Kitabı oku: «Wolf unter Wölfen», sayfa 12
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In einer oder der andern Stunde seines Lebens läßt auch der tätige Mensch, an einer Daseinswende angelangt, vom Gefühl seiner Ohnmacht überwältigt, die Hände sinken. Wehrlos, ohne den Gedanken auch nur an Gegenwehr, läßt er sich treiben und schieben – nicht einmal den Nacken zieht er ein vor dem Schlag, der ihm droht. Treibe hin, Mensch, Blatt auf dem Strome des Lebens! Auf eiligen Wellen trägt es dich unter einer Uferböschung stilleres Wasser; aber schon faßt dich ein neuer Wirbel, und dir bleibt nichts, als dich wirbeln zu lassen, zu Untergang oder neuem Verweilen – weißt du es?
Petra Ledig, die halbnackt Ausgetriebene, hätte mit ein paar Worten den Sturm der beiden Frauen in der Küche beschworen – es war alles gar nicht so schlimm, hätte sie nur gesprochen. Worte verändern alles, sie schleifen die scharfen Ränder ab – schon ist alles ganz anders; wie war es eben? Nur nicht dieses starre Schweigen, das Hochmut wie Verzweiflung, Hunger wie Verachtung verbergen konnte.
Nichts zwang Petra Ledig, an der offenen Tür ihres Zimmers vorüberzugehen. Eintreten und den Schlüssel umdrehen, sie konnte es, doch sie tat es nicht. Die Lebenswoge hob das Blatt, hob es, hob es. Zu lange schon hatte es in dem stillen Uferwasserwinkel gelegen, nur manchmal leise zitternd unter den letzten Ausläufern von Wirbeln. Nun schwemmte die Woge das Willenlose hinaus, in die völlige Ungewißheit hinein – auf die Straße hinaus.
Es war Nachmittag, vielleicht drei, vielleicht schon halb vier – die Arbeiter waren noch nicht zurück aus den Fabriken, die Frauen gingen noch nicht zu ihren Besorgungen. Hinter den Ladenfenstern, auch in den dunklen, muffig riechenden Hinterstuben der Läden saßen die Ladenbesitzer, nickten und dösten. Kein Kunde in Sicht. Es war so heiß –!
Eine Katze lag blinzelnd auf einem Treppenstein; von gegenüber, von der andern Straßenseite her, spähte ein Hund. Aber dann lohnte es sich ihm nicht, er öffnete weit den sanft rosenfarbenen Rachen und gähnte.
Die Sonne, deren Licht wohl noch blendete, war nur hinter Dunst zu sehen wie ein rötlich über seine Ränder kochender Glutball. Was es auch sein mochte, Hauswände oder Baumrinde, Schaufensterscheibe oder Pflaster, Wäschestück auf dem Balkongitter oder Uringerinnsel eines Pferdes auf dem Fahrdamm – alles atmete, ächzte, schwitzte, roch. Heiß. Glutheiß. Dem stille stehenden Mädchen war es, als höre es ein Summen durch die Stadt, ein leises, eintöniges, immer vor sich hin summendes Geräusch – als koche die ganze Stadt.
Petra Ledig wartete, mit den Augen müde gegen das Licht blinzelnd, wartete auf irgendeinen Anstoß, der das Blatt weitertreiben sollte, gleichviel wohin, irgendwohin. Die Stadt summte vor Hitze. Eine Weile starrte sie angestrengt zu dem Hund hinüber, als könne von ihm irgendein Anstoß ausgehen. Der Hund starrte zurück – dann ließ er sich hinfallen, streckte, vor Hitze ächzend, alle viere von sich und schlief ein. Petra Ledig stand, stand; nein, sie zog nicht den Nacken ein, auch ein Schlag wäre jetzt Erlösung gewesen – aber nichts geschah. Die Stadt summte vor Hitze. –
Und wie sie wartend auf irgend etwas an der überhitzten Georgenkirchstraße stand, saß ihr Liebster, Wolfgang Pagel, wartend in einem fremden Haus, in einer fremden Küche – wartend auf was? Seine Führerin, die so frisch gewaschene Liesbeth, war im Innern des Hauses verschwunden. An dem schneeweißen Herd mit den verchromten Beschlägen hantierte ein anderes junges Mädchen, dem Liesbeth mit einigen Flüsterworten Bescheid gesagt hatte. Ein Topf klapperte auf der Platte, emsig kochend. Wolfgang saß, wartend, kaum noch wartend, den Ellbogen auf ein Knie gestützt, das Kinn in der Hand.
Solche Küche hatte er noch nicht gesehen. Groß wie ein Tanzsaal, weiß, silbern, kupferrot, das matte, körnige Schwarz der Elektrotöpfe – und mitten durch sie lief ein Geländer, hüfthoch, aus weißem Holz, eine Art Podium begrenzend, und trennte den Arbeits- von dem Aufenthaltsraum. Zwei Stufen gab es; unten waren Herd, Küchentisch, Töpfe, Schränke. Oben aber, wo Pagel saß, stand ein langer Eßtisch, schneeweiß, bequeme weiße Stühle. Ja, sogar ein Kamin war hier, aus schönen, rotgebrannten Steinen mit sauberen weißen Fugen.
Oben saß Wolfgang, unten wirtschaftete am Herd das fremde Mädchen.
Er sah gleichmütig, stumpf durch die hohen, hellen Scheiben, vor denen Weinlaub hing, in den sonnenglänzenden Garten – freilich waren Gitter vor den Scheiben. ›Und‹, mußte er zerfahren denken, ›wie man das Verbrechen hinter Gittern verwahrt, so flüchtet sich auch der Reichtum hinter Gitter, fühlt sich dort erst sicher – hinter den Gittern der Banken, den Stahlwänden der Safes, den schmiedeeisernen Zieraten, die doch auch Gitter sind, den stählernen Rolljalousien und Alarmvorrichtungen seiner Villen. Seltsame Ähnlichkeit – nicht so seltsam eigentlich, aber ich bin so müde …‹
Er gähnte. Grade sah das Mädchen vom Herd zu ihm hin. Er nickte, leise lächelnd, nicht ohne betonten Ernst. Also noch ein Mädchen mehr, auch nicht unsympathisch – ach, Mädchen genug, und überall Nicken, Mitgefühl! –›Aber was in aller Welt soll ich tun?! Ich kann doch nicht hier so sitzen … Worauf warte ich eigentlich? Doch nicht auf diese Liesbeth, was soll die mir sagen?! Bete und arbeite, Morgenstunde hat Gold im Munde, Arbeit und Fleiß, das sind die Flügel, Arbeit ist des Bürgers Zierde, Arbeit macht das Leben süß. Aber Arbeit schändet auch nicht, und jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert, darum soll er auch ein Arbeiter im Weinberg sein, arbeiten und nicht verzweifeln …‹
›Ach‹, dachte Wolfgang wieder und lächelte sehr schwach, fast als sei er ein wenig angeekelt, ›was haben sich die Menschen doch alles für Sprüche zurechtgemacht, bloß um sich einzureden, daß sie arbeiten müssen und daß Arbeit etwas Gutes ist. Am liebsten säßen sie doch alle hier wie ich, nichts tuend, und warteten auf irgend etwas, ich weiß ja selbst nicht was. Nur abends am Spieltisch weiß ich es, wenn die Kugel schnurrt und klappert und gleich ins Loch fallen wird – da weiß ich, auf was ich warte. Aber wenn sie dann in das Loch gefallen ist, ob nun in das erwünschte oder ein anderes, gleichviel – dann weiß ich es schon wieder nicht mehr.‹
Er starrt vor sich hin, er hat keinen schlechten Kopf, nein, es regen sich Gedanken darin. Aber er ist verlottert und faul, er mag nichts zu Ende denken. Warum auch –? So bin ich und so bleibe ich. Wolfgang Pagel for ever! Er hat ganz sinnlos ihr letztes Hab und Gut verkauft, bloß um Zecke zu besuchen, Geld zu borgen. Aber bei Zecke angelangt hat er ebenso sinnlos, nur um eines boshaften Wortes willen, alle Aussichten auf Geld zerstört. Und wiederum sinnlos ist er mit dem ersten Menschen, der ihm dann über den Weg lief, mitgegangen und sitzt nun da – im trüben, seichten, toten Wasser, das willenlose Blatt, Inbegriff aller willenlosen Blätter. Schlapp, nicht ohne Gaben, nicht einmal ohne Güte, auch nicht lieblos – aber wirklich so, wie es die alte Minna gesagt hat: jetzt müßte nun wieder ein Kindermädchen kommen, ihn bei der Hand nehmen und ihm sagen, was er zu tun hat. Wirklich weiter nichts als ein Fahnenjunker a. D. seit nunmehr etwa fünf Jahren.
Die Kunde seines Hierseins ist wohl durch Liesbeth im Haus verbreitet. Jetzt kommt eine dickliche Frau herein, keine Dame, eine Frau. Sie wirft einen raschen, fast verlegenen Blick auf Wolf und sagt dann laut am Küchenherd: Der Herr hat eben angerufen. Wir essen pünktlich um halb vier.
Gut! sagt das Mädchen am Herd, und die Frau geht wieder, nicht ohne einen zweiten prüfenden Blick auf Wolfgang geworfen zu haben.
›Alberne Gafferei! Ich haue gleich ab!‹
Von neuem geht die Tür. Ein Diener in Livree kommt herein, der Diener. Er braucht nicht wie die dicke Frau irgendeinen Vorwand, er geht quer durch die Küche, steigt die beiden Stufen hinauf und tritt zu Wolfgang an den Tisch. Der Diener ist schon ein älterer Mann, aber mit einem frischfarbigen, freundlichen Gesicht.
Er reicht Wolfgang die Hand, ohne jede Verlegenheit, und sagt: Ich heiße Hoffmann.
Pagel, sagt Wolfgang, nach kurzem Zögern.
Es ist sehr schwül heute, sagt der Diener freundlich, mit einer leisen, aber sehr deutlichen, geschulten Stimme. Darf ich Ihnen vielleicht etwas Kühles bringen – eine Flasche Bier?
Wolfgang überlegt einen Augenblick, dann: Wenn ich um ein Glas Wasser bitten dürfte?
Bier macht schlaff, sagt der andere beistimmend. Und holt ein Glas Wasser. Das Glas steht auf einem Teller, und in dem Wasser schwimmt sogar Eis, alles, wie es sich gehört.
Ja, das tut gut, sagt Wolfgang, gierig trinkend.
Lassen Sie sich Zeit, sagt der andere, immer mit dem gleichen freundlichen Ernst. Sie trinken uns das Wasser nicht alle. –
Auch nicht das Eis, setzt er nach einer Pause hinzu, und in seinen Augenwinkeln entstehen Fältchen. Er holt aber noch ein zweites Glas.
Danke sehr, sagt Wolfgang.
Fräulein Liesbeth hat im Augenblick zu tun, sagt der Diener. Aber sie kommt bald.
Ja, sagt Wolfgang langsam. Und, indem er sich einen Ruck gibt: Ich gehe jetzt lieber, ich bin wieder ganz frisch.
Fräulein Liesbeth, sagt der andere freundlich, ist ein sehr gutes Mädchen, sehr gut und sehr tüchtig.
Sicher, stimmt Wolfgang höflich zu. Nur der Gedanke an sein Geld in der Kleidertasche dieses Fräulein Liesbeth hält ihn noch hier. Diese paar eben noch so verachteten Scheine brächten ihn rasch zum Alexanderplatz. Es gibt viele gute Mädchen, sagt er beistimmend.
Nein, sagt der andere entschieden. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen widerspreche: die Art gute Mädchen, die ich meine, ist selten.
Ja? fragt Wolfgang.
Ja, sagt der andere. Man muß das Gute nämlich nicht grade mal tun, weil es einem Spaß macht, sondern immer, weil man das Gute liebt. Er sieht Wolfgang noch einmal an, nicht mehr ganz so freundlich wie bisher. (›Putzige Kruke‹, denkt Wolfgang.) Der Diener sagt abschließend: Also es dauert nicht mehr lange.
Er geht wieder aus der Küche, ebenso sachte, ebenso besonnen wie vorher. Wolfgang hat das Gefühl, dieser Diener nimmt keinen guten Eindruck von ihm mit, obwohl er kaum etwas gesagt hat.
Jetzt muß er etwas rücken: das Mädchen vom Herd kommt mit einem Tischtuch, dann mit einem Tablett und fängt an, den Tisch zu decken. Bleiben Sie ruhig sitzen, sagt sie. Sie stören nicht.
Auch sie hat eine angenehme Stimme, die Leute in diesem Haus haben eine gute Art zu sprechen, es fällt Wolfgang auf. Sie sprechen sehr rein, sehr deutlich.
Das ist Ihr Gedeck, sagt das Mädchen, als Wolfgang gedankenlos auf die Papierserviette vor sich starrt. Heute mittag essen Sie hier.
Wolfgang macht eine gedankenlose, aber abwehrende Bewegung. Irgend etwas fängt an, ihn zu stören. Es ist ein Haus gar nicht weit ab von Zeckes Palazzo, doch sehr weit entfernt. Aber sie sollten nicht mit ihm reden, als sei er ein Kranker, nein, als sei er jemand, der im Wahn eine schlimme Tat getan hat, mit dem man noch behutsam spricht, um ihn nicht rasch aufzuwecken.
Das Mädchen sagt: Sie werden doch Liesbeth nicht enttäuschen. Und nach einer Pause: Die gnädige Frau ist einverstanden.
Sie deckt, klimpert ein wenig mit den Bestecken – sehr wenig, es geht ihr alles rasch und leise von der Hand. Wolfgang sitzt regungslos, es muß eine Art Lähmung sein, das macht natürlich die Hitze. Also eine Art Bettler, von der Straße hereingekommen, hat Hunger, mit Bewilligung der Herrschaft wird eine Mittagsmahlzeit gereicht. Seine Mutter ließ durch Minna ein paar Stullen schmieren, der Bettler durfte nicht in die Küche. Im höchsten Fall wurde ein Teller Suppe durch die Tür gereicht, der auf dem Treppenabsatz ausgelöffelt werden mußte.
Nun, hier in Dahlem war man feiner, aber für den Bettler machte es wenig aus, Bettler war Bettler, vor der Tür wie in der Küche, von nun an bis in alle Ewigkeit. Amen!
Er haßte sich, daß er nicht ging. Er wollte kein Essen, was lag ihm am Essen? Er konnte bei seiner Mutter essen, Minna hatte erzählt, immer lag ein Gedeck für ihn auf. Nicht daß er sich geschämt hätte, aber sie sollten nicht zu ihm reden, als sei er ein Kranker, den man schonen muß – er war nicht krank! Nur dieses verfluchte Geld! Warum hatte er ihr vorhin diese jämmerlichen Lappen nicht aus der Hand genommen?! Er säße jetzt schon in der Untergrundbahn …
In seiner Nervosität hat er eine Zigarette vorgezogen, er ist schon im Begriff, sie anzubrennen, als das Mädchen sagt: Bitte, wenn Sie es irgend aushalten, jetzt nicht. Sofort, wenn ich das Essen raufgeschickt habe. Der Herr schmeckt so empfindlich …
Die Tür geht auf und herein kommt ein kleines Mädchen, Tochter des Hauses, zehn Jahre oder zwölf, hell, fröhlich, leicht. Die weiß von der bösen grauen, riechenden Stadt draußen bestimmt nichts! Will sich den Bettler mal anschauen, Bettler scheinen in Dahlem wirklich ein rarer Artikel!
Papa ist schon unterwegs, Trudchen, sagt das Kind zu dem Mädchen am Herd. In einer Viertelstunde können wir essen. – Was gibt es, Trudchen?
Topfriecher! lacht das Mädchen und hebt einen Deckel. Dampf steigt auf, das Kind schnuppert eifrig. Dann sagt es: Och, bloß olle Schoten! Nein, sag wirklich, Trudchen.
Suppe, Fleisch und Schoten, sagt Trudchen scheinheilig.
Und –? fragt das Kind drängend.
Und, sagte Herr Rund – da biß ihn der Hund! lacht das Mädchen halb singend.
›Das gibt es noch‹, denkt Wolfgang halb lächelnd, halb verzweifelt. ›All das gibt es also noch. Ich habe es bloß nicht mehr zu sehen bekommen, in meiner Höhle Georgenkirchstraße, habe es darum vergessen. Aber richtige Kinder, Unschuld, unverdorbene, unwissende Unschuld gibt es auch noch. Die Frage nach der süßen Speise eine Wichtigkeit, da hunderttausend die Frage nach dem täglichen Brot überhaupt nicht mehr stellen mögen! Plünderungen in Gleiwitz und Breslau, Lebensmittelkrawalle in Frankfurt am Main und Neuruppin, Eisleben und Dramburg …‹
Er betrachtet das Kind ablehnend. ›Es ist ja Schwindel‹, denkt er weiter, ›eine künstliche Unschuld, eine ängstlich geschützte Unschuld – genau wie sie Gitter vor ihren Fenstern haben. Das Leben kommt doch – was wird in zwei, drei Jahren von dieser Unschuld noch da sein?‹
Guten Tag! sagt das Kind zu ihm. Es hat ihn erst jetzt bemerkt, vielleicht weil er mit dem Stuhl rückte, um aufzustehen und fortzugehen. Er nimmt die Hand, die das Kind ihm hinhält. Es hat dunkle Augen unter einer klaren, schönen Stirn, es sieht ihn ernst an. Sie sind der Herr, der mit unserer Liesbeth gekommen ist? fragt es eindringlich.
Ja, sagt er und versucht, gegen soviel Ernst anzulächeln. Wie alt bist du denn?
Elf Jahre, sagt sie höflich. Und Ihre Frau hat nichts als einen Paletot?
Richtig, sagt er und versucht noch immer zu lächeln und leicht zu tun. Aber es ist eine verfluchte Sache, seinen Taten im Munde anderer, und nun gar schon von Kindern, zu begegnen. Und gegessen hat sie auch nichts – und wird wohl kaum etwas kriegen, nicht einmal Speise mit Makronen.
Aber sie merkt gar nicht, daß er ihr weh tun wollte. Mama hat so viele Sachen, sagt sie nachdenklich. Das meiste zieht sie gar nicht an.
Richtig, vollkommen in Ordnung, sagt er wiederum, und kommt sich doch so schäbig vor mit seiner billigen Schnoddrigkeit. So ist eben das Leben. Das hast du noch nicht in der Schule gehabt? Wie?!
Immer jämmerlicher, immer kläglicher, vor allem vor diesen ernsten Augen, die ihn ansehen – fast traurig.
Ich gehe nicht in die Schule, sagt das Kind mit einem kleinen, ein wenig wichtigtuerischen Ernst. Ich bin nämlich blind. Wieder der Blick, dann: Papa ist auch blind. Aber Papa hat früher noch sehen können. Ich habe nie sehen können.
Sie steht vor ihm – und der für seinen billigen Spott so rasch Gestrafte hat immer stärker das Gefühl, als sähe sie ihn an. Nein, nicht mit den Augen, aber vielleicht mit der klaren Stirn, dem kühn geschwungenen, ein wenig blassen Mund. Als sähe dies blinde Kind mehr von ihm als seine sehende Petra.
Da erzählt sie: Mama kann sehen. Aber sie sagt, sie möchte lieber auch nicht sehen, sie weiß nie, wie Papa und mir zumute ist. Aber wir erlauben es ihr nicht.
Nein, stimmt Wolfgang zu. Das wollt ihr wohl nicht.
Fräulein und Liesbeth und Trudchen und Herr Hoffmann können uns auch erzählen, was sie sehen. Aber wenn Mama es erzählt, ist es doch anders.
Weil es eben die Mama ist, nicht wahr? fragt Wolfgang vorsichtig.
Ja, sagte das Kind. Papa und ich, wir sind beide Mamas Kinder. Papa auch.
Er schweigt, aber das Kind erwartet keine Antwort, diese Dinge, von denen es spricht, sind ihm wohl selbstverständlich, es ist auch nichts dazu zu sagen. Nun meint es: Hat Ihre Frau auch noch eine Mama – oder hat sie niemanden?
Wolfgang steht da, ein sehr dünnes Lächeln um seinen Mund. Nein, niemanden, sagt er entschlossen. Und denkt: ›Fort! Nur fort!‹ Knockout geschlagen in seiner Lieblosigkeit, in seiner Halbheit von einem Kind.
Papa gibt Ihnen bestimmt Geld, meint das Kind. Und Mama will heute nachmittag zu Ihrer Frau fahren. Wo ist es denn?
Georgenkirchstraße 17, sagt er. Zweiter Hof, sagt er. Bei Frau Thumann, sagt er.
Etwas wallt in ihm auf: wenn nur ihr geholfen wird! Ihr soll geholfen werden! Sie ist jeder Hilfe wert!
Entgleitende Welt, in der du triebest, Armer, verstrickt und verstrickend. Plötzlich, da du fühlst, wie sie sich von dir löst, merkst du, wie wert sie dir war. Ausgetrieben ins Dunkel, in der Ferne noch das klare Licht – und nun erlischt es. Du bist allein – und ob du zurückkehren kannst und wirst – du weißt es nicht! Wir hatten gute Stunden, aber sie sind in den Sand geronnen. Manchmal noch ein Geschmack auf der Lippe, flüchtig, süß – und vorbei! Und dahin! Arme Petra …! Bettler wahrhaftig, da jetzt die Wendung kommt, vielleicht Hilfe, da spürt er, daß Hilfe ihm nichts helfen kann, weil er hohl, ausgebrannt, leer ist. Vorbei! Vorbei!
Ich gehe jetzt, sagte er durch die Küche. Er gab dem Kind die Hand, nickte, fragte: Die Adresse weißt du? und ging. Ging hinein in die Schwüle, hinein in die enge, tobende, jagende Stadt, wieder einmal den Streit um Geld und Brot zu bestehen, für was, für wen –?
Er wußte es nicht, noch immer nicht, noch lange nicht.
6
Das, was die Leute ›das Schloß‹ in Neulohe nannten, war das Haus des alten Herrn. Der Rittmeister von Prackwitz wohnte gut fünfhundert Meter weiter, schon zwischen den Feldern, außerhalb des Gutshofes, in einer kleinen Villa. Sechs Zimmer, moderner Maurermeisterstil, ein schlampiger, schon abblätternder Bau aus der ersten Inflationszeit. Das Schloß, aus dem der alte Herr nicht hatte wegziehen mögen, schon, um in der Nähe seiner geliebten Fichten zu bleiben und – nebenbei – dem Schwiegersohn ein wenig auf die Finger zu sehen – das Schloß war auch nur gelber Kasten, aber mit dreimal soviel Zimmern wie bei den jungen Leuten, und immerhin mit einer richtigen Freitreppe, einem Gartenzimmer mit Türen aus Glas bis an die Erde, der ›Saal‹ genannt, und einem Park.
Am Schloß ging Negermeier vorüber. Dort hatte er nichts zu suchen und wollte er für dieses Mal auch nichts suchen – der erbosten Gnädigen wegen. Gleich kam, unbequem nahe, da zu sehr unter Aufsicht gelegen, das Beamtenhaus, in dem das Büro war und sein Zimmer (alles andere stand wegen der rittmeisterlichen Sparmethoden leer – aber der Rittmeister ist ein großer Mann). Da Meier sich beim gnädigen Fräulein wegen des Telefongesprächs mit dem Vater erkundigen wollte, ging er erst einmal auf sein Zimmer und wusch sich Hände und Gesicht. Dann goß er sich ein Parfüm ›Russisch Juchten‹ ausgiebig auf die Brust – es war unbedingt das richtige Parfüm fürs Land. Wie die Annonce gesagt hatte: ›herb, männlich, rassig‹.
Hinterher besah er sich im Spiegel. Die Zeit, da er seine Kleinheit, die Wulstlippen, die eingedrückte Nase, die vorstehenden Augen als Schmach empfunden hatte, war natürlich längst vorbei. Seine Erfolge bei den Weibern hatten ihn gelehrt, daß es auf Schönheit nicht ankam. Im Gegenteil, ein bißchen apartes Aussehen lockte die Mädchen wie die Salzlecke das Wild.
Freilich war es mit der Violet natürlich nicht so einfach wie mit irgendeiner Amanda Backs oder Sophie Kowalewski. Für sicher aber hielt es der kleine Meier – wieder einmal abweichend von seinem Arbeitgeber, dem Rittmeister –, daß die kleine Weio trotz ihrer fünfzehn Jahre schon ein Luder war. Diese Blicke, diese junge, eifrig markierte Brust, diese Redensarten, frech, und die Sekunde darauf blaueste Unschuld – das war für einen so erfahrenen Frauenjäger wie ihn nicht zu verkennen! Es war ja auch klar: schon aus dem Schlafzimmer der damals noch unverheirateten Mutter sollte der alte Herr von Teschow einen Liebhaber hinausgesetzt haben, mit der Peitsche, die nachher auch die Mama zu kosten bekam. Erzählten die Leute – na ja, die Welt war groß und möglich war in ihr alles. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Es wäre etwas übertrieben, den kleinen Feldinspektor Meier wegen seiner Gedanken vor dem Spiegel einen Intriganten und schurkischen Verführer zu nennen. Dies waren keine Pläne, es war jugendliches Gefasel, Eitelkeit – Wunschträume. Wie ein junger Hund hatte er ungeheuren Appetit, am liebsten hätte er alles benagt – und die Violet war wirklich sehr hübsch!
Aber genau wie bei einem jungen Hund war seine Angst mindestens ebenso groß wie sein Appetit – bloß keine Prügel bekommen! So frech wie zu der Amanda ohne Anhang würde er zu dieser Weio nie sein können, hinter der ein jähzorniger Vater stand. Wenn er in seinen Träumen alles bis zur Entführung und heimlichen Trauung bestens erledigt hatte – vor der Heimkehr zum Schwiegervater graulte ihm doch. Nicht einmal die Heimkehrunterhaltung mit ihm konnte er sich ausdenken, am besten erledigte das die junge Frau. Vor ihr brauchte man weder Angst noch Respekt zu haben: wer einmal mit einem geschlafen hat, ist nichts Besseres mehr als der, mit dem sie schlief, und selbst die adlige Abstammung – geheimnisvoll, doch Ehrfurcht heischend – war dann abgegangen wie die Politur von einem Fabrikmöbelstück – alles bloß gemeines Fichtenholz!
Negermeier grinst sich im Spiegel an. ›Dolle Marke bist du doch!‹ heißt das etwa, und wie zur Bestätigung seiner Eigenbewertung fällt ihm ein, daß der ›Leutnant‹ heute früh in einem ganz andern, viel kameradschaftlicheren Ton mit ihm gesprochen hat als mit dem ollen Schleicher, Förster Kniebusch.
Meier grüßt sich mit der Hand im Spiegel, er winkt sich freundlich zu: ›Glück auf den Weg, Sohn des Glücks!‹ Und marschiert ab zu Violet von Prackwitz.
Im Büro räumt Frau Hartig auf, Kutscherfrau, noch ganz gut imstande; möchte auch wohl, aber ab fünfundzwanzig sind die Frauen uralt. Die gute Hartig, etwa siebenundzwanzig, nicht weniger als acht Kinder, hat heute den Mund fest zusammengepreßt. Die Augen funkeln böse, die Stirn ist voller Falten, Meier schert das nicht, aber grade, als er an ihr vorbei will, fällt die gußeiserne Stehlampe mit drohendem Krach vom Schreibtisch, und der grüne Lampenschirm zerklirrt in hundert Scherben.
Da muß Meier doch stehenbleiben und seinen Senf dazugeben.
Na ja, sagt er grinsend. Scherben bringen Glück – gilt das nun Ihnen oder gilt das mir? Und als sie ihn nur stumm, aber böse funkelnd ansieht: Was ist denn mit Ihnen los? Gewitter? Schwül genug ist es dafür.
Und er schaut ganz automatisch auf das Barometer, das seit Mittag langsam, aber ständig fällt.
Mit mir lassen Sie Ihre Schweinereien! sagt die Hartig schrill und böse. Denken Sie, ich räume euch länger euern Dreck nach! Und sie fährt in die Schürzentasche, öffnet die Hand – drei Haarnadeln hat sie in ihr. (1923 hatte der Bubikopf noch nicht das flache Land erobert.) In Ihrem Bett haben die gelegen! kreischt sie fast. Saukerl, elender! Aber ich räume das nicht mehr auf, ich zeig’s der gnädigen Frau!
Welcher denn, Frau Hartig? lacht Meier. Die alte weiß es – und betet schon für mich; die junge aber denkt es sich auch so und lacht erst recht!
Er sieht sie überlegen, spöttisch an.
So ein gemeines Weibsbild! kreischt die Hartig. Kann doch nachsehen im Bett, ehe sie abhaut. Aber nee, ich soll ihr das nachräumen, ich der Geflügelmamsell! Keine Scham hat so ’n Biest!
Doch, doch, Frau Hartig, ganz bestimmt! sagt Negermeier ernst. Und wieder grinst er: Aber Ihr Jüngster hat ja so schöne rote Haare? Genau wie der Futtermeister. Soll der nun Kutscher werden wie der Vater oder Futtermeister wie der Stiefvater?
Und damit marschiert Meier ab, in sich hineinkichernd, herrlich zufrieden, während drinnen noch böse, aber doch halb schon besänftigt Frau Hartig auf die drei Haarnadeln in ihrer Hand starrt. ›Er ist ja ein Aas, aber mit einem Pfiff, so klein er ist!‹
Sie sieht die Haarnadeln noch einmal an, schüttelt sie, daß sie klappern, und steckt sie entschlossen in das eigene Haar.
›Dich krieg ich doch noch‹, denkt sie. ›Amanda regiert auch nicht ewig!‹
Sie räumt die Scherben des Lampenschirms fort, sehr vergnügt plötzlich, denn sie ist fest davon überzeugt, daß sie ihr Glück bringen werden.
Meier denkt auch an die Scherben und an das Glück, das sie ihm nun gleich sofort auf der Stelle bringen werden. In allerbester Stimmung langt er bei der Villa des Rittmeisters an. Erst späht er in den Garten – denn am liebsten träfe er Weio nicht in Hörweite der Mutter –, aber im Garten ist sie nicht. Das ist unschwer festzustellen, denn obwohl der Garten nicht ganz klein ist, kann man ihn doch auf einen Blick übersehen, diese vor ein paar Jahren aus dem blanken Feld gestampfte und halb schon wieder vertrocknete Gelegenheitsschöpfung der gnädigen Frau.
Nichts kann im übrigen Festigkeit der Stellung in Neulohe und Abstand zwischen Besitzer und Pächter besser versinnbildlichen als die Betrachtung des Teschowschen Schloßparks und des Prackwitzschen Gartens: dort hundertjährige große Bäume, in aller Fülle, strotzend von Blättern und Saft, hier ein paar Dutzend kahle Stangen, mit wenigen, schon vergilbten Blättern. Dort weite Rasenflächen, dunkelgrün; hier spärliches Gras, hart, gelb, im aussichtslosen Kampf mit den wieder vordringenden Feldstiefmütterchen, Quecken, Schachtelhalm. Dort ein nicht ganz kleiner Teich mit Ruderboot und Schwan; hier ein sogenanntes Planschbecken, wohl aus Solnhofer Platten, aber mit einer grünen Jauche gefüllt. Dort ererbtes Wachstum, aus der Zeit kommend für die Zeit; hier etwas kaum Geborenes, schon wieder Absterbendes doch: der Rittmeister ist ein großer Mann.
Feldinspektor Meier war schon im Begriff, auf den Klingelknopf zu drücken, da wird er von der Seite her angerufen. Auf dem flachen Dach des Küchenanbaus (bloß Teerpappe) stehen ein Liegestuhl und ein großer Gartenschirm, eine Leiter lehnt am Anbau. Von dort oben hat es gerufen: Herr Meier!
Meier gibt sich den notwendigen dienstlichen Ruck: Jawohl?
Ungnädige Stimme von oben: Was ist denn? Mama ist ganz kaputt von der Hitze, will schlafen – stören Sie sie bloß nicht!
Ich wollte nur fragen, gnädiges Fräulein … Der Herr von Teschow hat mir gesagt, der Herr Rittmeister hätte telefoniert … Ein wenig ärgerlich: Es ist wegen der Wagen … Soll ich heute abend zur Bahn schicken oder nicht?
Schreien Sie doch bloß nicht so! schreit die Stimme von oben. Ich bin doch keines von Ihren Hofgängermädchen! Mama will Ruhe, habe ich Ihnen gesagt!
Meier guckt verzweifelt empor zu dem flachen Dach. Aber es ist zu hoch, und er steht zu tief: er kann nichts von der im Traum Entführten und Geheirateten sehen, sondern nur ein Stück Liegestuhl und ein etwas größeres Stück Pilzschirm. Er entschließt sich zu flüstern – so laut er kann: Ob ich Wagen schicken soll – heute abend – zur Bahn –?
Pause. Stille. Warten.
Dann von oben: Haben Sie was gesagt? Ich versteh immer Bahnhof!
Hä-hä-hä! Meier belacht pflichtschuldig die gängigste Redensart der Zeit. Dann wiederholt er etwas lauter seine Anfrage.
Sie sollen doch nicht schreien! hat er sofort seinen Tadel weg.
Er steht da, er weiß natürlich ganz genau, daß sie ihn nur zwiebeln will. Er ist eben nur der Feldbeamte von Papa. Hat zu tun, was ihm gesagt wird. Hat zu stehen und zu warten, bis das gnädige Fräulein geruhen. Na, warte nur, meine Liebe, eines Tages wirst du stehen und warten müssen – aber auf mich!
Jetzt allerdings scheint er lange genug gewartet zu haben, denn sie ruft von oben (übrigens für eine so rücksichtsvolle Tochter erstaunlich laut): Herr Meier! Sie sagen ja gar nichts mehr?! Sind Sie überhaupt noch da –?!
Jawohl, gnädiges Fräulein.
Ich dachte schon, Sie wären in der Sonne zerflossen. Butter müssen Sie dafür genug auf dem Kopf haben.
(›Weiß natürlich auch schon Bescheid. Schadet aber gar nichts – macht ihr bloß Appetit.‹)
Herr Meier!
Jawohl, gnädiges Fräulein –?
Wenn Sie also lange genug unten gestanden haben, merken Sie vielleicht, daß eine Leiter da ist, und sagen mir hier oben, was Sie eigentlich wollen.
Noch einmal: Jawohl, gnädiges Fräulein! und die Leiter hinauf.
›Jawohl, gnädiges Fräulein‹ ist immer gut, schmeichelt ihr, kostet nichts, betont den Abstand und erlaubt alles. Man kann ihr in den Ausschnitt gucken und dabei voller Demut ›Jawohl, gnädiges Fräulein‹ sagen, man kann es sogar sagen und ihr dabei einen Kuß geben –›Jawohl, gnädiges Fräulein‹ ist ritterlich, kavaliermäßig, schneidig – wie die Offiziere in Ostade, denkt Negermeier.
Er steht jetzt am Fuß ihres Liegestuhls und sieht gehorsam und doch frech blinzelnd auf seine junge Herrin, die da mit nichts als einem sehr kurzen Badeanzug bekleidet vor ihm liegt. Violet von Prackwitz, fünfzehn Jahre, ist schon ein bißchen voll, zu voll mit der schweren Brust, den fleischigen Hüften, dem starken Gesäß, zieht man die Jahre in Betracht. Sie hat das weiche Fleisch, die zu weiße Haut der lymphatischen Mädchen, dazu ein wenig vorstehende Augen wie die Mutter. Sie sind blau, blaßblau, verschlafen blau. Die nackten Arme hat das gute, unschuldige Kind erhoben, sie reckt sich ein wenig, es sieht gar nicht schlecht aus, hübsch ist das Luder und – Donnerwetter! – was für ein Körper! Das muß sich einem doch in den Arm schmiegen.