Kitabı oku: «Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst – Band 185e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski», sayfa 7
Es kratzt an der Tür. Kufalt ist mit einem Satz da: „Ja?“
„Du! Du bist doch Willi?“
„Na, natürlich, kannst du nicht linsen?“
„Man erkennt dich gar nicht mehr in deiner feinen Schale! Ich bin der Kalfaktor von deiner Station. Hast du die Toilettenseife in deinem Koffer?“
„Ja.“
„Lass mir die da, Mensch. Leg sie unter den Kübel. Ich hol' sie mir gleich aus der Zelle, wenn du raus bist.“
„Meinethalben.“
„Aber bestimmt, Willi!“
„Kannst durch den Spion sehen. Ich hol' sie gleich raus, siehst du...“
„Du, Willi, du hast doch auch Tabak? Kannst dir ja gleich wieder welchen kaufen. Leg ihn hin.“
„Ihr Räuber, ihr!“
„Mensch, ich hab' noch drei Jahre Knast.“
„Was ist denn das? Ich habe fünf Jahre gehabt und der Bruhn, der heute rausgekommen ist, elf!“
„Au wei! Au wei! Der Bruhn! Das weißt du noch nicht?! Mensch, der ganze Bau ist voll davon!“
„Was denn? Was ist denn mit Bruhn?“
„Der ist schon wieder drin! Drei Stunden ist er gerade draußen gewesen, ist schon wieder drin!“
„Du spinnst wohl! Das ist 'ne Scheißhausparole!“
„Wo's der Hausvater selber erzählt hat! Wie die rausgekommen sind, heute früh, sind sie gleich saufen gegangen. Nur der Sethe ist mit der Bahn abgefahren. Und einer hat gewusst, wo Mädchen sind. Da sind sie zu denen ins Haus gegangen. Aber die Weiber haben noch geschlafen und haben den besoffenen Kerls nicht aufmachen wollen. Die haben Krach geschlagen, der Hauswirt ist gekommen und hat sie aus dem Haus gewiesen. Da haben sie den Hauswirt die Treppe runtergeschmissen, aus seinem eigenen Haus rausgeschmissen! Und wie der Wirt wieder zurückgekommen ist mit Polizei, sind die Jungen doch drin bei den Weibern gewesen! Haben die geschrien, wie die Polente kam, die hätten's mit Gewalt gemacht, die Tür hätten sie aufgebrochen – na, dass die Hunger gehabt haben, die Jungen, das ist doch sicher! Und jetzt sitzen sie alle im Vater Philipp! Heute Nachmittag kommen sie ins Untersuchungsgefängnis, sagt der Hausvater.“
„Glaube ich nicht! Glaube ich nie im Leben! Wenn's alle machen, verstehen kann man es ja, aber nicht der Emil Bruhn! Der nicht!“
„Dicke Luft! Rusch!!“
Kufalt springt vom Spion fort, ans Fenster. Draußen hört er den Hauptwachtmeister hinter dem Kalfaktor her schimpfen.
‚Ja, es ist doch möglich!’ denkt Kufalt. ‚Emil Bruhn, so ein armes Aas! Immer solche muss es treffen. Immer still gewesen, nie hat er 'ne Stange angegeben, all die elf Jahre nicht – dich haben sie fein angeschissen mit deiner Freude aufs Rauskommen! Und wenn du auch nur ein paar Wochen Knast kriegst, die Bewährungsfrist ist doch verfallen und du fängst noch einmal von vorne an.’
Er hat Angst, der Willi Kufalt, er fühlt, ihm kann es auch so gehen. Keiner kann so auf sich aufpassen, der rauskommt aus dem Bau, irgendwie ist ihm ein Bein gestellt...
‚Wer einmal aus dem Blechnapf frisst, frisst immer wieder daraus!’
Kufalt besinnt sich. Er nimmt das Heft von der Wand, das blaue Heft mit dem Auszug aus der Strafvollzugsordnung. Er blättert nur einen Augenblick, dann liest er:
‚Bei dem Vollzuge der Strafen sind mit der Zufügung des Strafübels und mit der Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung geistige und sittliche Hebung, Erhaltung der Gesundheit und Arbeitskraft anzustreben. Auf Erziehung zu einem geordneten, gesetzmäßigen Leben nach der Entlassung ist besonders hinzuwirken. Das Ehrgefühl ist zu schonen und zu stärken.’
Kufalt schlägt das Heft wieder zu: ‚Na also’, sagt er. ‚Dann ist ja alles in schönster Butter. Klappt der Laden. Alles richtig, wie es ist. Was so 'ne Leute sich bei so was denken...’
* * *
14
Es ist dreizehn Uhr fünfzehn. Kufalt steht da mit der Uhr in der Hand. Er wartet. Sein Herz klopft sehr. Schritte kommen, nähern sich, gehen an seiner Zelle vorbei. ‚Wenn die mich vergessen, die Lumpen –. Wenn die mich aus Schikane drei Minuten länger warten lassen –!’
Schritte kommen, nähern sich, machen vor seiner Zelle halt. Papier raschelt. Dann wird der Schlüssel ins Schloss gestoßen, der Riegel geht zurück und Oberwachtmeister Feder sagt gelangweilt: „Na, denn kommen Sie man mit Ihren sieben Zwetschgen, Kufalt!“
Er geht, er sieht noch einmal zurück, gegen den Glaskasten, die Zentrale. Da ist der große Bau mit seinen siebenhundert Zellen, er ist hier zu Haus gewesen, Jahr um Jahr, viele Jahre zu Hause. Um die Ecke späht sein Stationskalfaktor, ob er schon in die Zelle rein kann. Er nickt ihm zu.
Dann durch den Kellergang beim Hausvater vorbei. Hier ist alles still Kufalt fällt etwas ein: „Ist das wahr, Herr Oberwachtmeister, mit Bruhn? Dass er schon wieder sitzt?“
„Weiß ich nicht, habe was gehört, kann aber auch 'ne Scheißhausparole sein.“
„Hier ist er noch nicht wieder?“
„Nee, kann er auch nicht. Muss doch erst zum Richter, der Haftbefehl erlässt.“
Sie kommen über den Vorhof. Im Torgebäude steht Oberwachtmeister Petrow.
„Na, komm, mein Sohn. Komm, viele Pinunse kriegst du.“
In der Wachtstube quittiert Kufalt.
„Steck sie gut weg, deine Pinunse, wirst du brauchen. Warte. Scheine in Geldtasche. So. Hast du schöne Tasche. Dass sie immer voll ist! Und hier in Porteh Silber und hier Messing und hier Kupfer. Und nun komm, mein Jung.“
Sie stehen unter dem Torbogen. Petrow schiebt Riegel um Riegel zurück. Dann nimmt er den Schlüssel.
„Musst du jetzt loslaufen, ohne Umsehen. Musst nicht wieder rücksehen auf Kittchen. Spuck' ich dich dreimal in Rücken, musst du nicht abwischen, ist gut dafür, dass du nicht wiederkommst. – Hau ab, mein Sohn!“
Das Tor geht auf. Kufalt sieht vor sich einen großen besonnten Platz in greller Sonne. Der Rasen ist grün. Die Kastanien blühen. Menschen gehen drüben, Frauen in hellen Kleidern.
Er geht langsam und vorsichtig hinaus ins Licht.
Nein, er sieht sich nicht um.
* * *
Drittes Kapitel – Friedensheim – 1
Drittes Kapitel – Friedensheim – 1
Erstens hatte Petrow viel zu doll auf den Mantel gespuckt, Kufalt hatte das Gefühl, alle Leute lachten. So hing er den Mantel über den Arm, die Placken verwischten sich nun zwar, aber das galt nicht: er kam doch nicht wieder rein!
Zweitens hatte er vom Zug auf die Stadt zurückgeschaut, da sah er plötzlich zwischen den Häusern noch einmal die grauen, steilen Zementwände mit ihren vielen Gitterlöchern – auch das galt nicht, denn jetzt fuhr er dem Bunker fort: er kam doch nicht wieder rein!
Wenn er es aber recht überdachte, jetzt im Zug, so hatte er doch schon verschiedenes ganz verkehrt gemacht. Einmal hatte er sich eine Autodroschke genommen zum Bahnhof, weil ihn die Leute so ansahen, er konnte es nicht vertragen, dass sie ihn so ansahen. Und dann hatte er auf dem Bahnhof zu Mittag gegessen, wo er doch im Kittchen sein Rumfutsch hatte stehenlassen. Und dann zehn Zigaretten zu sechs, die Sorte vom Direktor. Und dann eine Zeitung. Und dann, was das schlimmste war, zum Mittagessen auch noch ein Glas Bier, trotzdem er dem Alkohol abgeschworen hatte. Fünf Mark neunzig völlig überflüssig ausgegeben, die Arbeitsbelohnung für dreiundsechzig Pensums. Dreiundsechzig Tage hatte er dafür stehen müssen und stricken, und im Anfang hatte er zwölf, dreizehn Stunden für ein Pensum gebraucht. In zwei Stunden weg, die Arbeit von dreiundsechzig Tagen, es fing ganz niedlich wieder an!
Eigentlich hatte er sie sich etwas anders gedacht, die Fahrt in die Freiheit. Da ging es nun durch das sommerliche Land, gewiss, es war ganz angenehm anzusehen, aber hatte er Zeit dafür? Er musste sich Sorgen machen, ebenso Sorgen wie in der Zelle. Und wie es mit dem Heim wurde...?
„Kann einer von den Herren mir wohl sagen, wo ich in Hamburg aussteigen muss, wenn ich zur Apfelstraße will?“
Stille – schon fürchtete Kufalt, keiner wird antworten, schon wird ihm zweifelhaft, ob er wirklich laut gefragt hat, da lässt der Herr in der Ecke die Zeitung sinken und sagt: „Apfelstraße? Da müssen Sie beim Hauptbahnhof umsteigen. Sie fahren dann noch bis Berliner Tor weiter.“
„Erlauben Sie mal“, widerspricht der Herr neben Kufalt, „das stimmt doch nicht. Da ist doch keine Apfelstraße. Wo soll die denn da sein?“
„Natürlich ist sie da. Das ist die bei der Badeanstalt...“
„Der Herr hat Ihnen nicht richtig Bescheid gesagt“, bemerkt Kufalts Nachbar, „Holstenstraße müssen Sie aussteigen. Die Apfelstraße ist da gleich...“
Ein kleiner Dicker entscheidet: „ Der Herr hat recht. Und der Herr hat auch recht. Es gibt nämlich eine Apfelstraße in Altona und eine in Hamburg. Zu welcher wollen Sie denn?“
„Mir ist gesagt worden, Hamburg.“
„Dann müssen Sie also bis Berliner Tor fahren, Hauptbahnhof umsteigen.“
Stille herrscht.
Plötzlich fängt Kufalts Nachbar neu an: „Wo wollen Sie denn da hin in der Apfelstraße? Man sagt das so hin, Hamburg, und nachher ist doch Altona gemeint.“
„Bitte, der Herr hat gesagt, Hamburg, also muss er auch Berliner Tor raus.“
„Ist Ihnen denn ausdrücklich gesagt worden: Hamburg? Oder nur so hin?“
„Ja, ich weiß doch nicht. Ich will zu Verwandten.“
„Und wie haben Sie denn geschrieben an die Verwandten: Hamburg oder Altona?“
„Ja – ich habe nie selbst geschrieben. Das hat jemand für mich gemacht – meine Mutter.“
Der Nachbar hat ein pickliges Gesicht und blinzelnde Augen. Außerdem riecht er schlecht, wenn er sich so nah zu Kufalt beugt.
„Du willst doch – dahin?“ flüstert er.
„Wieso? Wohin?“ tut Kufalt.
„Na, Mensch. Ich weiß doch. Und ich rate dir, steig Holstenstraße aus, da ist es. Sonst tippelst du nachher mit deinem Koffer durch die ganze Stadt.“
„Ja, danke. Ich weiß ja nicht. Ich fahre zu Verwandten nach Hamburg.“
„Wenn du mit denen verwandt bist...“
Kufalt verflucht sich, dass er dies Gespräch entfesselt hat. Sucht nach seiner Zeitung.
„Wenn ich du wäre, ich führe ja lieber zu den Hallelujabrüdern in der Steinstraße.“
Kufalt entfaltet die Zeitung.
„Da kostet es auch nur vier Groschen die Nacht.“
Kufalt liest.
„Wenn du willst, ich trag dir deinen Koffer.“
Kufalt hört nicht.
„Ich geh' dir damit nicht über den Harz, verstehste. Ich trag' dir den Koffer, und wenn du bis Blankenese tippelst.“
Kufalt steht auf und geht aufs Klo.
* * *
2
„Apfelstraße?“ fragt der Schupo und sieht Kufalt an. „Na natürlich. Da gehen Sie hier runter und die zweite Querstraße rechts rein.“
„Danke“, sagt Kufalt und marschiert los. ‚Hat's mir auch angesehen. Es muss an meiner gelben Farbe liegen. Ich wollte, ich säh' erst anders aus, keinen kann man grade anschauen...’
Apfelstraße. Nummer achtundzwanzig soll es sein. ‚Vereinshaus der Stadt-Mission. Schlafsäle über den Hof. Bett fünfzig Pfennig.’
‚Das ist doch nicht das?’
In dem Torweg steht ein dicker Mann mit unfreundlichem Gesicht. Kufalt geht ihm zögernd näher. Der Mann hat so eine besondere Mütze auf. Noch ehe Kufalt bei ihm ist, schreit er los: „Was wollen Sie denn jetzt schon? Um sieben werden die Schlafsäle aufgemacht!“
‚Was ist denn das mit mir?’ fragt Kufalt sich angstvoll. ‚Ich bin doch genau so anständig gekleidet wie früher, und doch sehen es mir alle gleich an.’ Er sagt: „Ich will doch nicht in die Schlafsäle. Ich will nur fragen, ob hier Friedensheim ist.“
„Friedensheim? Meinetwegen können Sie's ja Friedensheim nennen. Heute abend. Morgen früh werden Sie's wohl anders heißen.“
„Friedensheim ist ein Heim für stellungslose Kaufleute. Ist das auch hier?“
„Nein, das ist nicht hier.“
„Können Sie mir denn sagen, wo das ist?“
„Nein, was weiß ich, wo ihr Brüder alle abbleibt.“
Der Mann geht in den Torweg, und Kufalt tritt auf die Straße zurück. Es ist zwecklos, hier weiter zu suchen. Nummer achtundzwanzig stimmt. Es ist also doch in Hamburg. Er fasst seinen Koffer fester und geht wieder gegen den Bahnhof. –
Auf sein Klingeln öffnet dem Kufalt ein Mädchen in blauer Schürze, jung, doch unerfreulich anzusehen. Sie fixierte ihn, er fühlt das, wenn er es schon nicht sehen kann, so stark schielt sie. ‚Wenn die nicht Fürsorge ist...’, denkt Kufalt. ‚Aber hier bin ich richtig.’
„Was wollen Sie denn?“ fragt das Mädchen im Ton der Entrüstung. „Wieso kommen Sie denn hierher am Abend?“
„Ich soll in Friedensheim aufgenommen werden.“
„Davon weiß ich nichts. Ihr Geld haben Sie versaubeutelt und jetzt kommen Sie zu uns. Sind Sie nüchtern?“ Sie geht gegen ihn an. „Ein bisschen zurück, junger Mann, ein bisschen zurück ins Licht, dass ich sehen kann, ob Sie nicht duhn sind.“
Sie drängt ihn, Schritt um Schritt, bis er wieder draußen steht, da aber schrammt sie die Tür vor seiner Nase zu.
Kufalt steht wieder auf der Straße oder, genauer, im eingegitterten, gepflasterten ‚Vorgarten’.
‚Was für 'ne Rübe!’ denkt er interessiert und schielt zu den gotischen Lettern ‚Friedensheim’ empor. ‚Sehr friedlich kann es nicht sein, wo die kommandiert.’
Durch die Haustür hört er ihre gellende Stimme: „Herr Seidenzopf, es ist einer da. Besoffen ist er nicht. Hat 'nen Handkoffer. Nee – kommen Sie selbst runter, er steht draußen im Gärtchen.“
Dann Stille.
Es ist eine Vorstadtstraße, die Apfelstraße in Hamburg. Dreißig kleine zweistöckige Häuschen wie das Friedensheim, manche noch mit richtigen Gärten und Baum und Busch, und achtzig fünfstöckige Mietskasernen.
Viele Leute unterwegs. Kleine Leute. Kufalt hat das Gefühl, hier braucht er sich nicht zu genieren, wenn sie auch alle erraten, wieso er hier vor Friedensheim mit seinem Handkoffer steht. Die wissen Bescheid, die regt das nicht mehr auf. Überhaupt hat ihm der Empfang nicht missfallen, es war der beste Empfang von der Welt, ein vertrauter Ton klang: auch im Kittchen gab man gerne so an.
Mittlerweile könnte der sogenannte Seidenzopf kommen.
Wie gerufen erscheint er. Die Tür geht schnell auf, ein kleiner Mann in schwarzem, sehr weitem Anzug schiebt sich geschwind durch, und schon ist die Tür wieder zu.
Herr Seidenzopf steht vor Willi Kufalt, etwa anzusehen wie ein Schnauzhund, so dicht ist sein Gesicht mit wolligen schwarzen Haaren bewachsen, aus denen nur eine bleiche große Nase und grelle schwarze Augen leuchten. Das Kopfhaar aber ist glatt angeklatscht und glänzt mit öligen Lichtern.
Herr Seidenzopf betrachtet den jungen Mann lange und schweigend. Die Betrachtung erstreckt sich nicht nur auf Gesicht und Hände, nein, Mantel und Hosen, Schuhe und Handkoffer, Kragen und Hut – alles wird genau besichtigt.
Die Prüfung ist scheinbar beschlossen, der kleine Mann räuspert sich. Sein Räuspern erfolgt sehr laut in überraschend tiefem Bass.
„Ich kann warten“, antwortet Kufalt bescheiden.
„Können Sie es, so fragt sich, ob es Zweck hat. Angemeldet sind Sie nicht“, sagt der Mann. Seine Stimme ist ein löwenhaft brüllender Bass, ein paar Kinder, die ihre Kreisel schlugen, sammeln sich am Gitter.
„Angemeldet bin ich. Und die Anmeldung müsste hier sein. Ich habe gestern früh schon unterschrieben.“
„Gestern früh!“ schreit der Kleine. „Und ‚schon’! Sie verstehn nichts, Sie wissen nichts, aber hier stehen Sie und sagen, Sie können warten.“
„Kann ich auch“, sagt Kufalt, der immer leiser spricht, je mehr der Kleine brüllt.
„Anmeldungen gehen zuerst an unsern Herrn Vorsitzenden, Herrn Diakonus Doktor Hermann Marcetus. In vier Tagen sind sie vielleicht bei uns. – Können Sie so lange vor der Tür warten?“
„Nein“, sagt Kufalt, der das Gefühl hat, ausgezeichnet aufgenommen zu sein.
‚Hauptwachtmeister Rusch hat es auch immer auf die Tour gemacht’, sagt er zu sich. ‚Soviel Theater macht man nur für jemanden, an dem einem gelegen ist.’
„Wenn Sie also nicht so lange warten können, dann werden Sie fein bitten müssen, mein junger Freund.“ Mit gesteigerter Stimme: „Bitten ist keine Schande, wie Sie vielleicht denken werden, auch unser lieber Herr Jesus Christus hat sich nicht geschämt, zu bitten, seine Jünger sowohl, wie seinen himmlischen Vater.“
„Ich bitte also um Aufnahme am heutigen Abend in das Friedensheim“, sagt Kufalt sanft.
„Sehen Sie! Und wen bitten Sie –?“
„Herr Seidenzopf, wenn ich recht verstanden habe.“
„Auch. Aber sagen Sie Vater zu mir. Ich bin der Vater von euch allen.“ Mit ganz anderer Stimme, nicht mehr für das Publikum auf der Straße berechnet: „Das andere erledigen wir drinnen. Nicht, dass ich Sie schon aufgenommen hätte, aber...“ Wieder mit brüllender Stimme, aber nur zur anderen Straßenseite hinüber: „Es hat gar keinen Zweck, dass Sie da umherschleichen und lauern, Berthold. Habe Sie längst gesehen. Sie kriegen kein Bett bei mir, Sie kriegen kein Essen bei mir, denn Sie sind wieder – besoffen! Gehen Sie dahin!“
Die schlotternde Gestalt drüben im Lodenmantel hebt beide Arme und schreit in höchster Fistel über die Straße: „Erbarmen Sie sich, Herr Seidenzopf! Wo soll ich denn schlafen, heute Nacht? In den Anlagen ist es noch so kalt.“
Die Gestalt hastet über die Straße.
„Kommen Sie rasch!“ flüstert Seidenzopf. Die Tür öffnet sich, Kufalt wird hindurchgedrängt, Seidenzopf nach – und rasch schlägt sie vor dem nahenden Berthold zu. „Klingel abstellen, Minna!“ brüllt Seidenzopf. „Berthold ist an der Tür!“
Der Vorplatz ist dunkel, aber nicht so dunkel, dass Kufalt nicht auf einer ins obere Stockwerk führenden Treppe zwei Frauengestalten sähe, die eine die Maid von vorhin, die andere voluminös, zerfließend, drei Stufen höher.
Von dieser kommt die klagende, weinerliche Stimme: „O Vater! Am späten Abend bringst du noch einen Mann ins Heim. Sicher ist er betrunken und hat sein Geld vertan bei den Weibern, Vater. So spät kommt keiner aus dem Gefängnis, Vater!“
Und die helle scharfe Stimme der Schielenden: „Betrunken ist er nicht, Frau Seidenzopf. Aus dem Kittchen kommt er frisch, kann keinen grade ansehen. Seine Hosen sind ganz frisch gebügelt, noch nicht verknautscht, bei Weibern ist er also nicht gewesen...“
„Stille!“ brüllt der Löwe. „An euer Geschäft, Frauen! Kein Wort mehr!“
Die beiden Gestalten entschwinden.
Durch die Tür klingt eine weinerliche Stimme: „Vater Seidenzopf, wo soll ich schlafen?! Vater Seidenzopf...“
„Husch! Husch!“ macht Seidenzopf gegen die Tür. „Pflicht ist es, dass auch manchmal die Stimme des Mitleids schweige ... Kommen Sie, junger Freund.“
Durch das Schlüsselloch jammert es: „Vater Seidenzopf, ach, Vater Seidenzopf...“
Sie aber gehen vom Flur in ein noch einigermaßen helles Zimmer. Auf einen Riesensessel mit Ohrenklappen hinter einem Schreibtisch setzt sich der Kleine, wie Fittiche stehen die Ohrenklappen über seinem Haupt. Auf die andere Seite des Schreibtisches darf sich Kufalt setzen.
„Meine Frau, junger Freund“, sagt der Kleine, „hat die Sache getroffen. Wo kommen Sie so spät noch her?“
„Aus dem Zentralgefängnis.“
„Aber das Zentralgefängnis entlässt um sieben Uhr früh. Sie hätten um zwölf Uhr hier sein können. Wo sind Sie so lange gewesen?“
„Ich...“, fängt Kufalt an.
Der Kleine richtet sich steil auf: „Halt, halt, mein Lieber! Reden Sie nicht unbedachtsam! Leicht entschlüpft uns eine Lüge. Sagen Sie lieber: ich schäme mich, es Ihnen zu sagen, Vater. Dann wollen wir eine Weile schweigen und bedenken, wie schwach wir sind, allezumal.“
„Ich bin doch erst um ein Uhr zwanzig entlassen, Herr Seidenzopf.“
„Vater“, verbessert der. „Vater. Ich glaube Ihnen, Freund, aber besser ist es, Sie zeigen mir Ihren Entlassungsschein.“
Kufalt nimmt seine Brieftasche, sucht, entnimmt ihr den Entlassungsschein und reicht ihn Herrn Seidenzopf.
Der kennt solche Dinge, er wirft nur einen Blick darauf. „Gut. Sie haben die Wahrheit gesprochen. Aber immerhin ... Nein, lassen Sie die Brieftasche auf dem Tisch liegen. Wir sprechen sofort darüber. – Jetzt nur...“
Mit einem Ruck wendet sich der Kleine zum Fenster und trommelt wild gegen die Scheiben: „Gehst du weg? Gehst du weg? Soll ich die Polizei rufen? Gehst du weg!“
Kufalt sieht gerade noch das bleiche, langnäsige Gesicht Bertholds hinter der Scheibe verschwinden.
Seidenzopf aber sagt strahlend: „Angst hat er vor mir! Haben Sie gesehen, was er für Angst hat vor mir? Ja, wir machen keine Wippchen. Wir sind streng. Streng muss man sein mit den Verlorenen, streng und mild. – Nun aber zu uns. Auch noch mit ein Uhr zwanzig hätten Sie eine Stunde früher hier sein können!“
„Ich bin erst in Altona in die Apfelstraße gegangen, das war gut eine Stunde hierher zu laufen mit dem schweren Handkoffer.“
„Kommen Sie rum!“ ruft Seidenzopf. „Kommen Sie rum! Sehen Sie doch mal Ihre Brieftasche!“ Er hat sie geöffnet und sieht staunend in ein Fach, in dem nichts zu sein scheint.
Kufalt blickt, ungewiss, abwartend, sieht nichts wie ein leeres Fach.
„Pusten Sie doch rein, Mensch. Sehen Sie da nicht die Spinne?“ Kufalt sieht keine, aber er pustet kräftig.
Seidenzopf schnuppert. „Alkohol haben Sie getrunken, junger Freund. Aber nicht viel. Ein Glas, nicht wahr? Na ja, aber Sie sollten es ganz lassen. Sehen Sie den Berthold, so ein kluger Mensch, ein Mann mit Gemüt und Religiosität, aber säuft. Dreimal schon hat er das Gelübde im Blauen Kreuz abgelegt – ich bin da der Leiter, ich kam vom Blauen Kreuz als Vater in dieses Friedensheim – und immer gebrochen! Immer gebrochen!“
„Ich hätt' Sie auch so angepustet ohne Theater.“
„Glaub' ich, glaub' ich. Sie sind ein ehrlicher Mensch. Ich sehe es Ihnen an. An Ihnen werden wir Freude haben, Sie sollen mal sehen, wie Sie bei uns hochkommen. – Na, und Ihr Geld, das geben Sie mir in Verwahrung...“
„Nein. Mein Geld will ich behalten.“
„Aber, aber, Sie wollen doch nicht, dass es Ihnen abhanden kommt? Sie wissen doch, was wir hier für Gäste haben! Wir haften nicht, wenn Sie's bei sich behalten. Und natürlich bekommen Sie eine Quittung, und wenn Sie was brauchen, gebe ich Ihnen was. So: vierhundertneun Mark siebenundsiebzig. Gleich die Quittung.“
Kufalt sieht sein Geld ärgerlich an: „Aber ich brauche Geld, sofort. Ich muss Sockenhalter kaufen und Hausschuhe. Ich bin die Lederschuhe nicht gewöhnt, meine Füße tun mir weh.“
„Sie werden sich daran gewöhnen. Ich gebe Ihnen drei Mark. Aber Sie gehen achtsam mit dem Geld um, nicht wahr? Drei Mark sind schwer verdient.“
„Ich brauche mindestens zehn Mark“, sagt Kufalt mürrisch.
„O was! O was! Sind wir Millionäre? Sie können ja immer frisches haben, wenn die drei Mark alle sind. Sie kriegen's, lieber Freund. Aber wenn man erst zu Vater Seidenzopf gehen muss, überlegt man's zweimal. Und wieder hat man Geld gespart.“
Der Kleine ist schon am Schrank, die Brieftasche ist fort.
‚Hätt' ich das geahnt’, denkt Kufalt verblüfft. ‚Hätt' ich mir was beiseite gesteckt. Immer wieder fällt man auf diese Brüder rein.’
„Und nun unterschreiben wir noch schnell die Heimordnung und die Schreibstubenordnung, und dann gehen Sie hinauf und packen aus und rüsten Ihr Bett.“
„Können wir nicht Licht machen?“ fragt Kufalt, vor dem zwei eng gedruckte Formulare liegen. „Ich möchte doch auch gerne wissen, was ich unterschreibe.“
„Das wollen Sie alles lesen? Lieber Freund, was hat denn das für einen Sinn? Tausend Menschen haben das unterschrieben, da werden Sie's doch auch unterschreiben.“
„Aber wissen möcht' ich doch, was hier los ist. Lassen Sie mich lieber lesen.“
„Aber Sie ärgern sich unnütz, lieber Freund. Natürlich, wenn Sie wollen. Am Fenster ist noch Licht genug.“
Am Fenster ist nicht mehr Licht genug. Kufalt sieht nach dem Schalter, auf die dämmrige Straße, in den Vorgarten. Da hockt eine Gestalt, ein bleiches, weißnasiges Geschöpf und macht Grimassen zu ihm hin. „Da sitzt doch der Berthold!“ ruft er.
„Wo –? Oh, dieser Unglückselige! Nun muss ich ihn wieder wegschaffen lassen durch die Polizei. Lieber Herr Kufalt, tun Sie mir die Liebe, unterschreiben Sie schnell. Ich muss zu dem Unseligen, das Ärgernis muss weg. Unser Haus darf nicht auffallen, ein wahres Friedensheim muss es sein. Sehen Sie, nun haben Sie unterschrieben. Ich schüttele Ihre Hand. Mein Sohn sind Sie nun. Gott segne Ihren Eingang.“
„Interkonfessionell ist das Heim aber doch?“ grinst Kufalt.
„Aber natürlich! Ganz interkonfessionell! Minna, bringen Sie Herrn Kufalt seine Bettwäsche und ein Handtuch. Minna, dies ist Ihr Bruder Kufalt. Kufalt, dies ist Ihre Schwester Minna.“
‚Ohgottohgott’, denkt Kufalt.
„Gebt euch die Hand. Natürlich nennt ihr euch weiter Sie. Kufalt, einfach die Treppe hinauf. Suchen Sie sich Ihr Bett aus. Sie sind jetzt hier zu Haus. Sie werden einen Bruder oben finden...“
„Der spinnt ja, Vater“, sagt Minna, das Mädchen im Friedensheim.
„Ja, er ist krank. Er ist krank noch, der Bruder Beerboom, liebe Minna. Die lange Haft...“
„Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehen will“, sagt Minna mit den Schielaugen.
„Oh! Oh! Oh! Aber es braucht nichts Unsittliches zu sein, wenn er mit Ihnen ausgehen möchte, natürlich werde ich ihn aber vermahnen. Gehen Sie jetzt, Kufalt, ich muss zu dem gefallenen Bruder.“
Ein Blick aus dem Fenster zeigt Kufalt, dass sein Bruder Berthold wirklich gefallen ist: jetzt kriecht er auf allen Vieren durch den Vorgarten und trägt seinen Hut in den Zähnen.
„Ich muss wirklich die Wache anrufen“, sagt Seidenzopf angesichts der Menge, die sich am Gitter des Vorgartens drängt. Er reißt das Fenster auf und ruft: „Geht doch fort, ihr Neugierigen, ihr Gaffer! Erbarmt sich euer Herz nicht...“
Eine grobe Stimme ruft aus der Menge: „Wolle-Teddy, mach dir keinen Fleck ins Hemde...“
Kufalt tastet sich die fast dunkle Treppe hinauf.
* * *
3
Oben auf dem Flur ist es kaum noch hell. Mit Mühe unterscheidet Kufalt eine Tür. Er drückt auf die Klinke und die Tür geht auf. Ein dunkler Raum, der groß zu sein scheint. Kufalts Hände suchen nach dem Schalter, finden ihn schließlich, das Licht brennt, eine runzlige Sechzehn-Kerzen-Birne in einer langen Schlucht.
Zwölf schnurgerade ausgerichtete Betten. Zwölf schmalbrüstige schwarze Schränke. Dazu ein einziger eichener Tisch.
‚Üppig ist das nicht’, denkt Kufalt, ‚das trauliche Friedensheim. Wenigstens sind die Fenster nicht vergittert. Sonst ist es eigentlich Kittchen. Die Betten sind auch nicht besser.’
Erst jetzt sieht er, dass auch die Bettwäsche über seinem Arm Gefängnisbettwäsche ist, blaugewürfelt. ‚Haben sie geschnorrt von der Justizverwaltung. – Hier wohnt jedenfalls keiner. Wollen mal die nächste Tür versuchen.’
Die nächste Tür ist verschlossen.
Die letzte Tür führt in einen erleuchteten Raum, wo auf einem Bett ein Mann liegt. Der Mann hebt den Kopf, betrachtet Kufalt und sagt: „Na, bist du endlich auch da, oller Knastschieber, Stubben, elender? Wird Zeit. Wieviel abgerissen? Hat dir Wolle-Teddy Geld gelassen? Hast du Schnaps im Koffer? Hast dich schon ausgeschlämmt vom Knast bei den kleinen Mädchen –?“
„Guten Abend“, sagt Kufalt.
Der Mann steht auf und lacht verlegen. Es ist ein mittelgroßer, breiter Kerl mit grauer, lederartiger Haut, dunklen, stumpfen, schwarzen Augen, krausem, schwarzem Haar. „Entschuldigen Sie bloß. Diese Begrüßung sollte nämlich ein Witz sein. Wir sind ja jetzt in der sogenannten goldenen Freiheit. Mein Name ist Beerboom...“
„Kufalt“, sagt Kufalt.
„Mein Vater ist Universitätsprofessor, kennt mich aber nicht mehr. Elf Jahre Zeit abgerissen, wegen Raubmord. Ich hab' 'ne kleine Schwester, die war süß, muss jetzt ein großes Mädel sein. Haben Sie 'ne Schwester?“
„Ja.“
„So. Ich möchte meine gerne wiedersehen. Darf aber nicht. Mein Vater meldet mich sofort bei der Polente, wenn ich in sein Kaff komme und – Schluss mit der Bewährungsfrist! Wenn ich Sie übrigens störe, dahinten ist noch ein Zimmer, da können Sie auch schlafen.“
„Ich will mal sehen“, sagt Kufalt. „Sind wir die beiden einzigen hier?“
„Ja. Ich bin zwei Tage hier. Dachte schon, ich bleibe der einzige Idiot, der freiwillig in diese Besserungsanstalt geht. Ich hau' mich wieder hin. Bis zum Abendessen ist noch 'ne halbe Stunde Zeit.“
„Ich will mal sehen“, sagt Kufalt zu dem Raum hin, der hinter diesem liegt.
„Genieren Sie sich nicht. Kann ich verstehen, ich verstehe alles. Übrigens heule ich meistens abends vor dem Einschlafen 'ne Stunde, würde Sie stören. Im Zet haben sie mich deswegen auf Gemeinschaft immer vertrimmt, ich kann es aber nicht lassen. Ist übrigens ein guter Name, Kufalt, ich denke an Einfalt und Dreifaltigkeit. Was ist eigentlich Dreifaltigkeit?“
„Irgend was mit dem Heiligen Geist. Ich weiß auch nicht. – Ich will jetzt aber mal sehen...“
„Gehen Sie ruhig los, Mensch, Kufalt, Heiliger Geist. Genieren Sie sich nicht. Ich rede immer weiter, wenn ich 'nen Menschen sehe. Hab' ich mir so angewöhnt im Knast. Brauchen Sie nicht zuzuhören. Ich hör' auch nicht zu...“
„Also dann gehe ich...“
„Haben Sie schon gesehen, das Affentheater mit den Fenstern? Schlimmer als im Kittchen. Keine Gitter, nee, aber die schmalen Scheiben gehen immer nur zehn Zentimeter weit um 'ne Stahlachse. Und Rahmen und Leisten sind Eisen. Türmen, nachts auf die kleinen Mädchen, mulle, mulle, oller Jeniesser, is nich. Vater Seidenzopf, der weiß Bescheid.“
„Ich gehe also.“
„Mensch, gehen Sie doch! Sie sind genau so ein Trottel wie ich. Wenn ich abends heule, denk' ich immer, so 'nen Idioten wie mich gibt's nicht wieder. Es gibt aber auch andere. Zum Beispiel Sie, dass Sie hier immer noch stehen...“
„Bin schon drüben“, sagt Kufalt und lacht.
Das Zimmer dahinter ist genau so ein Loch, vier kahle Wände, vier schmale Schränke, vier unbezogene Betten. Kufalt wählt das Bett an der Wand zuhinterst. Er wirft den Koffer auf das Bett und schließt ihn auf. Die Schranktür steht offen, kein Schlüssel steckt darin. Das Schloss ist auch nur Tinnef, Blech, eine Zuhalte, mit jedem Draht aufzutändeln. Kufalt probiert daran herum.
„Kleb den Schrank mit Spucke zu“, ruft der von drüben. „Hab bloß keine Angst um dein Gelumpe. Wenn ich's dir schon klaute, ich käm' ja nicht raus aus dem Haus, das Schielauge passt uns auf, noch und noch...“