Kitabı oku: «Der Schmetterlingstrieb»

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HANNO MILLESI

Der Schmetterlingstrieb

ROMAN

EDITION ATELIER WIEN

Ich bin einmal auf einen Schrank geklettert, nur um die Vertikale auszunutzen, und kann sagen, dass das unangenehme Gespräch, das ich zu führen hatte, von da ganz anders aussah.

(Robert Musil, Die Amsel)

»Ganz wie in alten Zeiten«, sagt das Zimmer.

»Ja? Nein?«

(Jean Rhys, Guten Morgen, Mitternacht)

I.

Als ich mitten in der Nacht aufwache, denke ich, das könnte eine gute Gelegenheit sein, mir die Sterne anzusehen. Vom Schlafzimmerfenster aus geht das nicht, weil ein Parkhaus die Rückseite jenes Gebäudes, in dem sich meine Wohnung befindet, überragt und seine aufdringliche Beleuchtung meine Augen beim Blick nach oben blendet. Das Küchenfenster öffnet sich in einen Lichtschacht. Den Himmel sieht nur, wer den Blick steil nach oben richtet. Das oberste Segment des Küchenfensters, merke ich jetzt, ist so schmutzig, dass es nach andauernder Bewölkung aussieht. Man kommt da aber auch so schlecht hin, entschuldige ich meine Nachlässigkeit.

Das Vorzimmer verfügt über kein Fenster. Lediglich die Wohnungstür weist einen Einsatz aus geschliffenem Glas auf, der alles, was dahinter sichtbar ist, verschwommen wirken lässt; auch den ballonartigen Beleuchtungskörper im Stiegenhaus. Sein Umriss scheint von einer universellen Schmelze ergriffen, derzufolge sämtliche Objekte mitsamt dem Blick, der sie erfasst hat, ineinanderrinnen. Auf dem Klo sitzend, schaut man durch ein schmales Fenster auf Wilden Wein, dessen Auswüchse von der Dachterrasse ein Stockwerk weiter oben herunterhängen. Im Hintergrund der wuchernden Verzweigungen leuchtet etwas, das der Mond sein könnte, allerdings eher wie eine Lichtquelle wirkt, die die Üppigkeit der Bepflanzung hervorheben soll.

Im Arbeitszimmer gelingt mir endlich ein Blick auf ein Stückchen Himmel. Stern sehe ich keinen. Auch keinen Mond, aber der befindet sich ja vor dem Klofenster. Mein Blick und die Neugier, die diesen speist, werden von finsterer Unendlichkeit absorbiert. Sie macht gar kein Hehl daraus, dass sich die ungehinderte Sicht auf die prächtige Festtagsbeleuchtung des Kosmos mit urbanem Leben nicht vereinbaren lässt. Aus dieser Unvereinbarkeit hilft einem auch ein Schlupfloch wie vermeintliche Schlaflosigkeit nicht heraus.

Glücklicherweise gibt es in meinem Arbeitszimmer ein zweites Fenster gleich neben dem, bei dem es nicht geklappt hat. Tatsächlich erkenne ich über dem Gebäude am Ende der Straße ein Licht. Ein Stern, ein Planet, der Jupiter, der Mars? Das Licht bewegt sich und blinkt. Bald wird es aus meinem Gesichtsfeld verschwunden sein. Dem Lichtkörper mit den Augen folgend, lande ich unweigerlich wieder im Zimmer.

Da mir ein Blick auf die Sterne nicht vergönnt ist, beschließe ich, die Zeit zu nützen und meine frisch gewaschenen Socken zusammenzulegen. Mit beiden Händen hole ich sie aus der Plastikwanne wie von Bäumen gefallenes Laub und verteile sie auf dem Bett. Ein Durcheinander, das nicht einfach zu entwirren ist. Sämtliche Socken sind entweder dunkelblau, dunkelbraun oder schwarz und aus nahezu dem gleichen Material gefertigt. Mit jedem Paar, das sich aus dem chaotischen Haufen lösen lässt, wächst mein Überblick. Zuletzt liegen sieben ineinandergefaltete Klumpen vor mir in einer Zeile, als hätte ich einem losen Verband sich zum Verwechseln ähnlich sehender Rekruten befohlen, stramm zu stehen und sich zu umarmen. Auch meine Gedanken ließen sich während des Zuordnens einigermaßen schlichten. Die Milchstraße, sage ich und füge vier der sieben Sockenklumpen zu einem windschiefen Viereck. Das, stelle ich fest, ist der Große Wagen. Oder ist es der Große Bär?

Auf der Küchenablage entdecke ich eine tote Spinne. Sie liegt auf dem Rücken, und ihre abgeknickten acht Beine sind auf den Plafond gerichtet, als hätte sie bis zuletzt irgendetwas aus dieser Richtung erwartet. Ihr Anblick lässt mich an Mörder im Fernsehen denken. Mörder haben es mitunter eilig, Tote aus ihrer Wohnung verschwinden zu lassen, ehe Gesetzeshüter auf die Idee kommen, sich bei ihnen umzuschauen. Das Beiseiteschaffen der Leichen stellt sich in der Folge mitunter als schwieriger heraus, als es war, denjenigen oder diejenige vom Leben in den Tod zu befördern. Zumindest ist es mit einer Reihe von Handgriffen verbunden, die man sich einfacher vorgestellt hat, als die eigene Unbescholtenheit noch nicht auf dem Spiel stand. Wie viele Leichen, frage ich mich, liegen eigentlich sonst noch so bei mir herum?

Ich knie mich hin und suche den Küchenboden ab. Neben dem Mülleimer stoße ich auf einen Brotkäfer, mit dem es so plötzlich vorbei gewesen sein muss, dass ihm nicht einmal Zeit blieb, alle empfindlichen Körperteile unter seinem rotbraunen Panzer in Sicherheit zu bringen. Die feine Behaarung steht ihm zu Berge, als hätte er unmittelbar vor seinem Tod etwas Entsetzliches mitansehen müssen. Zudem finde ich unter dem Küchentisch jede Menge Füßchen, Fühlerchen und sonstige Fragmente, die allesamt einmal zu Insekten oder Spinnentieren gehört haben. Einem professionellen Ermittler reichen dieserart Spuren zweifellos, unabhängig davon, dass sich kein vollständiges Opfer daraus zusammensetzen lässt.

Im Kühlschrank liegt eine Sardine. Gemeinsam mit Walnüssen und Pfefferschoten schwimmt sie in einer Pfütze Pflanzenöl. Im Gegensatz zu dem Brotkäfer, den es inmitten seines alltäglichen Existenzkampfes erwischt haben dürfte, wurde die Sardine mit biologischen Mitteln konserviert und in der Kälte aufgebahrt wie die Ehefrau eines Pharaos.

Mein Blick wandert durch das Innere des Kühlschranks. Jede Kleinigkeit kann sich als wichtig erweisen, mein Leumund ihretwegen seine Glaubwürdigkeit einbüßen. Auf dem Boden der Gemüselade entdecke ich zwei tote Ameisen. Ich bin sicher, sie sind erfroren. Gemüse ist keines da. Theoretisch könnten sie also auch verhungert sein. Was die Ameisen betrifft, stellt die Todesart für mich keinerlei Rätsel dar, wohingegen ich im Fall der Sardine auf Spekulationen angewiesen bin. Wahrscheinlich ist sie im Schlepptau eines Hochseefischers in eine Konservendose geraten und da drin aus Einsamkeit oder vor Langeweile umgekommen.

Inzwischen bin ich ins Schlafzimmer vorgedrungen. Unter meinem Bett finde ich eine fette Stubenfliege. Sie scheint noch nicht lange tot zu sein. Ich kann das zwar nicht durch Handauflegen feststellen, nachdem ich sie eine Weile betrachtet habe, vernehme ich jedoch das Echo ihres letztendlich aussichtslosen Todeskampfes. Was mag sie unter meinem Bett gewollt haben? Hielt sie sich versteckt, lag sie auf der Lauer? Ich frage mich, ob ihre Anwesenheit meinen Schlaf beeinträchtigt hat und, falls ja, ob diese Beeinträchtigung stärker ausgefallen ist, als sie noch am Leben gewesen ist. Vielleicht hatte sie sich unter mein Bett verirrt und konnte hier unten nicht mehr starten, wie es Fliegen auch nicht gelingt, Fensterscheiben zu überwinden, begreifen sie doch ihr Vorhandensein nicht, sondern sehen lediglich, dass dahinter die Freiheit liegt.

Auf dem Weg zum Schrank trete ich beinahe auf den Körper eines Heimchens. Draufzutreten wäre nicht weiter schlimm gewesen, da es sich bei genauerer Untersuchung nur noch um das Gehäuse, die schalenartige Ummantelung seines Leibes handelt. Angehörigen eines Naturvolkes mag das etwas bedeuten, ich betrachte ein solches Überbleibsel rein wissenschaftlich. Naturvölker fragen sich vielleicht, ob der restliche Körper des Tieres in eine Form von Paradies eingegangen ist, in das auch gelangt, wer nicht lesen und schreiben kann. Ich stelle die Vermutung an, dass Angehörige dieser Spezies ihr Äußeres saisonal bedingt wechseln. Stimmen werden beide Theorien wohl nicht.

Im Wohnzimmer dauert es lange, bis ich fündig werde. Hier kommt auch der Staubsauger am häufigsten zum Einsatz, denke ich mir. Aber nicht hinter dem Fernsehapparat: eine halbe Wespe, ein Marienkäfer und ein wenig Lurch, bei dem es sich zwar um kein Tier handelt, in dem man jedoch mit ein bisschen Fantasie eine Spinne erkennen kann, die sich in ihrem eigenen Netz verfangen hat und eine schiefe Ebene hinuntergekullert ist. Ich sammle alle Beweisstücke auf und habe dabei – vielleicht aufgrund der Nähe zum Fernsehgerät – das Gefühl, nach Knabbereien zu greifen.

Als ich das Wohnzimmer wieder verlassen will, bemerke ich eine Herbstgrasmilbe, deren lebloser Körper in eine Fuge meines Parkettbodens getreten wurde. Warum es die hierher verschlagen hat? Ich dachte, die fühlen sich auf den Körpern von Hunden und Katzen am wohlsten, und ich erinnere mich nicht, wann sich so ein Tier das letzte Mal in meiner Wohnung aufgehalten hat. Vielleicht wurde die Milbe von meiner Lederjacke angelockt. Tierschützer sprechen immer wieder von dem in Material dieser Art nach wie vor präsenten Leid seiner ehemaligen Besitzer. Kann es sein, dass sie damit gar nicht so unrecht haben? Ich befeuchte eine Fingerspitze und befördere die tote Milbe zu den restlichen Kadavern.

Ehe ich in die Küche zurückkehre und meine Runde somit beschließe, komme ich an der Garderobe vorbei. Meinen Mantel taste ich ab, als handle es sich um einen Verdächtigen, der sich verdünnisieren wollte und jetzt von mir nach Waffen durchsucht wird. Während ich die Ärmel abklopfe und in die Taschen lange, purzelt eine Motte aus dem dichten Gewebe des dicken Stoffes. Eigentlich purzelt sie nicht heraus, sondern wird von meinen gewissenhaften Handgriffen aufgescheucht. So gesehen handelt es sich bei dieser Entdeckung im eigentlichen Sinn auch nicht um eine Leiche. Meine spontane Reaktion ändert das jedoch von einem Moment zum nächsten. Es muss aussehen, als verfiele ich in hektischen Applaus, etwa, um meiner Recherche die entsprechende Anerkennung zu zollen. Für die Motte ist dieser Vorstellung gemäß die Rolle einer Trophäe vorgesehen.

Um mich nicht in Sentimentalitäten zu verlieren, packe ich sie zu den restlichen toten Tieren und Körperteilen von mit ziemlicher Sicherheit toten Tieren. Schmunzelnd stelle ich fest, wie häufig sich doch als wahr herausstellt, was man aus dem Fernsehen kennt: Ich bekomme, was von der Motte übrig geblieben ist, nur mühsam von meinen Fingern in das Plastiksackerl, in dem sich meine Fundstücke befinden. Als Aufschrift trägt es den Namen einer französischen Pralinensorte, auf dessen Buchstaben sich ein Schmetterling niedergelassen hat.

Auf dem Weg von der Küche ins Arbeitszimmer begegne ich meinem Spiegelbild an der Schranktüre und bin einen Moment lang perplex. Bei meinem Anblick fällt mir Two-Face ein, jene Figur, die eine moralische Gratwanderung symbolisiert. Der Grat verläuft vertikal durch seinen Körper und teilt Two-Face in eine arg entstellte, hässliche linke und eine unversehrte rechte Hälfte. Was meine Erscheinung betrifft, ist der Äquator mit der Gürtellinie identisch. Oben befindet sich alles meinen Möglichkeiten entsprechend in untadeligem Zustand. Ich habe mich gewaschen und frisiert, trage ein gebügeltes Hemd, das bis oben hin zugeknöpft ist. Das Hemd deutet jedoch auch den Übergang an, steckt es doch nicht in einem Hosenbund, der sich, von einem Gürtel zusammengehalten, an einen halbwegs muskulösen Bauch schmiegt, sondern hängt lose herunter, geht in den fleckigen Schurz eines Handtuchs über, das meinen Unterleib umfängt wie der zerschlissene Unterrock einer in die Jahre gekommenen Prostituierten. Im Anschluss an den weitgehend zerfetzten Saum des Handtuchs werden zwei bleiche, nicht gerade sportlich oder auch nur gesund wirkende Schienbeine sichtbar. Die Haut an ihnen macht einen porösen Eindruck, in steter Auflösung begriffen, eine Behaarung ist nur noch stellenweise vorhanden. Beide Beine münden in Füße, die auf den ersten Blick wie misslungene Nachbildungen menschlicher Füße aussehen. Geschwollen, zu groß, abgenutzt. Als hätte ein Maskenbildner versucht, Schwimmflossen wie Füße aussehen zu lassen oder Flossen vergeblich das Aussehen verkümmerter Hände verliehen.

Oben, denke ich mir, ist alles okay. Ich könnte an einem Tisch Platz nehmen und jemandem ein Einfamilienhaus oder eine Versicherungspolizze verkaufen, unten jedoch würde man mich für einen von jahrelangem Drogenmissbrauch verzehrten Transvestiten halten. Einen Menschen, der sich die meiste Zeit über hat gehen lassen, sämtlichen Rauschmitteln seiner Epoche zugetan: dem Absinth der Bohème, dem Opium einer von der eigenen Erscheinung gelangweilten Generation, dem Morphium jener, die sich selbst aus den Augen verloren haben, den Amphetaminen der von der Kälte des Krieges Getriebenen, dem Marihuana der das Leben wie durch ein sich stetig bewegendes Kaleidoskop Betrachtenden, dem Heroin all derer, die tief in sich selbst vor sich selbst Schutz suchen. Nur das Kokain, scheint mir, passt auch in die obere Region.

Am Küchentisch dürfte ich nochmals eingenickt sein. Auf alle Fälle schreckt mich ein Geräusch auf, das wie ein Zusammenklappen der Absätze strammer Soldatenstiefel klingt. Ein metallener Klacks. Es handelt sich um den Toaster, aus dem zwei Toastscheiben in die Höhe schießen – als öffne sich die Startbox eines hochdotierten und mit Amphetaminen vollgepumpten Rennpferds. Es kann losgehen! In ihrer Parallelität erinnern mich die beiden Toastscheiben daran, dass der Mensch zwei Seiten hat. Wie in einem Wörterbuch ist er in eine linke und eine rechte Spalte aufgeteilt. Links und rechts geht es um die gleichen Begriffe, aber das erkennt nur, wer mit dem dahinter verborgenen System vertraut ist.

Meine Wohnung umfasst Räume, die der Nacht vorbehalten sind. Andere dienen der Zubereitung von Speisen, der Ausscheidung, dem Heimkommen und Weggehen. Es ist jedoch nicht vorgesehen, sich in der Zwischenzeit darin aufzuhalten. Das Teilen ist eine der Säulen, auf denen unsere humanistische Weltanschauung ruht. Auf meinem Teller trenne ich den Reis von den Erbsen. Der Umstand, nicht teilen zu können, gehört zu den bittersten Facetten des Alleinlebens. Ich habe bereits daran gedacht, die mir zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten in zwei Hälften zu teilen. Die eine für die dem Leben zugewandten Bedürfnisse, die andere für die, die keine Rücksicht darauf nehmen. Hier sage ich, was ich gelernt habe, dort, was ich empfinde. Hier bin ich fortwährend hungrig, dort vorübergehend gesättigt. Hier wasche ich mich und vertiefe einen Gedanken, um mich drüben zu beschmutzen und über denselben Gedanken zu lachen. Hier lasse ich jemanden herein, dort werfe ich ihn wieder hinaus. Mit verhohlenem Neid und unterschwelliger Bewunderung mache ich mir über das Leben auf der anderen Seite meine Gedanken. Ein Wechsel erfolgt ausschließlich mit Tagesanbruch. Im Badezimmer, in dem ich das Waschbecken für die obere Körperhälfte und die Badewanne für die untere verwende, analysiere ich mein Gemüt, wie andere ihren Blutdruck, die Luftfeuchtigkeit oder die Temperatur ihres Teewassers messen, und entscheide mich für eine der beiden Seiten. Es ist bereits vorgekommen, dass ich mich tage-, ja wochenlang auf derselben Seite aufgehalten habe. Ich verrate nicht, auf welcher. Die Zeit sorgt allerdings ohnehin früher oder später für einen Ausgleich. Entweder wird das Telefon beantwortet oder die Tür aufgemacht. Briefe werden gelesen oder geschrieben. Ich kann schließlich nicht gleichzeitig wach sein und schlafen. Das gelingt nur im Weltraum, wo es keinen Tag und keine Nacht gibt, weder drückende Schwere noch einen Boden unter den Füßen.

Wer sich auf eine Fernbeziehung einlässt, hat zumeist gute Gründe dafür. Verschiedenste Umstände machen ein konventionelles Zusammensein vorübergehend unmöglich.

Hat man sich einmal dafür entschieden, ist es wichtig, konsequent zu bleiben. Meine Partnerin und ich schreiben uns beispielsweise mehrmals in der Woche Briefe. Und zwar mit der Hand, benötigt es doch deutlich mehr Zeit, Briefe mit der Hand zu schreiben und zu verschicken. Gingen E-Mails zwischen uns hin und her, müssten wir ein Vielfaches an Korrespondenz fabrizieren, in die sich alsbald ein gewisses Maß an Belanglosigkeit einschliche. Telefonate heben wir uns für besondere Anlässe auf. Jubiläen und Feiertage, persönliche Triumphe über den Alltag, aber auch Krisensituationen: Momente, in denen die Sehnsucht überhandzunehmen droht, Nächte, welche die Einsamkeit stockdunkel werden lässt. Lichte Gedanken verbinde ich hingegen mit der Ära der Faxgeräte. Die Beförderung des Geschriebenen hatte damals zwar bereits ein Tempo aufgenommen, das uns bedrohlich vorkam, mir gefiel jedoch die Idee, meine Worte würden, wenn auch aus dem Mund einer Maschine, in ihr Vorzimmer ragen, mitunter sogar zu Boden gleiten und dort liegen bleiben wie von den Bäumen gefallene Blätter.

Spontane Kontaktaufnahme kommt für uns nicht infrage. Ab und zu eine Postkarte mit einem ästhetisch ansprechenden oder einem humorvollen Motiv. Spontaneität geht mir, um ehrlich zu sein, am allerwenigsten ab. Ich betrachte sie vielmehr als überwunden, stand sie doch im Grunde fortwährend zwischen uns. In Form von Aufmerksamkeiten und Überraschungen, in Form von Grübeleien, wie was zu verstehen sei – und zwar ohne sich etwas davon anmerken zu lassen. Jetzt erzählen wir uns, wo wir einkaufen, welche Erfahrungen wir mit welchen Erlebnissen verbinden, wie wir uns ernähren. Im Alltag nehmen wir auf niemanden Rücksicht und laufen selbst nicht Gefahr, unbewusst Rücksichten einzufordern. Über unser Aussehen informieren wir uns mithilfe von Fotografien. Sowie ich den Eindruck habe, ein winziger Aspekt ihres Antlitzes verblasse in meiner Erinnerung, trete ich vor das Tischchen, auf dem ihr gerahmtes Konterfei steht. Gelegentlich sage ich auch ein paar Worte zu dem Möbelstück.

Ich informiere sie über jede Neuerung in meiner Wohnung, wobei ich darauf achte, keine Fragen zu stellen, sondern bereits getroffene Entscheidungen zu kommunizieren. Sie hingegen lässt mich wissen, wenn sie ihrer Garderobe ein neues Kleidungsstück hinzugefügt hat. Gelegentlich bekomme ich sogar Bilder von Alternativen zu sehen und werde gebeten, auszuwählen. Schließlich, schreibt sie, bin ich es, dem sie gefallen will. Ich vermute allerdings, dass es sich dabei um eine eigens für mich inszenierte Liebenswürdigkeit handelt, liegen die auszuwählenden Kleidungsstücke doch gewöhnlich schon bei ihr zu Hause herum. Diesen Umstand versucht sie nicht einmal zu verheimlichen, als wüsste ich ohnedies, wie das Spiel gespielt wird. Eine Fernbeziehung funktioniert eben nach eigenen Regeln. Wem an der Entfernung zwischen ihm und seinem Partner nicht wirklich gelegen ist, läuft Gefahr, an der Unbequemlichkeit, die ein solches Arrangement bereithält, zu zerbrechen. Auch wir haben Zeit benötigt, uns darauf einzustellen. Angefangen hat es mit eigenen Vorstellungen, dann kamen separate Zimmer, getrennte Wohnungen, unterschiedliche Ernährung und verschiedene Freundeskreise. Mittlerweile wohnt sie am anderen Ende der Stadt, was es unwahrscheinlich macht, dass sich unsere Wege im Alltag kreuzen.

Heute ist Tag der Selbstversorger. Ich verschränke meine Arme auf dem Rücken, beuge mich über die Obstschale und beiße in einen darin liegenden Apfel. Der ist mir bereits aufgefallen, als ich in die Küche gekommen bin. Den Apfel zwischen den Zähnen setze ich mich an den Küchentisch. Ich beiße ab, und die Frucht fällt auf die Tischplatte. Ich kaue, schlucke und beiße noch einmal hinein. Das mache ich so lange, bis nur noch Gehäuse und Stängel übrig sind. Die nehme ich zwischen meine Lippen und deponiere sie im Aschenbecher. Danach gleitet meine Zunge ein paar Mal über jene Stellen, an denen der Apfel, während ich ihn verspeist habe, mit der Tischplatte in Berührung gekommen ist.

Als Selbstversorger lebe ich bewusst und belaste meinen Organismus mit keinerlei industriell hergestellten Lebensmitteln, von deren Zusammensetzung ich keine Ahnung habe; allein schon, weil ich an dergleichen nicht herankomme. Der Einkauf eines Selbstversorgers besteht darin, jene Lebensmittel aufzuspüren, die sich ohne Zuhilfenahme seiner Hände verzehren lassen. Die Kühlschranktür kriege ich mit der Spitze meines Fußes und einem Knie auf. Ich könnte an der Butter lecken. Ein Ei ließe sich mit meinen Lippen aus der Verpackung nehmen, in der Spüle aufschlagen und sein Inhalt von der Nirosta-Oberfläche schlürfen. Diese Form der Verköstigung klärt einen rasch darüber auf, worum es in Wahrheit geht – um Tischmanieren jedenfalls nicht. In der Küche avanciert meine Nase zum wichtigsten Körperteil. Sie hilft mir etwa dabei, ein Käseeck aus der Schachtel mit acht anderen zu bekommen, die Lade mit den Süßigkeiten zu öffnen und eine Schwedenbombe herauszunehmen, indem ich sie zwischen Nasenspitze und Oberlippe klemme.

Manchmal habe ich den Eindruck, der Mensch würde sich am liebsten mit allen Gliedmaßen gleichzeitig verköstigen. Er betrachtet das als Errungenschaft der Zivilisation. Was er Besteck nennt, symbolisiert seine Sehnsucht, die Funktionalität seiner Extremitäten würde seinen abwegigen Vorstellungen entsprechen, und diese ließen sich zu bestimmten Anlässen auswechseln.

In einem geflochtenen Körbchen liegen ein paar Walnüsse. Mit der Nase kicke ich zwei davon auf die Küchenablage und nehme mir vor, es genauso zu machen wie mit dem Ei. Auf die Suppe folgt die Hauptspeise, sage ich mir und verhöhne damit, was man in Kreisen, die von sich behaupten, distinguiert zu sein, die Speisefolge nennt. Ein Großteil der Menschheit ist bereit, sich zu vergiften, Hauptsache niemand verstößt dabei gegen eine der geltenden Regeln. Von einer solchen Politik der verbrannten Erde lasse ich die Finger. Ich will mir selbst demonstrieren, was es heißt, sich nach archaischen Grundsätzen zu ernähren. Kopfnuss, fällt mir ein, und ich haue ohne jegliche Vorwarnung mit der Stirn auf eine der beiden Nüsse. Ein stechender Schmerz fährt mir augenblicklich durch den gesamten Schädel. Als würde ein Nagel in meine Stirn getrieben, von dessen Spitze ausgehend die Schmerzen in jeden Quadratzentimeter meines Körpers ausstrahlen. Die Nuss ist heil geblieben, mir jedoch wird schwarz vor Augen. Ich bin benommen und vergesse beinahe, dass Arme und Hände an diesem Tag nicht zum Einsatz kommen dürfen. Meine Knie fühlen sich an wie aus Gummi, ich kann ihnen nicht länger zumuten, mich auf den Beinen zu halten. Tatsächlich spüre ich, wie ich zur Seite hin wegsacke. Im Grunde geht das einigermaßen sanft vor sich, als nähme mich ein außerirdisches Kommando mit auf eine Spritztour durchs All, da ich auf der Erdoberfläche fortwährend Schwierigkeiten mache. Reaktionsschnell ziehe ich meine Hand zurück, schlage mit der Schläfe an die Kante der Arbeitsplatte und verliere das Bewusstsein.


Für eine gelungene Séance lege ich beide Hände auf den Tisch, spreize die Finger und lasse meine Daumen einander berühren. Ich habe zwei Paar Handschuhe vorbereitet, die meine Gesprächspartner darstellen oder aber gemeinsam mit mir dem Übersinnlichen nachspüren. Braune aus Wildleder, die stumm wie zierliches Gehölz auf mich gewartet haben, und grobe Schihandschuhe, die Sportsgeist und Ausdauer symbolisieren. Die Schihandschuhe erwecken den Anschein, als befänden sich nach wie vor Hände in ihnen, die während eines Wettkampfes vom Körper abgetrennt wurden. Winterhände, denke ich, die man saisonbedingt abschraubt wie entsprechende Reifen, um sie gemeinsam mit der kalten Jahreszeit in der Garage verschwinden zu lassen. Mitsamt meinen Händen bilden die vier Handschuhe einen Kreis. Unmittelbar vor der Kontaktaufnahme fällt mir ein, dass sich einer der beiden Wildlederhandschuhe hervorragend für ein Messerritual eignen würde. Dabei legt man den Handschuh, ganz ähnlich wie ich es für unsere Séance gemacht habe, mit gespreizten Fingern auf die Tischplatte, nimmt ein Jagdmesser zur Hand und sticht es zwischen Daumen und Zeigefinger. Damit ist das Ritual eröffnet. Als nächstes rammt man das Messer in den Zwischenraum, der Zeige- und Mittelfinger trennt. Dann kehrt man zum Ausgangspunkt zurück, also zwischen Daumen und Zeigefinger, atmet ein, sticht in die Tischplatte, zieht das Messer wieder heraus, springt zwischen Mittelund Ringfinger, atmet aus, setzt erneut beim Daumen an, geht dann weiter zu Ringfinger und kleinem Finger, sticht zu, atmet ein, wieder zurück, zustechen, eins weiter, zurück und so fort. Hinzukommt, dass die Geschwindigkeit von Mal zu Mal gesteigert wird. Zurückspringen, einatmen, zustechen, ausatmen. Ob ich es mit beiden Händen versuchen soll? Schließlich habe ich zwei Handschuhe, und mir fällt kaum eine Tastatur ein, der sich mit fünf Fingern auch nur ein Hauch von Virtuosität entlocken ließe. Außerdem kann ich das Paar ohnedies wegschmeißen, sofern ich einen der beiden Handschuhe demoliere. Ehe eine Entscheidung fällt, hat mich die spirituelle Umnachtung jedoch bereits in ihrem finsteren Griff.

Als ich die Augen wieder aufmache, entdecke ich einen Schillerfalter auf meinem Fensterbrett. Er scheint sich zu überlegen, ob er hereinkommen oder weiterfliegen soll. Immerhin stand das Fenster offen, es spricht also nichts dagegen, sich anzuschauen, wie die Menschen so leben. Sein Flügelpaar weist ein in sich verlaufendes Farbenspiel auf, das an ein Aquarell von Wassily Kandinsky erinnert. Allerdings sind nur etwa zwei Drittel seiner Schuppen davon bedeckt. Als hätte dem Meister nicht ausreichend Zeit zur Verfügung gestanden, oder die Unvollständigkeit verweise auf die mangelhafte Integrität des modernen Menschen. Braune Farbtöne dominieren, vermischt mit etwas Schwarz und Weiß. Der Falter lässt mich an den Herbst denken und den Appell dieser Jahreszeit, zusammenzuräumen, hineinzugehen, die Jacke zuzuknöpfen – vielleicht auch das Fenster zu schließen. Ohne den Falter aus den Augen zu lassen, erhebe ich mich von meinem Sofa und achte darauf, keine überflüssige Bewegung zu machen. Mit rückwärts gesetzten Schritten nähere ich mich der Tür zum Schlafzimmer, als verließe ich die Audienz einer Majestät. Sobald ich an der Tür bin, fällt sämtliche Spannung von meinem Körper ab. Ich verlasse das Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Damit will ich verhindern, dass sich der Falter in meinen Räumlichkeiten verirrt. Durch mein plötzliches Erwachen verunsichert, könnte er sich veranlasst sehen, von einem Zimmer ins nächste zu flüchten, wodurch er sich immer tiefer in die Ausweglosigkeit meines Zuhauses begäbe. Meine Versuche, ihm den Weg in die Freiheit zu weisen, kämen ihm wie Anschläge auf sein Leben vor. Etwa um seiner Schönheit willen. Dabei geht die Gefahr gar nicht von mir aus.


Die Bedrohung lauert in jedem Winkel meiner Wohnung. Betrete ich unangekündigt ein Zimmer, kann ich mich davon überzeugen. Im Normalfall zieht sie sich, ehe ich auf der Bildfläche erscheine, zurück und lässt mich wie eine hysterische Person aussehen, in deren Inneren der Verdacht heranwächst, gegen sie sei eine Verschwörung im Gange. Natürlich glaubt niemand so jemandem, wie auch ich in hellen Momenten an der Stichhaltigkeit meiner eigenen Vermutung zweifle. Dabei spüre ich es ganz deutlich: Meine Wohnung will sich meiner bemächtigen. Etwa, um mich zum Vollstrecker einer obskuren Weissagung zu machen. Einer jener berüchtigten Unterkünfte in der Literatur vergleichbar, blickt sie auf eine dunkle Vergangenheit zurück. Die unvorteilhafte Aura zahlreicher Verfehlungen und die Erinnerung an Versäumnisse und falsche Entscheidungen haben ausgerechnet mich auserkoren, Rache zu nehmen. Rache für den ungünstigen Verlauf des Schicksals. Rache an einem Bewohner, der ebenfalls von mir verkörpert wird. Warum bin ich auch hierhergezogen? Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. Angesichts meiner brenzligen Situation kommt mir jedweder vorstellbare Grund irrelevant vor. Ich bin gar nicht sicher, ob ich selbst diese Entscheidung getroffen habe. Möglicherweise hatte mir meine Wohnung bereits ihren Willen aufgezwungen, ehe ich mich ihr mit allem, was mir gehört, anvertraut und gleichzeitig ausgeliefert habe. Vielleicht haben mich die verfänglichen Gezeiten des Wohnungsmarktes dieser Bestie in Gestalt einer Immobilie in den Organismus gespült wie einen x-Beliebigen, an dem sich verwirklichen lässt, was mit unzähligen anderen ebenfalls möglich gewesen wäre. Oder mein Unterbewusstsein hat mich hierhergeführt, jener schwer durchschaubare Bereich, mit dessen Hilfe meine Wohnung mit mir kommuniziert. Dabei handelt es sich um eine einseitige Kommunikation. Verspüre ich Hunger, bewege ich mich nahezu unwillkürlich Richtung Küche. Alle Räume lassen sich ausschließlich durch Türen betreten. Gelegentlich knarrt der Boden unter meinen Füßen und gibt mir damit zu verstehen, jede meiner Bewegungen werde registriert. Ausblick gewährt mir meine Wohnung nur durch ein paar Fenster, deren Position und Ausrichtung nicht ich festgelegt habe. Ich werde also von dem, was ich durch sie sehe, viel eher gesehen als umgekehrt. Waschen kann ich mich nur an zwei, drei dafür vorgesehenen Stellen. Nichts geht auf eine meiner Ideen zurück. Mir bleibt bestenfalls die äußere Form überlassen. Obwohl ich die Fenster putze, sind sie kurze Zeit später wieder verschmutzt.

Eine Woche nach meinem Einzug habe ich ein Bild aufgehängt. Zunächst wollte die Wand das verhindern, indem sie dem Nagel ein Eindringen verwehrte. Dann ließ der Raum das Bild schief wirken, indem er sich neigte. Zuletzt nahm ich das Bild eigenhändig herunter, da ich der Meinung war, es sei meinem beständigen Blick nicht gewachsen. In Wahrheit hat mich meine Wohnung gegen mich selbst eingesetzt, nachdem ich auf die ersten Warnschüsse – ein Hammerschlag auf den Daumen, mehrere Löcher in der Wand, letztendlich ein Bohrloch, das zugespachtelt werden musste – nicht reagiert hatte.

Damals habe ich zum ersten Mal klein beigegeben und mich damit als geeigneter Bewohner erwiesen: Verhalte ich mich anders als für mich vorgesehen, lastet ein schlechtes Gewissen auf mir. Reumütig bemühe ich mich, die ursprüngliche Situation umgehend wiederherzustellen. Es sieht dann zumeist mehr nach vorher aus, als es zuvor jemals ausgesehen hat. Sobald es im Vorzimmer läutet, weiß ich, was zu tun ist: Ich versuche den Eindruck zu erwecken, nicht zu Hause zu sein.

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