer längs der Nachtzüge vertreten musste.

Gelegentlich kehrte er gegen Morgen sturzbetrunken heim und begann fluchend das Haus auf den Kopf zu stellen, sodass Erjan, geweckt von der Großmutter Ach und Weh, an einen tückischen Anschlag seines Qara-Shotoñ zu glauben geneigt war, doch der brüllte nur, er würde wegziehen für immer, und dass dieser Saustall ihm auf den Sack gehe, und dieses beschissene Leben wolle er f… – bis er am Ende auf den Schimmel des Vaters sprang und von dannen preschte in die endlose Steppe hinein, wo seine Stimme, sein Anblick, seine Wut im Morgengrauen versackten …


Aber wie gesagt: Nicht nur Großmutters Geschichte hatte es dem Jungen angetan, sondern auch Großvaters Dombıra. Und das so eindringlich, dass er sie nun öfter einmal, ohne zu fragen, von dem hohen Nagel an der Wand nahm und, während der Großvater an den Zügen Räder klopfen war, darauf zu klimpern anfing, wobei er die gerunzelte Stirn und die brüchige Stimme des Großvaters imitierte. Nach kurzer Zeit ließen sich ein paar geläufige Melodien heraushören, und bald schon wusste Erjan mit derselben Aufmerksamkeit, die er dem Vorgehen seines Naǵashı Kepek zuteilwerden ließ, das Spiel des Großvaters auf der unschuldigen Dombıra zu verfolgen. Kaum war dieser am nächsten Tag aus dem Haus und die Großmutter bei Sholpan-Sheshe schwätzen, vollzog Erjan die abgeschauten Fingerläufe am Hals der Dombıra eifrig nach. Schnell und unmerklich eignete er sich auf diese Weise beinahe das gesamte Repertoire Daulets an – und wurde bei diesem Tun weder vom Großvater noch von der Großmutter ertappt, sondern am Ende wieder einmal von Naǵashı-Kepek, als der nach dem nächsten Besäufnis ins falsche Zimmer getorkelt kam. »Ay, qara küsh! Ay, qara dybys!« Ei, welche Himmelsmacht! Welcher Himmelsklang! Jeden Finger küsste er dem Knaben ab, bedrängte ihn mit seinem Schnapsatem und schüttelte sein berauschtes Haupt. Und noch am selben Abend, kaum dass er wieder halbwegs nüchtern war, versammelte Kepek beide Familien vor dem Haus, ließ seinen dreijährigen Neffen vor die Tür treten und kündigte ein Konzert an. Es war das erste in Erjans Leben, und er gab es auf der Schwelle seines Hauses sitzend.


Und der Großvater, außerordentlich gerührt, ging sogleich daran, seine Dombıra von rechts auf links umzustimmen*, sodass der Junge leichter dazu singen konnte, außerdem gab er ihm allabendlich Extraunterricht, zu welchem er die alten, seit seiner Jugend nicht mehr erinnerten Melodien und Gesänge – Jır geheißen – aus dem Gedächtnis kramte. Was sich dergestalt bei Großvater im Laufe eines Lebens angesammelt hatte – Erjan beherrschte es nach drei Monaten. All die in Liedern bewahrte Weisheit des Kasachen sog der Junge in sich auf, wie der Boden im Frühling den Regen aufsaugt, Hornmelde, Calligonum und anderes Grün sowie roten Mohn und Tulpen daraus hervorgehen lässt.

Biik tauǵa jarasar,

Iǵınan tigen panası.

Tereñ sayǵa jarasar,

Tobılǵılı salası …

Und es ziert den hohen Berg

der große Schatten, den er wirft.

Und es ziert den tiefen Fluss

ein Ufersaum aus Mädesüß.

Und es ziert den tapferen Mann,

nimmt den Speer er in die Hand.

Und es ziert den reichen Mann,

tut er Gutes für sein Volk.

Und es ziert den Aqsaqal*,

die Fürsorge, die um ihn ist.

Und es ziert die gestandene Frau

ein Lederschlauch voll mit Kumys.

Und es ziert die junge Frau

der Säugling klein an ihrer Brust.

Zählt ein Mädchen

fünfzehn Jahr, flicht aus Gerüchten über sie

man einen Zopf noch zu dem ihren.

Und daran trägt alleine Schuld

ein Schandmaul ihrer Sippe.

Nachdem also Shaken-Köke (dessen Lieblingssatz war: »Die Amerikaner holen wir nicht bloß ein, die überrunden wir!«) den Vierjährigen diese Lieder hatte singen hören, brachte er ihm diesmal kein blitzendes Stahlding und keinen Glaskolben von der Wachschicht mit, sondern etwas, das wie eine Dombıra aussah, nur tausendmal schöner, gediegener und glänzender, und von Shaken-Köke Geige genannt wurde.


Und statt dreier Saiten waren da vier. In den ersten Tagen versuchte Erjan darauf wie auf der Dombıra zu spielen, doch es klang irgendwie dumpf und gepresst. Bis Shaken-Köke auch noch einen Stab aus der Tasche zog, oder war es eine Gerte? – er sagte Bogen dazu – und Erjan in die Hand drückte, damit er nach Herzenslust auf einer richtigen Geige spielen konnte. »Gib her, ich zeig es dir«, sagte er und fing an, mit dem Stab auf den Saiten herumzureiben, aber es kam kein Ton. Der Großvater lachte auf. »Alles will geschmiert sein!«, sagte er schlau und ging in seinen Schubladen nach solcher Schmiere suchen, die dann nichts weiter war als ein Stück trockener Tischlerleim oder Wachs. Er nahm erst die Geige, dann den Bogen zur Hand, schmierte beide ausgiebig ein – und plötzlich, kaum dass er den Bogen an die Saiten legte, kreischten sie geradezu auf. »Gib sie mir! Gib sie her! Der Köke hat sie für mich mitgebracht!« Erjan riss dem Großvater die Geige aus den Fingern und fing an, den Saiten Töne zu entlocken, allen vieren. Die gellten den Hausbewohnern den ganzen Tag in den Ohren; eine richtige Musik wurde freilich nicht daraus. Gegen Abend dann tauchte wer weiß woher Kepek auf, ordentlich beschwipst, sah seinen Neffen mit der Geige und brach auf einmal in Tränen aus. »Ich kenne einen bulgarischen Geiger!«, schluchzte er. »Der ist zwar schwul, aber morgen reiten wir hin!«


Und so kam es, dass der Naǵashı anderntags Erjan zu sich in den Kamelsattel hob und losritt, schräg über die Bahnlinie in die Steppe hinein. Sie ritten eine ganze Weile, ehe sie auf eine Anhäufung von Wägelchen, Baggern und sonstiger Technik stießen. Was die Leute hier trieben, war nicht ganz klar, es gab keine Eisenbahn, nur alles mögliche Eisen. Sie stiegen ab, ohne zu säumen, banden das Kamel an einen einsamen Tamariskenstrauch und betraten eines der Wägelchen. In dem verräucherten Raum saßen ein paar Männer beisammen und spielten lärmend irgendein Spiel. Erjan fing in dem Rauch sogleich zu husten an, sodass Kepek, nachdem er einen der Männer – besagten Petko – angesprochen und nach draußen gebeten hatte, seinen Neffen eiligst wieder an die frische Luft führte.

Es dauerte seine Zeit, bis Petko herauskam. Ein kleiner Mann mit flinken Augen und etwas blökender Stimme. Kepek-Naǵashı sprach mit ihm in einer Sprache, die Erjan damals noch nicht verstand; mehrfach fiel ein Wort, so ähnlich wie talanı*, dabei zeigte Kepek auf ihn, seinen Jiyen. Daraufhin begann Petko unter Kepeks argwöhnischen Blicken Erjans Hände, dann Arme und Schultern zu befühlen – so wie Kasachen ein Fohlen oder Lamm vor dem Kauf abtasten. Dabei stellte er Erjan rätselhafte Fragen, deren Sinn der Junge zu ergründen oder immerhin zu erahnen suchte: »Kökte biy zaǵip«* – war das ein Lied? Aber sein Naǵashı sprang ihm bei: Er will wissen, wie du heißt. »Atım Erjan«*, antwortete der Junge. Kurzum, Petko führte Erjan in Kepeks Beisein zu sich in den hintersten Wagen, nahm die mitgebrachte Geige in die Hand, schnupperte daran, leckte gar an den Bogenhaaren und fragte Kepek etwas; die Antwort brachte ihn zum Lachen. Das Lachen hörte nicht gleich wieder auf, während er Bogen und Saiten mit etwas beißend Riechendem säuberte, dann etwas hervorkramte, was wiederum nach Baumharz aussah und damit erst in kleinen Kreisen, dann in großen Schwüngen über den Bogen fuhr.

Als er die Geige endlich zu spielen anfing, war ihr Ton so rein und klar, dass Erjan mit einem Mal der Sinn von Petkos Spruch zu Beginn aufging: Selbst ein Blinder hätte im blauen Himmel die Luft tanzen sehen! Luft und Sonne, weiße Wolken, Vögel, frohgemut …

Dies war seine erste Geigenstunde.


Doch es waren noch keine fünf Lektionen vergangen, in denen der gute Petko ohne viel Umstände etwas auf seiner Geige vorspielte und Erjan die Bewegungen auf der seinen nachzuahmen suchte und die schwarzen und weißen Vögelchen zu verstehen lernte, die da auf dem Papier wie auf Drähten hockten (Kepek, der ihm, gänzlich unmusikalisch, alle Anweisungen Petkos mehr oder weniger treffend übersetzte, nannte sie Noten), als der eifersüchtelnde Großvater Daulet beschloss, mit Erjan und der Dombıra in den Zug zu steigen und in die Stadt nach Semei zu fahren, um ihn den wahren Meistern, den Jırau, wie er sagte, vorzuführen. Sie fuhren im Güterwagen, worin das für die Bahnangestellten an der Strecke bestimmte Brot ausgefahren wurde. An jeder Station reichte Großvaters Freund Tölegen die gefrorenen Laibe nach draußen, während Erjan und Daulet im hinteren Teil des Wagens auf Tölegens dicken Pelzen lagerten und mal den Wald von Armen sehen konnten, die sich nach dem Brot hereinreckten, mal schräg auf die wie ein riesiger Mühlstein um sie kreisende Steppe, auf die reichlich Schnee wie Mehl herabrieselte.

Unterwegs, während die Masten in die Gegenrichtung flitzten und die Drähte auf- und niederschwangen, kamen sie auch wieder an der Stacheldrahtsteppe vorbei, die den Großvater und Tölegen abermals zum Abwinken brachte, und Erjan hörte ein neues Mal das klingende Wort Sona, das er schon fast vergessen hatte, prompt surrte wieder die Bremse in seinem Kopf, nachdem er nachts von einem Schwarm Musiknoten geträumt hatte, und am Morgen war es eine fette, surrende Schmeißfliege, die über ihm kreiste und manchmal schamlos auf seiner Nase Platz nahm …

Die alten Männer waren schon dabei, ihren mit Milchpulver geweißten Tee zu trinken, tunkten den Kanten des letzten, unverkauft gebliebenen Brotes ein. Der Zug ratterte über die frostklirrenden Gleise. Durch den offenen Türspalt zog eisige Steppenluft herein. Plötzlich aber, wie auf Betreiben dieser Riesenfliege, ruckten alle im Waggon vorhandenen Schatten jählings zur Seite, und ein Dröhnen setzte ein, das das Summen der Fliege am Ohr und das Rattern des Waggons und das Scheppern der leeren Brotcontainer bei Weitem übertönte, sich bis in die Gehörgänge fraß. Und der Waggon mit allem, was in ihm war, fing zu tanzen an. Die alten Männer fielen zu Boden, in den Lichtspalt hinein, die Fliegenbeine peitschten den Erdball wie einen hüpfenden Kreisel, der Waggon hüpfte mit, und Erjan sah sich, ob von den haarigen Fliegenfüßen oder Tölegens unter ihm wegrutschenden Decken, hilflos davongeschoben, in ein pelziges, dröhnendes Dunkel hinein …

Sona! – Zone! – so hieß von da an die Erinnerung an diesen Tag, als Fliegenflügel Eisenbahnwaggons durch die Steppe purzeln ließen, als Großvater Daulet und der blutüberströmte alte Tölegen das Kind aus den haarigen Fängen befreiten und in einen Pelz wickelten und ein paar Greisentränen darüber vergossen …

So blieb ihnen die Fahrt nach Semei an jenem Tag verwehrt, das Studium bei den großen Jırau war Erjan nicht vergönnt. Auf einer Draisine, die aussah wie eine Mischung aus Miniaturdampflok und Wohnwagen, gelangten sie zurück nach Qara-Shaǵan. Die Steppe blickte auf dem Rückweg ebenso finster drein wie die Menschen, zwischen denen sie saßen: Bleigraue Wolken zogen über den Himmel, aus denen es weder regnete noch schneite, weder donnerte noch blitzte – sie sahen aus wie hohl. Auch die Schnelligkeit, mit der sie über den Himmel walzten, war sonderbar, denn es ging kein Wind, die Luft schien ebenso bleiern und war auch durch die dahinrollende Draisine nicht zu bewegen.

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